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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

war gegen meine Berechnung, lieber wollte ich wieder über die Brustwehr den Felsen hinabklettern. Natürlich wurde ich daran verhindert und mußte mich in mein Geschick fügen. Eine Schildwache rief der andern die unerhörte Neuigkeit zu. Die Patrouille kam, zufälligerweise auch der Adjutant, und wir marschirten der Hauptwache zu; voran der Officier, dann ich entblößten Fußes und mit den Stiefeln auf dem Rücken, hinter mir die Wache.

„Ich war auf’s Aeußerste ermattet; der Hunger peinigte mich ganz entsetzlich; ich hatte nur den einen Wunsch, recht bald etwas zu essen. Der Officier, der vor mir herschritt und den ich seines Federhutes halber für den Festungscommandanten hielt, konnte vielleicht zur Befriedigung meines heißesten Wunsches beitragen; ich bat ihn deshalb um etwas Essen. Mein Versuch mißglückte aber, ich erhielt nicht einmal Antwort. Wir kamen zur Wache. Die Kunde meines Wagnisses hatte sich bereits verbreitet und neugierig schauten die Soldaten den kecken Schornsteinfeger an. Alles lief zusammen. Bald erschien der Commandant und nach vorläufigem Verhör wurde ich in die sogenannte Mohrenkammer abgeführt, ein Gefängniß, das besser ist, als der Name vermuthen läßt. Meine Bitte um Essen war doch nicht fruchtlos gewesen – ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß ich tüchtig zugelangt habe. Der Nachtisch wurde mir aber bitter verdorben. Meine Thür öffnete sich. Ein Officier trat herein, von einem Corporal und dem Schließer begleitet, ich wurde an Händen und Füßen gefesselt. Vergebens betheuerte ich meine Harmlosigkeit; ich weinte und bat. Es half Alles nichts. Die Thür schloß sich und ich war allein mit meiner Kette und meinen Gedanken. Was sollte das werden? Mir bangte vor der Zukunft. Ich erhob die Hand; die Kette klirrte. Beim genauen Besehen derselben fand ich, daß sich die Schelle mit leichter Mühe abstreifen ließ. Jetzt regte sich mein Stolz. Soll ich einmal Fesseln tragen, so mögen es auch solche sein, die mich drücken. Ich rief den Schließer, der bald eine andere Kette brachte.

„Am andern Morgen trieb mich die Langeweile zur abermaligen Untersuchung meines Fußgeschmeides. Das Schloß war ein sogenanntes deutsches; mit Hülfe eines krummgebogenen Nagels gelang es mir, dasselbe zu öffnen, und ich verkündete den draußen stehenden Soldaten, daß ich mich durch die schwarze Kunst fessellos gemacht habe. Eiligst kam der Wachtmeister mit der dritten Kette gelaufen.

„Inzwischen war das Kriegsgericht zusammengetreten und ich wurde vor dasselbe citirt. Auf Befehl des Auditeurs fielen meine Fesseln. Ein scharfes Examen begann. Ich war sehr ruhig und erzählte den Herren einfach das, was ich Ihnen bereits mitgetheilt habe. Im Anfange wollte man wohl meinen, es sei Gefahr vorhanden; man wollte nicht glauben, daß ich einer so geringen Sache halber das Leben gewagt; indeß stellte sich meine Ungefährlichkeit gar bald heraus. Fessellos wurde ich zurückgeführt. Man behandelte mich freundlich und heilte meine verwundeten Füße.

„Zehn Tage nach meiner Gefangennahme erschien in meiner Zelle eine Patrouille, aus einem Corporal und drei gemeinen Soldaten bestehend; draußen erwartete uns der Commandant, in seinem Gefolge der Adjutant, ein Maurermeister und der Wachtmeister. Ich mußte genau die Stelle meines Einsteigens angeben; dann stiegen wir den Felsen auf dem gewöhnlichen Fahrwege hinunter, und auch hier mußte ich den Felsenriß bezeichnen, in dem ich heraufgeklettert war. Zugleich erbot ich mich, die Reise, noch einmal vorzunehmen, wurde aber bedeutet, daß man an der ersten Probe schon genug habe. Ich wurde darauf in das Gefangniß zurückgebracht. – Andern Tags wurde ich abermals vor’s Kriegsgericht gestellt und mir meine Freiheit mit der Bemerkung verkündet, daß ich mich in meine Heimath zu verfügen habe. Die Untersuchungshaft, die nun bereits zwölf Tage gedauert hatte, sollte ich als Strafe für meine Verwegenheit ansehen. Mitleidige Seelen hatten Reisegeld für mich gesammelt. Der Wachtmeister führte mich zum Thore hinaus, gab mir meinen Paß und – ich war wieder ein freier Mann. – Eine lustige, einträgliche Fahrt war aber die Reise in meine Heimath; wo ich hinkam, da mußte ich mein Abenteuer erzählen und dann sammelte man für mich.

„Und nun zum Schluß muß ich Ihnen noch den Beweis geben, daß ich wirklich jener Schornsteinfeger bin.“ – Mit diesen Worten langte er aus seiner Brieftasche einen Paß hervor. Ich las:

„Der hier vom 19. bis heute wegen unbefugten Einsteigens in Arrest gewesene Johann Friedrich Sebastian Abratzky wird nach beendigter Untersuchung über Dresden und Wilsdruff in seine Heimath nach Mahlis gewiesen.

„Festung Königstein, den 31. März 1848.

Das königl. Kriegsgericht daselbst.“     

Ich schrieb mir das interessante Actenstück ab, gab dann den Paß zurück, der wieder sorgsam in der Brieftasche verwahrt wurde, und nahm Abschied von dem kühnen Kletterer.

„Glückliche Reise, lieber Herr,“ rief er mir zu, als das Dampfboot bei Pillnitz anlegte, und bald war er meinen Blicken entschwunden.

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Wanderungen im südlichen Rußland.
Von Dr. Wilhelm Hamm.
2. Die Steppe. – (Schluß.)

Wenn im Herbst die Winde schärfer über die Ebene zu pfeifen beginnen, dann fängt auf einmal da und dort die Steppe zu wandern an. In der That erscheint es dem Neuling, als löse sich die Rasendecke des Bodens freiwillig los, rolle sich zusammen und kugele nun in lustigen Sprüngen vor dem Winde her, schneller, als das schnellste Roß zu laufen vermag. Bald schreitet die räthselhafte Bewegung vor in langgestreckten, fast geradlinigen Kämmen, gleichsam in Ordnung gehalten von höherem Willen, bald bricht sie diese Linien und wirbelt im tollsten, ungeberdigsten Tanze umher, daß man glauben möchte, neckische Kobolde trieben da ihr Wesen. Manchmal stauen sich die rollenden Massen an irgend einem unsichtbaren Hinderniß, „auf des Vormanns Rumpf steigt der Hintermann,“ Gewicht hängt sich an Gewicht, Hügel erbauen sich, lustige Säulen und Thürme, wie von Spinnen gewebt, bis endlich das Ganze den Halt oder Schwerpunkt verliert, überkugelt und nunmehr, vom schadenfrohen Wind zerblasen, mit doppelter Eile wieder vor diesem dahinflieht. Die Russen nennen diese Erscheinung Perekatipole, d. i. Wandern des Feldes, und freuen sich ihrer, denn sie bringt ihnen willkommenen Brennstoff. Alle jene kugelnden Gebilde sind nämlich Stauden des Salzkrautes, deren Aeste beim Zusammendörren sich zu einem Ball zusammenwölben, und deren Stengel oberhalb der Wurzel abfault, worauf dann der Wind die merkwürdigen Pflanzenleichen schaarenweise über die Steppe jagt.

Oft scheint eine einzige Pflanzenart sich großer Regionen der Steppe vorzugsweise bemächtigt zu haben; so erblickt man häufig so weit das Auge reicht, völlig ebene dunkelgelbe Flächen, gebildet aus den breiten Dolden einer Gattung Wolfsmilch, welche kein Thier berührt. An besonders günstigen Stellen erheben sich wahre Gebüsche, Buriandickichte, gebildet von stacheligen Disteln und Kletten, die fast in Baumesstärke und Höhe emporwachsen, und ihre bewehrten Aeste malerisch ausbreiten, gleich riesenhaften Armleuchtern. Schlanke, blüthenvolle Königskerzen schießen dazwischen empor wie gelbe Lanzen; große Flockblumen, graue Wermuthbüsche und wuchernde Amaranten verschränken sich zu einem fast undurchdringlichen Urwald im Kleinen. Solch ein Versteck ist das Sommerlager der Wölfin, wohin sie sich behutsam flüchtet, um ihre Jungen zu bergen vor den vielen Feinden, an deren Spitze der Herr Gemahl und Vater steht; hier wohnt der unheimliche Scheltopusik, eine harm- und fußlose Eidechse, deren Größe und Schlangengestalt den Wanderer, der sie im Sonnengenuß aufstört, oft jählings erschreckt, so daß er mit entsetztem Sprunge zurückfährt, denn er hat erzählen hören von fabelhaften Giftschlangen der Wüste; aber mehr noch erschrickt das Thier und wie ein Blitz ist es im Dickicht verschwunden. So leer und öde die Steppe auch dem Hinblick darüber erscheint – wie eine leere Bettlerhand, sagt der Dichter – ein so mannichfaltiges, wimmelndes Leben birgt sie doch in ihrem Schooße. Lange Heerzüge von Ameisen durchkreuzen nach allen Richtungen hin den Halmenwald, prächtige Schmetterlinge, zahllose Fliegen und Bienen tanzen und summen über den Blumen, während große Spinnen arglistige Brücken bauen von Stengeln zu Stengeln, so daß oft eine ganze Strecke mit ihrem Gewebe übersponnen ist. Heuschrecken und Grillen zahlreicher Arten hüpfen und fliegen durch

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