Seite:Die Gartenlaube (1859) 191.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Müßiggänger, erlaubt sich anzügliche Bemerkungen gegen die fleißigen Steinsetzer und erhält sie in reichlichen Maße zurück. Anfangs bewegt sich die Unterhaltung noch im Style einer lebhaften Conversation; da verabreicht der Pflastertreter dem officiellen Pflastersetzer einen Backenstreich und der Krieg ist ausgebrochen. Die Werkzeuge werden fortgeworfen, der Händelsucher drückt kampfesmuthig die Mütze in den Nacken und ballt beide Fäuste gegen die wild heranstürmende Uebermacht. Er sieht eine Prügeltracht mit Bestimmtheit voraus, allein er bedarf ihrer täglich, zur Belebung seines Nervensystemes. Sie ist ihm das, was dem blasirten Elegant Abends eine Balletvorstellung, ein kleines Hazardspiel, ein Tanz mit emancipirten Frauenzimmern. Der Wasserfreund braucht eine kalte Uebergießung, der Rheumatiker eine Anzahl elektrischer Schläge; unser Raufbold läßt sich minder wissenschaftlich abfinden. Ihm genügt eine allgemeine körperliche Erschütterung, eine kräftige trockene Abwalkung des Leders.

Vom Kreuzwege aus ist glücklicher Weise sein Beginnen schon bemerkt und beobachtet worden. Der Schutzmann kennt das unverträgliche Temperament des Zänkers, und schreitet mit festem Fuße auf ihn zu. Jetzt spiegelt sich in seinen Gesichtszügen nicht das zärtliche Wohlwollen eines besorgten Kinderfreundes ab; aus seinem Auge funkelt der zornige Blitz des beleidigten Gesetzes. Auch das ihn begleitende Gefolge ist aufgelegt; man erwartet ein Ereigniß, etwas wie eine rettende That. Schon hat er die Gruppe der tragischen Helden erreicht, die defensive Partei leidlich sanft bei den Armen fortgeschoben, aber den Schuldigen packt er hart und unerbittlich, gleich dem classischen Schicksal, und zwar hinten beim Rockkragen. Der Griff ist kühn und Widerstand unmöglich. Die angewandte Kraft hat einige Aehnlichkeit mit der eines Schraubendampfschiffes, und der Unheilstifter sieht sich mit der Geschwindigkeit von zwei Meilen die Stunde auf die Polizei gewirbelt. Die Scene hinterläßt einen ernsten, nachhaltigen Eindruck. Männer, denen es nicht an Zeit gebricht, versammeln sich auf der Straße zu einem wissenschaftlichen Congreß, man bespricht die Maulschelle, wie sie gegeben worden und wie sie besser hätte gegeben werden können, man betrachtet nachdenklich die Stelle, wo der Hauptangriff stattgefunden, man erörtert die Möglichkeit der Flucht, und stellt endlich die Hypothese auf, der Angreifende werde wahrscheinlich vierundzwanzig Stunden sitzen müssen, falls nicht noch anderweitige Posten gegen ihn zur obrigkeitlichen Verrechnung kämen. So vergeht eine Stunde und der Schutzmann stellt sich wieder am Kreuzwege ein.

Man hat ihn abgelöst und der neu Ankommende ist ein ganz anderes Individuum, allein das Volk kümmert sich nicht darum; ihm gilt nur der hochwichtige Charakter des Amtes, nicht der des damit betrauten Menschen. Es gibt sogar naive Gemüther, die ihn auf seinem Posten in Permanenz glauben. Behorchen wir ein wenig Fräulein Mathilde, die jüngste Tochter eines übermüthigen Rentiers, die sich, ziemlich weit von ihrer Wohnung, an unserem Kreuzwege ein Rendezvous mit einem jungen Architekten gibt.

„Lieber Heinrich,“ flüstert die schüchterne Blüthe, „ich zittere davor, daß dieser Mann uns erkannt hat. Wir können hier vorübergehen, wann wir wollen, so steht er an der Ecke, und sieht mich mit so durchbohrenden Blicken an. Gott, wenn Papa unser Verhältniß durch ihn erführe: ich stürbe des blassen Todes!“

Zum Trost aller liebenden Herzen können wir mittheilen, daß es Heinrich gelingt, die besorgte Mathilde zu beruhigen und sie zu überreden, daß der Polizei zwar viel bewußt sei, daß sie aber zum Glück nicht Alles wisse.

In den Nachmittagsstunden tritt ein Zustand von verhältnißmäßiger Ruhe ein. Dem Schutzmann wird Muße zu leichtem Geplauder gegeben. Der beleibte Hauswirth an der Ecke öffnet das Fenster, bietet ihm eine Prise Carotten und erkundigt sich nach dem Befinden des unbekannten Herrn, der vor vier Wochen aus dem benachbarten Schlächterladen eine prächtige Hammelkeule entfremdet hatte, aber durch die Achtsamkeit des Schutzmannes dabei erwischt worden war. Dieser bedauert, daß er keine Auskunft geben könne, spricht aber die Vermuthung aus, daß der Herr sicherlich noch sitzen und keine Hammelkeule, wohl aber die unter dem Namen Kaldaunen begriffenen inneren Theile desselben Thieres in den verschwiegenen Gemächern der Stadtvogtei speisen werde. Dem dicken Hauswirth will das offenbar einleuchten, und der Schutzmann ertheilt in der Zwischenzeit einem Droschkenkutscher auf der Station des Kreuzweges einen kleinen Verweis, weil er sich einer Fahrt unter dem Vorwande, er habe noch nicht umgespannt, hatte entziehen wollen, droht zornig einem Dienstmädchen, die das Tischtuch am offenen Fenster auf die Straße ausschüttelt, und gibt zwei kleinen Jungen väterliche Ermahnungen, da sie zum bleibenden Nachtheile ihrer Stiefeln mitten im Rinnsteine spazieren gehen. So rückt die vierte Nachmittagsstunde, um welche die Jugend aus den Stadtschulen entlassen wird, allmählich heran. Während mehrere Dienstmädchen mit großen Töpfen voll blauangelaufener Milch zum Vesperbrod vorübergehen und mit dem Schutzmann schäkern, schlägt es auf dem nahen Kirchthurme vier Uhr. Einige Minuten später erschallt von dem großen düstern Gebäude aus der Mitte der Straße her ein Geschrei, als ob der bethlehemitische Kindermord zum zweiten und verbesserten Male aufgelegt werden solle, ein Geschrei, daß Jeder nach dem schwarzen eisernen Windfahnenmann auf dem hohen Schornstein der Fabrik sieht, ob er nicht vor Schreck in Ohnmacht fällt; alles Volk erschrickt, nur nicht der Schutzmann. Er weiß, daß die Stadtschule geschlossen ist, und daß Berlins „wilde verwegene Jagd“ nach Hause stürmt. Er erträgt den haarsträubenden Scandal, wie der Weise die unabwendbaren Uebel des menschlichen Daseins, z. B. den Katzenjammer. Der erfahrene Beamte hat aber seine Ausdauer überschätzt; es gibt Verknüpfungen irdischer Begebenheiten, denen nur die seltenste Heldengröße gewachsen ist.

Das Unheil entwickelt sich aus einem benachbarten Keller, dessen Inhaber alkoholhaltige Getränke zwar nur im Detail, aber leider an Leute, die sie en Gros trinken, feilbietet und verkauft. Schon in den Mittagstunden war bei ihm einer jener kühnen Forscher, die ihr Leben auf Entdeckungsreisen nach Schnapsläden zubringen, vor Anker gegangen, und hatte Untersuchungen mit dem Senkblei seiner Gurgel angestellt. So sehr diese ihn auch wissenschaftlich befriedigt haben mögen, fand wunderbarer Weise doch der Wirth des Locals keinen Grund – ihn länger da zu behalten. Ob er nicht bezahlt, oder eine andere Unbill begangen, ist gleichgültig, es steht nur fest, daß er genau sieben Minuten nach vier Uhr aus dem Keller hinaus und in die Straße hinaufgeworfen, seine Weste aber als Pfand zurückbehalten wurde, was den galanten Wirth andererseits nicht verhinderte, ihm seinen alten Hut mitten auf die Straße nachzuschleudern. Wer wagte zu leugnen, daß das Zusammentreffen dieses Verbannten mit der Stadtschuljugend ein verhängnißvolles genannt werden muß? Nicht nur der Schutzmann, sondern auch der berauschte Kellermann, jeder in seiner besonderen Stellung zu der Oeffentlichkeit, blicken gespannt auf die kommenden Ereignisse. Letzterer lehnt sich vorsorglich mit dem Rücken gegen die Mauer des nächsten Hauses, und gedenkt die muthwillige junge Mannschaft vorübertoben zu lassen. Doch ach, er verräth unbedachtsam diese seine Hoffnung durch ein ziemlich lautes Selbstgespräch, und ein aufmerksamer Knabe bleibt stehen, um dem philosophischen Gedankengange des Monologs zu folgen. Der Kellermann fühlt sich durch den kleinen Zuhörer beleidigt und lallt ihm ein Schimpfwort entgegen. Kaum ist es aber den bebenden Lippen entflohen, so stößt der aufmerksame Knabe mit gellender Stimme das Kriegsgeschrei: „Pietsch! Pietsch!“ aus, womit der kleine Berliner einen durch beharrlichen Trunk um den Gebrauch seiner Urtheilskraft gekommenen und den Angriffen der lieblichen Kindheit nicht mehr gewachsenen Mann im reiferen Lebensalter versteht. Der Kellermann hat nicht sobald diesen schrecklichen Ruf vernommen, als er sich der ganzen Gefahr bewußt wird, denn er ist in der That der erste berühmteste Pietsch des Stadtviertels. Er versucht davonzukommen und taumelt langsam das Trottoir entlang. Doch schon stürzen zehn, zwanzig, dreißig, vierzig Knaben auf ihn los, und unter einem furchtbaren Heulen und Pfeifen der Hoffnung Preußens muß der Bejammernswerthe schnell wieder eine feste Stellung einzunehmen suchen.

Jetzt schreitet der Schutzmann ein. Zunächst schreckt er durch Drohungen die Jungen zurück und diese, von düstern Schauern vor der Polizei erfüllt, flüchten zwanzig Schritte weit und ordnen sich am Gestade des Rinnsteines im Sinne des antiken Chores, bereit, die Handlung mit lyrischen Lauten zu begleiten oder auch rächend daran Theil zu nehmen, im schlimmsten Falle aber auszureißen. Der Schutzmann ermahnt den Trunkenbold, nach Hause zu gehen; dieser betheuert, daß er sich schon zu Hause befinde, und legt sich, in der Meinung, sein Bett vor sich zu haben, der Länge nach auf das Pflaster nieder. Jubelgeschrei der Jugend, neue Beschwörungen des Schutzmannes, dann einige gewaltsame, aber vergebliche Versuche, den Unglücklichen auf die Beine zu bringen; ein kecker Bube wirft nach ihm mit einer Mohrrübe und ein alter Herr, der in der Nähe wohnt und an einer Geschichte der Lacedämonier arbeitet, steckt

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_191.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2023)