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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)


„Sie wohnen wohl hier in der Nachbarschaft?“

„Nein.“

Sie sprach das Nein kürzer, augenscheinlich zurückhaltender, als die früheren Antworten.

Die Neugierde des Secretairs ließ sich dadurch nicht zurückhalten; sie war im Gegenteile herausgefordert.

„Ah, ah, darf ich fragen, woher sie denn kommen?“ Sie nannte ohne Zögern eine etwa zehn Meilen entfernte Provinzialstadt.“

„Und dort wohnen Sie?“

„Ja.“

„Bei Ihren Eltern?“

„Nein.“

„Ah, Ihre Eltern wohnen wohl in Tiefendorf, und Sie wollen Sie besuchen?“

„Nein.“

„Hm, hm, werden Sie lange in Tiefendorf bleiben?“

„Ich weiß es nicht.“

Die Antwort wurde geradehin zurückweisend gegeben. Und der arme Secretair hatte noch so viele Fragen auf dem Herzen. Er schwieg einen Augenblick verlegen. Lange schweigen konnte er nicht. Und wissen mußte er Alles, was er wissen wollte, wenn nicht auf geradem Wege, doch auf Umwegen.

„Kennen Sie den Friedensrichter Lohmann in Tiefendorf?“ fragte er.

Es war schon ziemlich dunkel geworden, auch im Wagen. Ich glaubte, dennoch zu bemerken, wie das Mädchen bei der plötzlichen Frage sich verfärbte.

„Gewiß,“ antwortete sie.

Sie suchte das Wort leicht, gleichgültig auszusprechen. Es gelang ihr schlecht. Auch der Secretair gewahrte ihre Verwirrung.

„Ah, ah,“ rief er, sich vergnügt die Hände reibend. Innerlich hörte ich ihn rufen: „Ah, da bin ich sehr neugierig!“ Er war es in hohem Grade.

„Sie wollen wohl zu dem Herrn Lohmann?“ fragte er rasch.

Das Mädchen wurde noch verwirrter. Sie suchte sich augenscheinlich zusammenzunehmen. Diesmal gelang es ihr, wenigstens für den Augenblick.

„Nein, mein Herr, zu ihm nicht,“ antwortete sie kurz und kalt, und nur das Wörtchen „ihm“ betonend.

Der Secretair sah, daß er noch einen anderen Weg einschlagen müsse, wenn er zu seinem Ziel kommen wolle. Er wurde zutraulich. Es lag ja auch in seiner geschwätzigen Natur.

„Sie hätten sonst mit uns bis an das Haus fahren können, liebe Mamsell,“ sagte er.

Auf einmal wurde sie wieder unruhig. Sie warf unwillkürlich einen forschenden Seitenblick auf mich und den Secretair. Das lauernde Auge des Secretairs hatte ihn gesehen.

„Wir haben Geschäfte in dem Hause,“ fuhr er fort, etwas geheimnißvoll.

Sie sah ihn voller an. Es war, als wenn sie eine Frage an ihn hätte. Man bemerkte zum ersten Mal Unentschlossenheit an ihr. Aber sie wandte sich von ihm ab. Daß sie an ihn keine Frage richten wolle, stand bei ihr fest. Ein zweifelhafter Blick suchte mich. Es schien mir zugleich ein besorgter, fast ängstlicher Blick zu sein. Ich hatte Mitleiden mit ihrer Angst. Es war kein Zweifel, daß sie zu dem Lohmann’schen Hause in irgend einer Beziehung stand.

„Der alte Herr Lohmann,“ sagte ich zu ihr, „will sein Testament machen, und wir sind zu diesem Zwecke auf dem Weg zu ihm.“ Sie erschrak.

„Es steht schlimm mit ihm?“ rief sie rasch.

„Ich weiß es nicht, aber ich fürchte es, weil dringend um Eile gebeten wurde.

„Mein Gott!“ sagte sie leise für sich.

Sie war in einer großen Unruhe. Unruhiger als sie war der Secretair. Aber in ihrer Unruhe zeigte sich zugleich Angst, Schmerz und zur Ehre des neugierigen Secretairs muß es gesagt werden, er ehrte den Schmerz.

Um seine brennende Neugierde zu bewältigen, blickte er zum Wagen hinaus. Ich leugne nicht, auch ich war neugierig geworden. Wer war die Fremde? Was wollte sie in Tiefendorf? Ihr stolzes, rasches, entschlossenes Wesen zeigte zugleich eine Sicherheit und sogar Anmuth der Bewegungen, die zu der Kleidung einer Kammerjunger oder Näherin wenig zu passen schienen. Eben so ihre reine, gebildete Aussprache in den allerdings nur wenigen und kurzen Worten, die sie gesprochen hatte. Ferner: in welcher Beziehung stand sie zu der Familie Lohmann? Sie wolle nur nicht gerade zu dem alten Lohmann selbst, hatte ihre Antwort auf die Frage des Secretairs ausgedrückt. Dann ihr auffallendes Erschrecken bei der Nachricht von der schleunigen Aufnahme des Testaments, und ihre noch auffallendere Unruhe seither.

Der Secretair störte mich auf einmal in meinen Gedanken. Er fuhr mit dem Kopf aus dem Wege, in den er hineingeblickt hatte, rasch in den Wagen zurück.

„Herr Assessor, da geht er.“

„Wer?“ fragte ich.

„Ich hatte Ihnen doch von dem Pater Theodorus erzählen wollen.“

„Der geht dort?“

„Er geht vor dem Wagen; wir müssen ihn bald einholen.“

Der Name Pater Theodorus hatte der Fremden neues Erschrecken verursacht. Sie war beinahe von Ihrem Sitze emporgefahren. Auch der Secretair bemerkte es.

„Ah, Mamsell, Sie kennen den Pater Theodorus auch?“

„Ja,“ antwortete sie kurz.

Sie hatte sich wieder gefaßt. Stand sie auch zu dem Pater in einer besonderen Beziehung?

Der Secretair fuhr geschwätzig fort: „So werden Sie mir bestätigen können, was ich dem Herrn Assessor über den Mann erzählen wollte. – In früheren Zeiten war ein großes, reiches Kloster in Tiefendorf; es war ein Benedictinerkloster, nicht wahr. Mamsell?“

„Ja, mein Herr.“

„Dem Kloster gehörte auch das ganze Dorf. In der französischen Zeit wurde das Kloster aufgehoben. Die Mönche zerstreuten sich in alle Welt, nur der Pater Theodorus blieb.“

„Er verwaltete gerade damals die Pfarre im Dorfe,“ fiel die Fremde ein, die sich für die Mittheilungen über den Pater Theodorus zu interessiren schien.

„Ja, ja, so war es, und die Regierung ließ ihn auf der Pfarre, und er ist noch da und, seitdem die andern Klosterherren fort sind, beherrscht er allein die Gemeinde.“

Die Fremde gerieth auch in Eifer für den Pater. „Mein Herr,“ sagte sie lebhaft, „er ist der Vater der Gemeinde, und alle hängen mit Liebe und Vertrauen an ihm.“

„Ja, ja, Herr Assessor, und darum, wie ich Ihnen schon vorhin erzählen wollte, hat das Gericht auch so wenig zu thun in Tiefendorf; der Pater Theodorus weiß alle Händel und Streitigkeiten zwischen den Leuten dort zu schlichten und beizulegen, so daß selbst die Sportelcasse darunter leidet, und wenn nicht hin und wieder ein Testament aufzunehmen wäre, die armen Gerichtsbeamten verdienten an Tiefendorf gar nichts.“

„Dafür segnet ihn Tiefendorf,“ sagte die Fremde.

Der Secretair sagte diesmal nicht sein „ja, ja,“ aber: „hm, hm,“ schüttelte er den Kopf, wie um zu zeigen, daß er den Pater nicht segne, der ihn an den Bauern in Tiefendorf nichts verdienen ließ. Doch fuhr er in seiner Gutmüthigkeit fort:

„Uebrigens soll der Pater Theodorus ein sehr unterrichteter und selbst gelehrter Mann sein, und er ist es, dem der Sohn des alten Lohmann, wie ich Ihnen schon vorhin erzählte, Herr Assessor, es zu verdanken hat, daß er nicht roh und wild, wie ein Stück Holz im Walde, aufgewachsen ist.

Das Mädchen schien, als der Sohn des alten Lohmann genannt wurde, wieder aufmerksam geworden zu sein. Ich hatte indeß nicht Zeit, genauer darauf zu achten.

„Ah, ah,“ sagte der Secretair leise zu mir, „da haben wir gerade den Pater eingeholt. Es ist noch Platz im Wagen. Wollten der Herr Assessor ihn nicht einladen? Wir könnten von ihm manches erfahren, über die Fanmilie Lohmann, auch über das Mädchen hier, die ihn zu kennen scheint, und die also auch er kennen muß.“ Laut setzte er hinzu: „Der brave alte Herr scheint müde zu sein, und wir müssen noch eine halbe Stunde bis zum Dorfe haben.“

„Kennen Sie den Pater?“ fragte ich den Secretair.

„Gewiß, gewiß.“

„So laden Sie ihn ein. Ich werde mich freuen, wenn er uns seine Gesellschaft schenken will.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_196.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)