Seite:Die Gartenlaube (1859) 207.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Erdboden, nicht achtend auf das Spielwerk, das ihn umgab, sondern dicht vor den Augen hielt er die kleinen schwachen Händchen erhoben, und erfreute sich sichtlich an den Bewegungen der ausgespreizten Fingerchen. Auf meine Frage an die Eltern, ob der Knabe oft so, wie eben jetzt, mit seinen Händchen spiele, ward mir der traurige Bescheid, daß dies fast die einzige Beschäftigung desselben sei. – Da nun das gleichmäßige Hin- und Herbewegen der Händchen vor den Augen bei einem gesunden, natürlich sich entwickelnden Kinde ungefähr im dritten Lebensmonate wahrgenommen wird, so mußten sich die Geisteskräfte bei diesem 2½ jährigen Kinde noch auf einem Standpunkte bewegen, auf welchem ein gesundes Kind schon im ersten Vierteljahre seines Lebens steht. Es beweist dies, daß das betreffende Kind, wenn es auch körperlich vorgeschritten, doch in seiner geistigen Entwicklung mindestens um zwei Jahr zurückgeblieben war.

Zuletzt wurde mir auch das dritte und jüngste Kind der Familie, ein Knabe von drei Monaten gezeigt. Das Kind war für sein Alter groß und stark, auch waren seine Bewegungen natürlich und kräftig.

„So wie Sie das Kind hier erblicken,“ sagte der bekümmerte Vater, „war unser Lieschen in demselben Alter auch, und es bleibt mir ein ungelöstes Räthsel, wie so plötzlich das Unglück gekommen sei.“

„Ob es wohl in Wirklichkeit so plötzlich gekommen?“ fragte ich damals schon mich selbst, und mußte mir diese Frage mit Nein beantworten. Erschien doch auch heute dem Vater sein jüngstes Kind als gesund, während mir das Auge desselben etwas ganz Anderes sagte. – Die Augen des Kleinen waren groß und schön zu nennen, aber sie hatten einen eigenthümlichen Ausdruck, den ich nicht das erste Mal sah, und der mir, so oft ich ihn beobachtete, immer der Verräther einer sich entwickelnden Gehirnschwäche war. – Wenn solche Kinder einen Gegenstand mit ihren Augen erfassen wollen, blicken sie (ich vermag es nicht anders zu beschreiben), gewissermaßen erst in den zwischen dem Gegenstande und ihrem Auge liegenden leeren Raum, wobei sie den Kopf in nickender Bewegung, als wollten sie ihn dem Gegenstande näher bringen, nach vorn neigen. So erreichen sie mühevoll nach und nach erst, was ein gesundes Kind mit Blitzesschnelle erfaßt. Und eben so langsam und fast eben so schwerfällig sehen wir den Blick eines solchen Kindes von dem Erfaßten zurückkehren.

Wenn uns, wie bei diesen drei Kindern, Erscheinungen einer mangelhaften Sinnes- und Geistesentwickelung an einem Kinde vorkommen, so muß der naturgemäße Entwickelungsgang, wie er an jedem gesunden und richtig geleiteten Kinde beobachtet wird, für uns den Maßstab zur Beurtheilung und Anleitung zur Behandlung jener abnormen Erscheinungen abgeben. Ich fragte mich deshalb beim Beginne der Behandlung der erwähnten Kinder: wie zeigt sich das Sinnesleben zuerst bei dem 4½jährigen Kinde im Vergleich zu seinem Alter?

Der Geschmacksinn war vorherrschend, ja, er zeigte sich entartet, insofern, als das Kind unnatürlich viel zu essen vermochte und bei dem Essen selbst eine thierische Hast an den Tag legte. Der Gefühlssinn war, wie aus den angeführten Beispielen der Unempfindlichkeit beim Fallen und Stoßen ersichtlich, kaum mangelhaft entwickelt. – Der Gesichtssinn, obwohl in der natürlichen Folge der Entwickelung der nächste, zeigte sich doch viel weniger thätig, als der Gehörsinn. Diese Erscheinungen zusammengenommen, stellte sich die Gesammtsumme der Sinnesthätigkeit bei diesem Mädchen nicht größer dar, als die, welche an einem sechs Wochen allen Kinde beobachtet wird. Der Entwickelungsgang eines gesunden Kindes, als Richtschnur für die Behandlung des vorliegenden Falles genommen, gab mir nun Folgendes an die Hand. Zunächst mußte das Gefühl des Kindes besser erregt werden. Diese Absicht erreichte ich durch tägliche kalte Abreibungen, die ich gleich des Morgens nach dem Erwachen vornehmen ließ. – Ferner mußte der Geschmackssinn und der mit ihm zusammenhängende Nahrungstrieb auf sein natürliches Maß zurückgeführt, d. h. beschränkt werden. Hier ging ich zunächst vom Entwöhnen aus, indem ich zuerst die Umgebung des Kindes anwies, diesem nur die Nahrungsmittel sehen zu lassen, die zur Befriedigung seiner Bedürfnisse wirklich bestimmt waren; dann aber wurde auch die Nahrung des Kindes selbst so viel als möglich vereinfacht, um durch Mannichfaltigkeit den Geschmackssinn nicht zu reizen. Anlangend die Pflege der höheren Sinne, des Gesichts und Gehörs, so war hier für mich die Erscheinung an gesunden Kindern maßgebend, daß, sobald mit nur einigem Bewußtsein Eindrücke auf Augen und Ohr wahrgenommen werden, diese Sinne, in ihrer Thätigkeit sich gegenseitig unterstützen, verbinden und ergänzen. Das Kind wird da mit den Augen dem Orte sich zuwenden, von woher ein Eindruck auf das Ohr geschah, so, wenn eine Thüre mit Geräusch sich öffnet oder schließt, wenn ein Gegenstand zu Boden fällt etc. Ich mußte daher zu Schärfung der Aufmerksamkeit des Gesichtssinnes ein Mittel suchen, durch welches auch das schon empfängliche Gehör angesprochen wurde. Das Kind hatte Wohlgefallen an Musik gezeigt. Hier knüpfte ich an, indem ich eine Spieldose vor den Augen des Kindes aufzog und sie ihm dann ans Ohr hielt. Die Wirkung blieb nicht aus. Fest hielt es das Ohr an’s Kästchen gedrückt, als aber das Stück zu Ende war und die Spieldose schwieg, sprang es in gewohnter Hast durch’s Zimmer. Ein öfteres Wiederholen dieses Spieles hatte in kurzer Zeit zur Folge, daß des Kindes Interesse für dieses Spiel wuchs und nun auch das Auge dem Ohre folgte. Das Kind betrachtete nicht nur mit Aufmerksamkeit die Dose, es suchte auch darnach, wenn ich dieselbe irgend wo versteckt spielen ließ, und kam endlich ganz von selbst zu der überraschenden Schlußfolgerung, daß der Schlüssel, mit dem ich das Spielwerk aufzog, und die Dose selbst zusammen gehörten; als ich im Gespräche mit den Eltern war, brachte mir die Kleine Dose und Schlüssel, nahm meine Hand und gab mir in ausdrucksvoller Gebehrde ihren Wunsch zu erkennen, daß ich ihr die Dose aufziehen möchte.

Hatte nun unsere Kleine auch einen recht glücklichen Anfang gemacht, auf die eben beschriebene Entwickelungsstufe sich zu erheben, so waren die Lebensäußerungen der höheren Sinne doch noch nicht beständig genug, und es bedurfte lang fortgesetzter und mannichfaltiger Anregung, um das einmal Erreichte zu befestigen. Die Mittel, welche hier einzeln in Anwendung kamen, waren immer nur dieselben, welche bei natürlicher Entwickelung von liebenden Müttern und Pflegerinnen spielweise in Anwendung gebracht werden und hier anzuführen kaum nöthig sind.

Zwischen dem vierten und fünften Lebensmonate ist das gesunde Kind in seiner Entwickelung zum Selbstbewußtsein in der Regel bereits so weit vorgeschritten, daß es sich selbst als Einzelwesen erkennt und auf seinen Namen hört. – Lieschen stand dieser Entwickelungsstufe noch fern, d. h. sie hörte noch nicht auf ihren Namen. Viele Versuche, dieses Verständniß in ihr zu erwecken, waren bereits gescheitert, bis endlich ein weiterer Versuch das gewünschte Ziel mich richtig erreichen ließ. Eines Morgens reichte ich dem Kinde als Frühstück ein Stück Brod mit Salz und wanderte dann mit ihr in Begleitung des Vaters einem einsamen Wäldchen zu. An dem erwählten Orte angelangt, forderte ich den Vater des Kindes auf, sich ein Versteck zu suchen, von wo er mich und das Kind zwar sehen, doch von Letzterem nicht wahrgenommen werden könnte. Ich selbst wählte mir, dem Kinde näher, als der Vater, ein gleiches Versteck. Der weite Weg hatte die Kleine sichtlich ermüdet und bald legte sie sich, die Einsamkeit nicht achtend, an den Boden nieder und entschlummerte schnell. Eine Stunde wohl mochte sie so gelegen haben, als sie erwachte und mit sichtlicher Verwunderung über die fremde Umgebung sich umblickte. – Bald wurde sie unruhig und der Durst, eine Folge des genossenen Salzbrodes, mochte sich wohl geltend machen. Immer unruhiger und bewegter ward ihr Wesen, fragend und suchend der Ausdruck ihrer Augen. Ihre im Hause immer unstäten, zwecklosen Bewegungen wurden hier natürlicher, je peinlicher sie ihre Lage, namentlich den Durst, fühlen mochte. Suchend streiften ihre Augen von Ort zu Ort mit einem Ausdrucke, der volles Bewußtsein ihres Bedürfnisses zeigte. Als so die Unruhe und das Gefühl der Hilflosigkeit den beabsichtigten Höhepunkt erreicht hatte, ließ ich von meinem Versteck aus die heitere Melodie eines Liedes erklingen, das in des Kindes Seele lebte und das sie oft zu Hause mit heller Stimme gesungen hatte. Die bekannten Klänge brachten einen mächtigen Eindruck auf das Gemüth der Kleinen hervor. Ihre unruhigen Bewegungen hörten auf, still lauschte sie dem Liede und leise hörte ich sie in meinen Gesang mit einstimmen. – Als aber das Lied verklungen war und ihr Auge vergeblich nach einem Menschen umherblickte, setzte sie sich plötzlich nieder und war in der Art und Weise, wie sich jetzt ihr Schmerz zeigte, wie umgewandelt. Ganz in der Art, wie ein noch sprachunfähiges Kind seine Seelenstimmungen durch unarticulirte Laute zu erkennen gibt, so grollte und zankte das kleine ohnmächtige Geschöpf. Jetzt, auf einen von mir gegebenen Wink trat der Vater in des Kindes Nähe und rief ihr wiederholt mit freundlichen Worten die Frage zu: „Wo ist mein gutes Lieschen?“ Das Kind lauschte aufmerksam auf den Ruf, erhob sich dann und suchte jetzt mit ruhigem, bewußtem

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_207.jpg&oldid=- (Version vom 4.4.2023)