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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Im Herbste des Jahres 1813,“ antwortete der Pater.

„Wir werden an der Stelle vorbeikommen?“

„Nach einiger Zeit, mehr in der Nähe des Dorfes.“

„Es war zwischen Franzosen und Kosaken?“

„Ja. Ein Haufe Franzosen hatte sich auf dem Rückzuge nach der Schlacht bei Leipzig verspätet. Die großen Straßen rund umher waren schon von russischen und deutschen Truppen besetzt. Jene suchten durch die Schluchten des Gebirges hier zu entkommen. Ein überlegener Trupp Kosaken hatte sie aufgespürt und überfiel sie hier. Ich glaube, es sind von den unglücklichen Verfolgten nur wenige mit dem Leben entkommen.“

Der Secretair hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. „Erzählt man nicht,“ fragte er, und er fragte mit einer gewissen lauernden Spannung, „erzählt man nicht noch von besonderen Geschichten, die bei jener Gelegenheit oder zu jener Zeit vorgefallen sein sollen?“

„Ich wüßte nicht,“ erwiderte der Pater.

Er suchte seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben.

Ich war dennoch aufmerksamer geworden. Hatte der Secretair mir vorhin doch noch nicht Alles gesagt, was er wußte oder wohl auch nur combinirte? Wollte er hier Näheres erfahren? Wußte der Pater das Nähere? Es schien beinahe so. Aber gewiß schien es mir auch zu sein, daß er keine Lust hatte, dem neugierigen Frager nur das Geringste zu verrathen. Indessen, der Secretair hatte mir vorhin ja nur seine Nachrichten und Combinationen über die Familie Lohmann mitgetheilt, und was berechtigte mich, jenes Kriegsereigniß mit dieser Familie in Verbindung zu bringen? War das nicht eine Combination von meiner Seite, die noch über die seinigen hinausging? – Er fuhr, durch die kalten Antworten des Geistlichen nicht abgeschreckt, in seinen Fragen fort:

„Ich meinte, man hätte von einem räthselhaften jungen Menschen gesprochen?“

„Ich erinnere mich nicht,“ war wiederum die kalte, kurze Antwort des Paters.

„Oder eigentlich soll es kein junger Mann gewesen sein.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Nämlich nur ein verkleideter.“

„Ich weiß in der That nicht, was Sie wollen, mein Herr.“

Der Geistliche sagte das zwar höflich, aber auch mit einer Entschiedenheit, die deutlich genug zeigte, daß ihm das Gespräch unangenehm war. Ich war im Begriffe, dem zudringlichen Frager einen derberen Wink zu geben. Er hatte aber schon rasch eine weitere Frage vorgebracht.

„Aber von einem Kinde müssen Sie wissen, Herr Pater? Sie selbst haben es noch getauft.“

„Ich taufe viele Kinder, mein Herr,“ erwiderte der Geistliche, noch ruhig. Aber unmittelbar darauf setzte er mit Strenge hinzu: „Und nun, mein Herr, bitte ich Sie, mich nicht weiter zu fragen.“

Dann wandte er sich an das Mädchen, das an seiner Seite weinte. Sie hatte während des Gespräches des Geistlichen und des Secretairs sich still verhalten. Der Geistliche, so war es mir vorgekommen, hatte von Zeit zu Zeit desto unruhigere Seitenblicke auf sie geworfen, als wenn das Gespräch, dem er nicht entgehen konnte, sie betreffe, als wenn er gerade um ihretwillen wünsche, es abgebrochen zu sehen. Auf einmal hörten wir sie heftig schluchzen. Um das Weinen zu bekämpfen, hatte sie sich wohl äußerlich still verhalten. Das Gespräch ging sie also in der That an? Berührte sie gar nahe, schmerzlich? Der Geistliche nahm ihre Hand.

„Weine nicht, meine gute Marianne; wir sprechen nachher zusammen.“

Er sagte das, wie ein liebender Vater zu seinem Kinde, und behielt ihre Hand in der seinigen. Ihr Schluchzen hörte auf. Der Secretair schwieg endlich, und im Wagen herrschte jetzt die größte Ruhe. So erreichten wir nach einer Weile das Dorf. Am Eingange des Dorfes bat der Pater, aussteigen zu dürfen.

„Du begleitest mich, Marianne?“ fragte er das Mädchen,

Sie warf plötzlich einen zweifelhaften, fragenden Blick auf mich; dann sagte sie entschlossen: „Ja, Herr Pater!“ Sie stieg mit ihm aus.

Was hatte sie von mir gewollt? Allein ich hatte jetzt meinerseits noch einige Fragen an den Geistlichen. Ich sollte ein Testament von einem Manne aufnehmen, von dem mit Bestimmtheit gesagt wurde, daß er nicht den Gebrauch seiner Vernunft habe. Es war eine Gewissens- und Amtspflicht für mich, über den Zustand dieses Mannes mir jede mögliche Aufklärung zu verschaffen zu suchen. Der Geistliche mußte von ihm wissen und schien ihn näher zu kennen. Sein klares, besonnenes, selbst würdiges Benehmen hatte mir andererseits Vertrauen zu ihm einflößen müssen. Ich stieg deshalb gleichfalls mit ihm aus.

„Herr Pater, erlauben Sie, daß ich Sie wenige Schritte begleite?“

„Es wird mir recht angenehm sein.“

„Auch daß ich einige Fragen an Sie richte? Nicht aus Neugierde.“

„Ich bin überzeugt davon. Fragen Sie.“

„Der alte Herr Lohmann will sein Testament machen; ich höre aber Zweifel hinsichtlich seines geistigen Zustandes.“

Er sann einen Augenblick nach; dann antwortete er, aber, wie es mir schien, nicht ganz mit seinem offenen und ungezwungenen Wesen: „Darüber kann ich Ihnen in der That keine Auskunft geben, denn ich habe den Mann seit langer Zeit nicht gesehen; die Welt nennt ihn freilich schon lange einen Verrückten.“

„Mit Recht oder mit Unrecht nach Ihrer Meinung?“ fragte ich ihn weiter.

„Auch darüber habe ich kein Urtheil. – Indeß –“

Er sah auf das Mädchen, die neben ihm ging, als wenn er sie fragen wolle oder ich sie fragen solle.

„Doch nein,“ fuhr er dann fort. „Aber Sie werden ja vorsichtig sein, Herr Assessor, wie Amt und Gewissen es von Ihnen fordern, und wozu noch ganz eigenthümliche Umstände, die auch Ihnen nicht entgehen werden, Sie noch besonders auffordern möchten. Ich sage Ihnen nicht mehr, um nicht Vorurtheile in Ihnen zu wecken, die der Wahrheit nachtheilig sein könnten. Wenn ich mir dann noch erlaube, Sie zur besonderen Vorsicht zu ermahnen, so werden Sie mir altem Manne das ja nicht übel nehmen.“

„Ich bin Ihnen vielmehr dankbar.“

„Und hoffentlich – Doch nein,“ unterbrach er sich wieder. Er hatte jedenfalls noch etwas auf dem Herzen; aber er schwieg. Ich hatte ihn nichts mehr zu fragen und verabschiedete mich von ihm. Etwas mußte er mir doch noch sagen. Er nahm meine Hand.

„Herr Assessor, ich hatte hier im Dorfe schon von Ihnen gehört; mein Blick bestätigt mir, was ich gehört hatte. Sie werden heute noch Manches erfahren. Was es auch sei, behalten Sie ein gerechtes, aber auch ein mildes Urtheil. – Leben Sie wohl. Es ist möglich, daß ich Sie bald wiedersehe, heute noch. – Komm, meine gute Marianne.“

Ich glaubte, das Mädchen wieder leise weinen zu hören. Er nahm ihre Hand und entfernte sich mit ihr. Er hatte in Räthseln gesprochen. Räthseln ging ich entgegen. Was sollte ich im Hause des Verrückten finden? Wie stand das Mädchen damit in Verbindung, das an der Seite des Geistlichen weinte? Wie stand sie wieder in Verbindung zu einer geheimnißvollen Geschichte jenes Treffens aus dem Jahre 1813? Wie also wieder die Geschichte mit dem, was ich in dem Lohmann’schen Hause finden sollte?

Mit diesen und ähnlichen Fragen machte ich mich auf den Weg nach dem Hause des Testators.

Der Secretair fragte mich nicht mehr. Er war auch, seit jener Zurechtweisung des Geistlichen, schweigsamer geworden. Auch in dem Wirthshause des Dorfes, in dem ich zunächst eingekehrt war, hatte ich mich nicht näher erkundigen mögen. Die Ankunft einer Gerichtsdeputation zur Aufnahme des Testaments des alten Herrn Lohmann war in dem Dorfe natürlich schon den ganzen Tag besprochen. Der Wirth, der den Secretair kannte, hatte mit diesem sofort ein Gespräch darüber angeknüpft. Beide hatten große geistige und gemüthliche Verwandtschaft mit einander.

„Sie wollen von dem Verrückten ein Testament aufnehmen, Herr Secretair? Na, da bin ich neugierig.“

„Ich auch, ich auch, Herr Wirth. Also, Sie halten ihn wirklich für verrückt?“

„Wer kann daran zweifeln?“

„Aber seit achtzehn Jahren soll ihn ja kein Mensch gesehen haben?“

„Seit achtzehn Jahren hat ihn kein Mensch gesehen, und auch kein Mensch einen Fuß in sein Haus setzen dürfen. Die Herren vom Gerichte werden heute die ersten sein. Aber folgt daraus, daß er nicht verrückt ist? Ich denke gerade im Gegentheil.“

Auch das war eine Logik.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_210.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)