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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 16. 1859.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Das Testament des Verrückten.
Erzählung von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Wir waren allein in dem Gemache. Nichts um uns her war unheimlich; aber in uns war es uns desto unheimlicher.

„Ah, Herr Assessor, das war eine sonderbare Entree; da kann einem graulich werden.“

„Ich bin neugierig auf das Weitere, Herr Secretair.“

„Spotten Sie nicht. Ich versichere Sie –“

„Ich sprach im Ernst.“

„Ah, nein, ich bin es nicht. Ist jene junge Person schon eine Verrückte –“

„Eine Verrückte, Herr Secretair?“

„Eine Blödsinnige denn, das können Sie nicht leugnen. Und von ihr hatte man nicht einmal etwas gehört. Wie mag da erst der Alte sein! Ein Glück nur, daß er im Sterben liegt, wie die Andere, die Marianne, sagte.“

„Ein Glück, Herr Secretair?“

„Herr Assessor, wenn der Mensch auch noch die Kräfte eines Rasenden hätte, hier, in dieser Einsamkeit, zwischen den alten Klostermauern, und dazu die andere Verrückte und der alte Satan, und wer weiß, was sonst noch in diesem Hause des Wahnsinnes hauset; und ein Verbrechen soll der Alte ohnehin schon auf dem Gewissen haben – und das alte Weib sah aus, wie ein Verbrechen – ah, Herr Assessor, da könnte einem wahrhaftig ängstlich zu Muthe werden.“

„Ihnen, Herr Secretair?“ mußte ich doch halb scherzend fragen. „Und Sie waren Officier und haben die Feldzüge mitgemacht?“

Aber er antwortete sehr ernsthaft: „Ja, ja, Herr Assessor, und kein Mensch hat mir jemals Furchtsamkeit vorwerfen können. Damals! Aber sehen Sie, das verdammte Sitzen hinter den Acten, nun schon über achtzehn Jahre lang, Jahr ein, Jahr aus, Tag für Tag, vom frühen Morgen bis in den späten Abend, ah, das kann einen ganz anderen Menschen aus einem machen, das ruinirt zuletzt den Besten. O, diese Acten!“

Hatte der gute Mann nicht Recht? O, diese Acten!

Aber er wurde doch nach und nach wieder neugierig; am Plaudern war er schon. „Mich wundert nur,“ fuhr er fort, „wie das junge Mädchen, unsere Reisegefährtin, so allein mit dem alten Drachen gehen konnte. – Ja, ja, die Leute hatten wohl Recht, dieses alte Weib einen Drachen zu nennen! ich möchte nicht allein mit ihr sein. Aber das Mädchen schien nichts weniger als Furcht vor ihr zu haben. Da müssen sonderbare Verhältnisse vorliegen. Und zu wem wollte sie eigentlich und sollte sie doch nicht? Zu dem Alten nicht, sagte die Blödsinnige. Zu wem dann? Und warum wurde die Person so wüthend dabei? Ah, Herr Assessor, ich bin doch – ja, ich bin doch neugierig.“

„Gott sei Dank!“ sagte ich.

Er ging in dem Zimmer umher, um sich Alles anzusehen, nebenbei auch wohl etwas zu horchen. Dabei konnte er das Schwätzen nicht lassen.

„Verzweifelt feste Thüren, Herr Assessor. Das alte Eichenholz ist hart wie Eisen geworden, und so dick.“

„Die geistlichen Herren liebten das so, Herr Secretair.“

„Ja, ja, aber man kann auch noch jetzt einen Menschen hinter diesen Thüren verschließen –“

„Einen, Herr Secretair, aber nicht zwei.“

„Auch zwei, auch zwei. Warum läßt man uns hier so lange warten? Und dann – sehen sich der Herr Assessor einmal diese Fensterladen an. Ah, sie sind in unseren Gerichtsgefängnissen nicht fester und dichter verschlossen.“

„Herr Secretair, die Acten, die Acten!“

„Und wie still ist es um uns her! Kein Laut in dem ganzen Hause. Und es sind doch Menschen darin. Auch von unserer Reisegefährtin hört man nichts mehr, und sie war doch wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen. – Ah, Herr Assessor!“

„Nun?“

„Diese Todtenstille ist wirklich unheimlich. Wenn die beiden Weibsleute das arme Mädchen –! Die Alte war ein echter Drache, und die Junge war blödsinnig, und boshaft war sie dazu. Und boshafte Blödsinnige, Herr Assessor, Sie wissen es gewiß auch, sind die gefährlichsten Menschen, schrecken vor keinem Verbrechen zurück. Und den blödsinnigen Alten, der gar ein wirklicher Verrückter ist, kennen wir noch nicht einmal. Und Thüren und Fenster des Hauses sind wie mit Eisen verschlossen, und das Haus liegt so allein, von aller menschlichen Gesellschaft entfernt, so recht zu Verbrechen geeignet, und es wäre gewiß nicht das erste –“ Er hielt plötzlich inne. „Herr Gott, was war das?“ rief er dann leise.

Er horchte gespannt. Ich hatte nichts gehört.

„Was haben Sie?“ fragte ich ihn.

„Hörten Sie nichts?“

„Nein.“

„Es war mir, als wenn ich Stimmen hörte; eine tiefe Baßstimme war darunter.“

„Hat Ihre Einbildungskraft nicht vielleicht mehr gehört, als Ihr Ohr?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_225.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)