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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Er wollte mir antworten, als auf einmal rasch, aber leise eine Thür geöffnet wurde. Er fuhr erschrocken zurück.

Das Zimmer hatte drei Thüren; die eine führte in die Halle, durch welche wir eingetreten waren; die beiden anderen befanden sich einander gegenüber in den beiden Seitenmauern, und eine von ihnen, die links, öffnete sich. Eine äußere Ursache zum Erschrecken hatte der Secretair wohl nicht gehabt.

Die alte Frau Langlet trat durch die Thür ein, und sie sah nicht im Geringsten schrecklich oder furchtbar, vielmehr sogar manierlich und freundlich aus. Sie hatte sich umgekleidet; darum hatten wir wohl warten müssen. Sie hatte eine weiße Haube aufgesetzt, die ziemlich reinlich war, und ein anderes, ebenfalls altmodisch großgeblümtes Kleid angezogen. Ihr Gesicht hatte ein Lächeln, das zugleich leidend und gewinnend sein sollte. Sie sah nicht mehr boshaft aus, aber gemein, und das böse Weib glaubte man ihr nun erst recht anzusehen. Sie hatte die Thür hinter sich zugemacht.

„Wenn es den Herren jetzt gefällig wäre,“ sagte sie.

Wir wollten ihr folgen. Sie bewegte sich aber nicht.

„Ich hätte noch eine Bitte an die Herren.“

„Lassen Sie hören.“

„Der Herr Friedensrichter – er ist mein Vetter – ist sehr krank; er wird es wohl nicht lange mehr machen. Wenn Sie nicht zuviel mit ihm sprechen wollten.“

„Ich werde nicht mehr mit ihm sprechen,“ erwiderte ich ihr, „als das Gesetz und das Geschäft erfordern.“

Sie schritt zu der Thür zurück, aus der sie gekommen war. Wir folgten ihr.

„Ich darf doch zugegen bleiben?“ fragte sie noch im Gehen.

„Wenigstens vorläufig,“ antwortete ich.

Es hatte mir nicht entgehen können, wie sie während des kurzen Gesprächs sowohl den Secretair, als mich, besonders aber mich, mit heimlichen Seitenblicken mißtrauisch, mit einer gewissen Besorgniß sogar, betrachtete. Ich mußte um so mehr auf meiner Hut sein.

Sie öffnete die Thür. Wir traten mit ihr in ein Zimmer, das dem, aus dem wir kamen, fast völlig gleich war, auch in seinem Ameublement; nur war ein Schreibtisch darin, auf dem mehrere Bücher standen, und in einer Ecke ein Bett mit Vorhängen. Das Bett war aber leer. Dagegen lag auf einem Sopha in der Mitte der Stube Jemand auf und unter Bettkissen. Es war wohl der Testator, der vormalige Friedensrichter Lohmann, und wir befanden uns in seiner Arbeitsstube, die jetzt zugleich das Wohn- und Schlafzimmer des alten, kranken Mannes war. Die Frau führte uns zu dem Sopha.

„Herr Vetter Lohmann, die Gerichtsherren!“

Es war also der Testator. Er nickte mit dem Kopfe und zeigte mit der Hand nach Stühlen, die in der Nähe des Sopha’s standen. Für unser Geschäft waren schon Vorbereitungen getroffen. Am Fußende des Sopha’s stand ein Tisch mit zwei Wachskerzen darauf; ein Stuhl stand davor, für den, der an dem Tische schreiben sollte. Ein zweiter Stuhl befand sich an dem Kopfende des Sopha’s; er war für mich bestimmt, und ich nahm ihn ein. Der Secretair setzte sich an den Tisch. Die alte Frau, Madame Langlet, trat zurück, nach dem Bette hin, an dessen Seite, hinter den Sitz des Secretairs. Sie konnte so den Kranken sowohl, als mich beobachten, während sie in dem Schatten des Secretairs stand und wenigstens ihre Gesichtszüge nur ungenau von mir beobachtet werden konnten. Sie hatte sich, wie in Bescheidenheit, so zurückgezogen. Ich glaubte, eine andere Absicht darin finden zu dürfen.

Ich betrachtete zunächst den Kranken. Das Gesicht zeigte einen sehr alten und sehr entkräfteten Mann. Es war lang, mager und blaß; die Züge waren erschlafft; die Augen matt und glanzlos; es war gerade kein häßliches, aber, wenigstens in diesem Augenblicke, ein völlig ausdrucksloses Gesicht. Die Augen waren halb geschlossen. Der Kranke lag wie in einer Apathie; er schien für nichts mehr Gefühl zu haben, auch für das Leben nicht. Seine Krankheit bestand wohl nur in großer Altersschwäche. Aber das Gesicht zeigte auch keine Spur von Blödsinn oder anderer Geistesschwäche, Geisteszerrüttung, Seelenkrankheit; in den Zügen weder Stumpfheit, noch Verzerrung; in den Augen weder Geistlosigkeit, noch ein flackerndes oder auch nur glimmendes Feuer.

Der Secretair legte seine Schreibmaterialien zum Schreiben zurecht. Ich begann ein Gespräch mit dem Testator, um vorläufig – das allgemeine Landrecht schrieb es ausdrücklich so vor – seine Identität und den Zustand seiner Geisteskräfte festzustellen.

„Sie sind der Herr Lohmann?“ fragte ich ihn.

„Ich heiße Louis François Lohmann,“ antwortete er.

Er antwortete mit einer schwachen, aber klaren, nicht unangenehmen Stimme. Die tiefe Baßstimme, die der Secretair vorhin gehört hatte, war es nicht. Freilich, hatte er überhaupt eine Stimme gehört?

„In welchem Alter sind Sie?“ fuhr ich fort.

„Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt.“

„Sie sind nicht von hier gebürtig?“

„Das Elsaß ist meine Heimath.“

„Sie waren hier früher Friedensrichter?“

„Tiefendorf war zum Hauptorte eines Cantons von gleichem Namen gemacht. Ich war Friedensrichter des Cantons.“

Er gab alle Antworten zwar mit seiner schwachen Stimme, aber ohne körperliche Beschwerde oder Mühe; noch weniger waren sie seinem Geiste beschwerlich. Er antwortete, wenn auch nicht rasch, doch jedes Mal sofort, ohne daß er sich zu sammeln oder zu besinnen brauchte. Sein Geist schien völlig klar zu sein. Er war es wenigstens bis jetzt noch. Auch der Secretair – ich sah es ihm an – verwunderte sich darüber.

„Sie wollen Ihren letzten Willen erklären?“ fragte ich ihn weiter.

„Ja.“

„Sie haben Jemandem den Auftrag gegeben, zu dem Zwecke einen Gerichtsdeputirten hierher zu erbitten.“

„Meinem Sohne.“

„Sie kennen die Handschrift Ihres Sohnes?“

„Gewiß.“

„Hat er dieses geschrieben?“

Ich hielt ihm die Eingabe des Sohnes vor das Gesicht; er sah sie genau an.

„Ja.“

„Haben Sie vielleicht selber schriftlich Ihr Testament aufgesetzt?“

„Nein. Das Schreiben war mir schon seit Jahren zu schwer.“

„Sie wollen es also mündlich zum gerichtlichen Protokoll erklären?“

„Das ist meine Absicht.“

Noch immer war der Kranke eben so klar, wie ruhig. Dem Secretair schien es desto unklarer und unruhiger, beinahe unheimlicher zu werden. Die alte Frau stand unbeweglich, wie eine Statue, an das Bette gelehnt. Ich fuhr fort:

„Bevor wir zu der Aufnahme des Testamentes schreiten, habe ich noch eine Förmlichkeit zu entledigen. Ich kenne Sie nicht; der Herr Secretair kennt Sie ebenfalls nicht. Gleichwohl verlangt das Gesetz ausdrücklich, daß Ihre Person festgestellt werde.“

Der Kranke besann sich, aber nur einen Augenblick.

„Sie kennen auch Niemanden von meinen Hausgenossen?“

Die Frage zeigte wiederholt, wie klar und richtig seine Gedanken waren.

„Nein,“ erwiderte ich.

Er richtete seine Augen fragend auf die Frau Langlet. Die Frau sann nach.

„Es bedarf,“ bemerkte ich, „nur der Anerkennung Seitens einer einzigen Person, die auch entweder mir oder dem Herrn Secretair bekannt ist. – Der Pater Theodorus zum Beispiel,“ setzte ich hinzu. „Ich selbst kenne außer ihm Niemanden im Dorfe.“

Der Name des Geistlichen brachte eine sonderbare Wirkung hervor. Die alte Frau schoß an dem Bette plötzlich in die Höhe. Dem Kranken sank der halb aufgerichtete Kopf in das Bettkissen zurück; dann traf mich ein scheuer Blick seiner Augen. Aber fast in demselben Moment sah ich von dem Bette her, aus und trotz dem Schatten, in dem die Frau Langlet stand, einen zuckenden Blitz zweier drohender, befehlender Augen nach ihm hinleuchten. Der Kranke sah den Blitz. Er erschrak, nahm sich aber zusammen. Sein Auge schloß sich darauf wieder halb und in seinem Gesichte war keine Spur von Unruhe mehr zu entdecken.

Stand er so in der Gewalt der Frau? Und hatte sie zugleich darum, um diese zu jeder Zeit über ihn ausüben zu können, sich an das Bette gestellt, wo sein erster Blick gerade auf sie fallen mußte?

Ich konnte sie entfernen, und mußte es nach den Gesetzen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_226.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)