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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Gegen den Sterbenden?“

Der brave Mann fragte es mit Entsetzen, aber auch mit Mitleiden.

„Es erscheint hart gegenüber dem Sterbenden,“ erwiderte ich ihm; „aber die Gerechtigkeit fordert es für die Lebenden.“

Ich dachte an die alte Frau, an andere Personen. Das Auge des Kranken hatte unterdeß fast alle Gegenstände in dem Zimmer angestiert, die es, ohne daß er seine Lage veränderte, erreichen konnte. Aber der Blick war nicht mehr wild. Der Kranke lag in einem stillen Irrsinne da. Es war hart, was ich jetzt that, aber die Gerechtigkeit forderte es von mir.

„Auch ein Frauenzimmer war in jenem Gefechte gewesen?“ fragte ich den Kranken.

Er horchte auf bei der Frage. Er dachte nach; es war das Nachdenken des Irrsinnes. „In welchem Gefechte?“ fragte er.

„Das im Jahre 1813 in der Nähe des Dorfes stattfand.“

„Ah, ja.“

„Zwischen den Franzosen und Kosaken.“

„Ah ja. Es war eine Französin.“

„Erzählen Sie mir doch von ihr.“

Er lächelte eine Weile mit den irren Augen vor sich hin; dann sagte er: „Es war ein hübsches Ding und noch so jung; es war Schade um sie.“ Er schwieg, still weiter lächelnd.

„Was war Schade?“ fragte ich.

„Ah bah!“

„Sie antworten mir nicht.“

„Fragten Sie mich etwas?“

„Nach der jungen Französin.“

„Ah so!“

„Sie sagten, es sei Schade um sie gewesen?“

„Gewiß, das war es.“

„Was war Schade?“

„Sprach ich davon?“

„Freilich.“

„Ja, ja, dann muß es wohl so sein.“

„Aber was muß so sein?“

„Nun, was ich gesagt habe.“

„Was haben Sie denn gesagt?“

„Nun, Sie wissen es ja.“

Auf diesem Wege war er zu dem, was er hatte sagen wollen, nicht zurückzubringen; ich mußte anders fragen.

„Die junge Französin war dem Kampfplätze entronnen?“

„Das war sie.“

„Ein Frauenzimmer?“

„Eine Dame!“

„Eine Dame?“

„Eine feine Dame!“

„Wie war sie in den Kampf gerathen?“

„Ei, sie hatte ja nicht von seiner Seite weichen wollen.“

„Von wessen Seite?“

„Nun, von der des französischen Commandanten, der in dem Gefechte blieb. Sie war ja seine Geliebte.“

„Wie?“

„Ja, ja, seine Geliebte, nicht seine Frau; die Leute lügen, wenn sie das sagen. Warum hätte sie dann Knabenkleidung getragen?“ Er gerieth beinahe in Eifer, während er dies sprach.

„Sie trug Knabenkleidung?“ fuhr ich mit meinen Fragen fort.

„Gewiß, und sie ließen ihr recht hübsch. Aber –“ Er schwieg wieder, vor sich hin lächelnd.

„Aber?“ fragte ich.

„Aber ich sah gleich, daß sie kein Knabe war.“

„Sie sahen sie also?“

„Gewiß. Sie kam ja zu mir in mein Haus.“

„Sie kam zu Ihnen?“

„Wie ich Ihnen sage.“

„Und was führte sie zu Ihnen?“

„Was sie zu mir führte? Sie genas in meinem Hause von einem Töchterchen.“

„Marianne?“ mußte ich unwillkürlich rufen.

„Ah, Sie kennen sie?“

„Marianne ist die Tochter jener Dame?“

„Wir ließen sie Marianne taufen.“

„Wer ließ sie so taufen?“

„Ich selbst.“

Eine fürchterliche Ahnung ergriff mich. „Und was wurde aus jener Unglücklichen?“

„Aus welcher Unglücklichen?“

„Der Französin, der Mutter Mariannens?“

„Ich sagte es Ihnen ja.“

„Sie haben mir nichts gesagt.“

„Sie haben mir ja vorhin selbst gesagt, es sei Schade um sie gewesen.“

„Ich Ihnen?“

„Besinnen Sie sich nur.“

„Was war denn eigentlich Schade um sie?“

„Nun, daß sie sterben mußte.“

„Sie mußte sterben?“

„Nun ja.“

Es überlief mich kalt. Dem Secretair standen dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Der Irre lächelte vergnügt vor sich hin.

Die junge Dame, eine verlassene, unglückliche Fremde, die in der schwersten Stunde ihres Lebens Schutz und Hülfe gesucht hatte, die Mutter jener Marianne, hatte in dem Hause, in dem sie Schutz und Hülfe suchte, sterben müssen! Und der Mann, bei dem sie gestorben war, war seitdem aus einem armen Manne ein reicher Mann geworden! Und er war seit jener Zeit dem Wahnsinne verfallen! Und jenes böse Weib, das seitdem den Wahnsinnigen von aller Welt fern hielt, das auch mich nicht mit ihm hatte allein lassen wollen, war schon damals bei ihm gewesen, allein bei ihm mit der Unglücklichen! Sie hatte mich zu ihm lassen müssen, weil sie ohne sein Testament einen neuen verbrecherischen Zweck nicht erreichen konnte, vielleicht denselben Zweck, der sie schon zu jener Zeit zum Verbrechen geleitet hatte! Ja, mußte ich nicht in einen Abgrund blicken, in dem ein schweres, entsetzliches Verbrechen lag? Und der Irre lag so freundlich lächelnd vor mir. Ich mußte weiter gehen.

„Die fremde Dame war in Ihr Haus gekommen?“ fragte ich.

„Gewiß, in mein Haus.“

„Wer hatte sie zu Ihnen gebracht?“

„Ein Bursche aus dem Dorfe.“

„Sprach sie deutsch?“

„Etwas.“

„Was wollte sie bei Ihnen?“

„Ich sagte es Ihnen ja schon.“

„Was hatte sie dem Burschen gesagt?“

„Sie hatte ihn nach dem Friedensrichter des Ortes gefragt.“

„Und was sagte sie zu Ihnen?“

Er lachte laut auf, als wenn er sich an etwas recht Lustiges erinnere. „Was sagte sie zu Ihnen?“ wiederholte ich.

„Sie wollte auch ihr Testament machen.“

„Ihr Testament?“

„Ich war ja Friedensrichter, und ein Notar war nicht im Dorfe.“

„Machte sie ihr Testament?“

„Ah bah!“

„Sie machte es nicht?“

„Sie hatte keine Zeit dazu.“

„Warum nicht?“

„Nun, sie starb vorher,“ lächelte er zufrieden.

„Wie starb die Arme?“ fragte ich entsetzt.

„Sehr gefaßt,“ antwortete er mit seinem vergnügten Lächeln.

Ein neuer Schauder überlief mich.

„Sie erkannte ihren Tod?“

„Und ergab sich mit wahrhaft christlicher Gesinnung in ihr hartes Schicksal.“

„Sie selbst nennen es ein hartes?“

„Ja, sie war doch noch so jung.“

„Aber warum mußte sie sterben?“

„Warum stirbt der Mensch? Ich muß ja auch sterben. Sterben müssen wir Alle.“

„Ich meine, was die Ursache ihres Todes war?“

„Ich sage Ihnen ja, sie mußte, sterben.“

„Starb sie eines natürlichen Todes?“

„Ah, der Tod ist immer natürlich. Er ist ein Gesetz der Natur.“

„Aber er hat natürliche oder widernatürliche, gewaltsame Ursachen.“

„Auch das ist nicht richtig. Es ist freilich ein sehr gewöhnlicher Irrthum.“ Er lächelte nicht mehr; aber er sah mich mit einem wichtigen Ernste an.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_238.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)