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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Er rief es entschlossen. Aber das langjährige Abhängigkeitsverhältniß hatte doch einen festen Charakter in dem jungen Mann nicht aufkommen lassen. Er sah mich wieder ängstlich an.

„Dürfen Sie mir in der That nichts sagen?“

„Nein, mein Herr.“

„O, wenn Sie es dürfen – Sie haben jene Tochter der Frau gesehen, die ich heirathen soll, Sie haben auch – ja, ich muß es Ihnen sagen – Sie haben auch Mariannen kennen gelernt. Ich hatte ihr geschrieben, zu kommen, sich mit mir dem Vater zu Füßen zu werfen; sie ist mit Ihnen gereist; sie hat es mir erzählt, als ich einen Augenblick mit ihr sprechen konnte. O, mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir, mit uns. Bin ich an jenen Willen, an den erzwungenen Willen meines Vaters gebunden? Ich frage nicht um meinetwillen, nicht für den elenden Erbtheil – nein, nein – ich will ihn nicht, ich will nichts davon –“

Er stockte plötzlich, erschrocken, als wenn er zuviel gesagt habe. Aber er sah mich fragend, bittend an. Ich überlegte, ob ich ihm antworten dürfe. Ich war im Begriff, ihm eine, wenn auch nicht bestimmte, doch möglich beruhigende Antwort zu ertheilen, als plötzlich die Thür des Krankenzimmers geöffnet wurde. Die Frau Langlet erschien auf der Schwelle; mit triumphirendem Gesichte kam sie zu mir:

„Sie werden doch das Testament aufnehmen, Herr Assessor? Er ist wieder ganz vernünftig.“

„Es ist nicht möglich,“ wollte ich rufen. Ein so plötzlicher, schneller Wechsel von Vernunft und Unvernunft erschien mir in der That unmöglich. Aber der junge Mann neben mir war erblaßt. Er zweifelte nicht an der Wahrheit der Mittheilung, und er mußte seinen Vater und die Frau kennen.

„Stehen dem Weibe Künste der Hölle zu Gebote?“ fragte ich mich. „Was hat sie gemacht?“

Sie fuhr triumphirend, beinahe höhnend fort: „Darf ich bitten, sich wieder in das Krankenzimmer zu bemühen? Ich werde zurückbleiben, ich werde Sie nicht wieder belästigen.“

Sie mußte ihrer Sache sehr gewiß sein. Ich war in hohem Grade gespannt. Der Secretair Hommel konnte auch jetzt nicht wieder neugierig werden. Die Nachricht der Frau schien ihm ein neues Entsetzen eingejagt zu haben. Ich begab mich zu der Thür des Krankenzimmers. Ich mußte zu dem Testator zurückkehren.

„Darf ich Sie begleiten?“ fragte mich der Sohn des Testators.

Er war beinahe leichenblaß geworden; in seinem Gesichte zeigte sich die höchste Angst. Er fragte, er bat mich dringend. Ich konnte es ihm nicht bewilligen; ich durfte nicht zweierlei Recht haben.

„Aber bleiben Sie hier, Sie Beide,“ sagte ich.

Ich ging mit dem Secretair in die Krankenstube. Der Kranke lag ruhig auf dem Sopha, ganz in der Lage, wie ich ihn bei unserem ersten Eintreffen gefunden hatte. Ungefähr wie damals war auch sein Gesicht, völlig blaß, vollkommen ruhig, das halb geöffnete Auge ohne Glanz, aber still; von Geistesverwirrung, von Irr- oder Wahnsinn keine Spur mehr; er war nur vielleicht noch mehr erschöpft, als vorher. Er winkte dem Secretair und mir zu, unsere Plätze wieder einzunehmen.

„Entschuldigen Sie mich, ich war unwohl geworden,“ sagte er dann.

Seine Sprache war sehr schwach und leise, ich mußte mich fast über ihn beugen, um ihn zu verstehen; aber auch sie zeigte volles Bewußtsein an.

„Sie haben sich wieder erholt?“ fragte ich ihn.

„Es geht besser.“

„Und wir könnten in unserem Geschäft fortfahren?“

„Ich bitte darum“

Jedes seiner Worte zeigte Vernunft, Bewußtsein, Er war wieder vernünftig. Welche ungeheuere Kraft stand diesem Manne, oder welche ungeheuere Gewalt über ihn stand jenem Weibe zu Gebote, daß er so schnell und so völlig wieder genesen war? Welches Wunder hatte die Natur gewirkt oder welche Zauberkunst hatte das Weib angewandt? Es wollte mich beinahe ein Entsetzen ergreifen, wie den Secretair. Ich mußte fortfahren, indem ich freilich immer, mehr zweifelnd, als glaubend, auf meiner Hut blieb.

„Darf ich bitten,“ sagte ich, „mir Ihre Bestimmungen anzugeben?“

„Es bleibt völlig bei dem, was ich Ihnen vorhin schon gesagt hatte.“

„Ich muß um eine freie, selbstständige Wiederholung bitten.“

„Mein Sohn wird mein einziger Erbe.“

„Der Name Ihres Sohnes?“

„Louis François Lohmann.“

„Weiter, wenn ich bitten darf.“

„Aber er wird mein alleiniger Erbe nur unter der Bedingung, daß er die Tochter meiner Anverwandtin, der Frau Langlet, heirathet.“

„Der Name dieser Tochter?“

„Adrienne Langlet.“

„Ich bitte, fortzufahren.“

„Unterwirft mein Sohn sich dieser Bedingung nicht, so wird er auf den Pflichttheil eingesetzt und meinen gesammten übrigen Nachlaß erhält die Frau Louise Charlotte Langlet.“

„Wollen Sie Ihrem Sohne eine Frist zur Erfüllung jener Bedingung bestimmen?“

„Seine Trauung mit Adrienne Langlet muß binnen einem halben Jahre nach meinem Tode vollzogen sein.“

„Haben Sie noch sonstige Anordnungen zu treffen?“

„Wird mein Sohn mein alleiniger Erbe, so erhält die Frau Langlet jedenfalls eine jährliche Rente von dreihundert Thalern und den lebenslänglichen Nießbrauch dieses Hauses nebst dessen Zubehör. – Weiter habe ich nichts zu verordnen.“

Genau so waren in allen Stücken vorhin seine Verfügungen gewesen. Er hatte Wort für Wort klar, bestimmt, mit vollem Bewußtsein gesprochen; ich konnte nicht den geringsten Zweifel dagegen aufbringen. Ich wollte mir selbst zürnen, daß ich es nicht konnte. Auch dem Gedanken an einen moralischen Zwang, an die Nachwirkung eines Zwanges von Seite der Frau Langlet auf ihn, konnte ich mit voller Ueberzeugung, geschweige mit rechtlichem Nachhalt, keinen Raum geben. Sollte denn die Bosheit, die Tücke, das Verbrechen siegen?

Ja, auch das Verbrechen! Durch ein Verbrechen – ich konnte nicht daran zweifeln – war einer fremden Waise das Vermögen entrissen, über das jetzt verfügt wurde. Die fremde Waise war Marianne. Der junge Mann, der Sohn des Kranken – kennend oder ahnend das Verbrechen seines Vaters – hatte ihr das Geraubte wieder zuwenden wollen; ihre Herzen hatten sich vielleicht schon lange gefunden. Sein edler Zweck sollte vereitelt, die arme Waise sollte noch einmal beraubt werden. Und ich sollte zu diesem Raube die Hand bieten, ihm den Stempel des Gesetzes, des Rechtes aufdrücken! Das Alles, wenn mir auch noch Einzelnheiten fehlten, lag klar vor mir. Klar, aber dennoch wie ein Labyrinth, aus dem ich keinen Ausweg sah.

Der Testator hatte seinen Willen vollständig, mit vollem Bewußtsein, ohne einen äußeren Zwang, also durchaus vollgültig abgegeben; ich mußte ihn zu Protokoll nehmen. Zwar hatte der Kranke noch kurz vorher in einem Zustande unzweifelhaften Irrsinnes sich befunden. Aber eben so unzweifelhaft war er in diesem Augenblicke seines Verstandes mächtig, und nur darauf kam es nach ausdrücklicher Vorschrift des Gesetzes an. Gelang es mir auch, in anderer Weise, etwa durch ein plötzliches Zurückspringen auf jenes Ereigniß des Jahres 1813, seinen Geist wieder zu verwirren, auf die Gültigkeit des Testamentes konnte das keinen Einfluß haben, für ihn wäre es eine nutzlose Grausamkeit gewesen. Zudem gestattete das Gesetz es mir nicht einmal. Nur noch ein Mittel blieb mir übrig, nämlich auf das Herz des alten Mannes einzuwirken, der am Rande des Grabes lag, auf das Gewissen, das noch vor wenigen Augenblicken so schwer von einen schweren Verbrechen belastet sich gezeigt hatte. Ich hatte schon vorher daran gedacht; zu diesem Zwecke hatte ich auch den jungen Menschen in dem Zimmer nebenan gelassen. Aber bei näherem Nachdenken mußte ich auch dieses Mittel fallen lassen. Den Sohn, gar mit jener beraubten Waise, an das Lager des Kranken führen, es war eine Scene, die einerseits ungerecht gegen die Frau Langtet war, zumal da ich für ein Verbrechen nicht die geringste thatsächliche Gewißheit hatte, und die andererseits geradezu in das Gegentheil von dem, was ich wollte, umschlagen konnte. Störte die Scene das Bewußtsein des Testators wieder, so blieben seine einmal getroffenen Bestimmungen nichtsdestoweniger gültig, und ich hatte jede Hoffnung zu ihrer Abänderung verloren. Hatte ich dies aber nicht auch zu befürchten, wenn ich, ohne eine solche Scene, auf sein Herz und Gewissen einwirken wollte? War mir am Ende auch nur dies gesetzlich erlaubt? Dann hatte ich aber auch gar kein Mittel mehr für den Sohn, für die Waise, für die nur geringste Wiedergutmachung eines Verbrechens, dessen Vorhandensein, trotz alles Mangels an Thatsachen, ich mir einmal

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_240.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)