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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

nicht aus dem Sinne schlagen konnte. Ich sah die beiden unglücklichen jungen Leute vor mir, ich sah jene kindisch eigensinnige, blödsinnige Adrienne, ich sah den höhnischen, satanischen Triumph des boshaften alten Weibes; und ich sah kein Mittel mehr.

Nur ich kurzsichtiger Mensch sah keins mehr!

Ich dictirte das Testament zum Protokoll, vollständig, nach den Anordnungen des Testators, mit allen Förmlichkeiten des Gesetzes. Ich dictirte es laut; er konnte jedes Wort vernehmen. Er blieb ruhig liegen, ohne eine Miene zu verändern. Ich ließ ihm das Protokoll vorlesen. Er hörte aufmerksam zu. Ich fragte ihn, ob das, was ihm vorgelesen sei, seinen ernstlichen, wohlüberlegten, letzten Willen enthalte.

„Ja!“ antwortete er mit seiner schwachen Stimme, aber fest, sicher.

Ich forderte ihn auf, das Protokoll zu unterschreiben. Er war bereit dazu und vermochte es auch, indem der Secretair und ich ihn aufrichteten und stützten.

Das Testament war in aller Form Rechtens fertig. Der Sohn des Testators war gezwungen, entweder jene Blödsinnige zu heirathen, oder den größten Theil, nach dem Gesetze zwei Drittheile, des Nachlasses seines Vaters der Frau Langlet herauszugeben. Es fehlte zwar an der vollen Rechtsbeständigkeit des Testaments noch ein Umstand, mit dem ich nach dem gewöhnlichen Verfahren hätte beginnen sollen, den ich aber ebensowohl jeden Augenblick nachholen konnte, nämlich die Anerkennung der Person des Testators. Aber an seiner Identität war in keiner Weise zu zweifeln; es handelte sich also nur noch um eine leere, mit der leichtesten Mühe zu erledigende Förmlichkeit.

Ich wollte in das Nebenzimmer gehen, um mich zu erkundigen, ob der Pater Theodorus, der die Anerkennung bewirken solle, bald eintreffen werde. In dem nämlichen Augenblicke hörte ich, wie draußen an die Hausthür geklopft wurde. Der Schlag hallte dumpf durch das Haus, wie jener Schlag, mit dem ich unsere Ankunft angekündigt hatte. Ich blieb erwartend in dem Krankenzimmer. Die Hausthür wurde geöffnet. Gleich darauf trat Jemand in das Zimmer nebenan.

„Guten Abend,“ sagte eine tiefe, aber klare und wohltönende männliche Stimme, Es war die Stimme des Paters Theodorus, Es wurde ihm gedankt. Aber dann hörte ich ihn gleich traurig und bewegt sprechen.

„Armer Franz! Ich lese Alles in Deinem Gesichte. Du erleidest heute einen doppelten Verlust.“

Ich hörte den jungen Mann nur weinen. Gesprochen wurde nicht mehr. Die Frau Langlet ließ Keinem Zeit dazu. Sie öffnete schnell die Thür des Krankenzimmers.

„Wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Pater.“

Der Pater Theodorus trat in das Krankenzimmer. Die Frau machte keinen Versuch, ihm zu folgen. Auch der Sohn des Kranken nicht.

Ich hatte den Pater früher nur in der Dunkelheit gesehen, und betrachtete ihn in dem Lichte der Wachskerzen genauer. Er war schon ein sehr alter Mann; aber man konnte kaum einen schöneren Greis sehen. Er hielt seine hohe Gestalt aufrecht, nicht stolz, aber mit der bewußtlosesten, ungezwungensten Würde. Sein Gesicht, edel geformt, wie das Gesicht eines Patriarchen, sprach Milde, Frieden und Offenheit aus; es verkündete die wahre christliche Liebe, es zog zu unwiderstehlichem Vertrauen an. Auch mich. Und mit dem Vertrauen, das in mir dem Manne entgegen schlug, erwachte auf einmal ein anderes, ein höheres Vertrauen in mir. Anfangs unruhig, daß mir das Herz klopfte, dann still, ruhig, wie immer das höhere Vertrauen. Die Erscheinung des würdigen Dieners Gottes weckte das Vertrauen zu den Rathschlüssen Gottes, zu der höheren, ewigen, göttlichen Gerechtigkeit in mir.

Der Pater begrüßte den Secretair und mich schweigend. Dann trat er an das Lager des Kranken. Er sprach auch zu ihm nichts. Er sah ihn nur an. Er sah ihn an mit seinen klaren, blauen Augen voll Milde und Frieden, aber auch voll Ernstes.

Der Kranke hatte bei dem Eintreten des Geistlichen aufgezuckt, nur mit einem fast unmerklichen Bewegen der Augenlider, nur mit dem leisesten Schimmer, der bemerkbar durch das Auge ziehen konnte. Ich hatte dennoch genug gesehen, um eine Ahnung, die schon lange in mir aufgetaucht war, zur Gewißheit erheben zu dürfen. Was ich ferner sah, sollte mir vollends keinen Zweifel lassen. Der Kranke hatte dem Blicke des Geistlichen zu begegnen vermocht, aber nur mit einem gewissen Trotze, wie es schien. Der Blick des Mönchs wurde ernster. Der Kranke konnte ihm nicht mehr begegnen. Er schloß die Augen.

So konnte nur der Beichtvater blicken, der in die tiefste Tiefe der Seele, und in dieser Tiefe ein Verbrechen sah. So konnte diesem Blicke sich nur das Gewissen verschließen, das des schweren Verbrechens sich bewußt war, das einst in furchtbarer Angst dem Beichtvater dieses Verbrechen hatte bekennen müssen, das dann aber und auch noch heute, noch in diesem Augenblick wußte, daß das Geheimniß der Beichte unverletzlich ist, wie das Geheimniß des Grabes. Und so hatte dieses Gewissen sich verschlossen. Der Blick des Geistlichen wurde traurig. Er schüttelte schmerzlich das greise Haupt, Er sprach noch immer nichts. So stand er, unverwandt den Kranken anschauend.

In dem Zimmer herrschte eine tiefe, aber peinliche Stille, eine Todtenstille. Da bog der Mönch seine Kniee; seine hohe Gestalt ließ sich demüthig auf sie nieder. Er faltete die Hände. In die gefalteten Hände stützte er das schmerzlich bewegte Gesicht. So betete er. Er betete still; man hörte keinen Laut seiner Lippen, nicht seinen Athemzug. Die Stille des Zimmers wurde eine feierliche. Er betete lange. Seine Gestalt blieb unbeweglich. Endlich erhob er sein Gesicht. Es war nicht mehr schmerzlich bewegt; aber es war verklärt von dem edelsten, erhabensten, heiligsten Ausdrucke des Vertrauens, des Friedens, der Vergebung, Das verklärte Gesicht hob er zum Himmel empor. Dann kam das erste Wort über seine Lippen.

„Amen,“ sagte er. Das Wort erklang wunderbar ergreifend durch die tiefe, feierliche Stille.

Der Kranke zuckte auf. Er öffnete die Augen, er mußte sie öffnen. Sein Blick fiel in das verklärte, betende Gesicht des Paters. Er schrie laut auf.

„Gott, Gott!“

Dann sah er sich heftig um. Er suchte mich. Er sah mich. Er sah in meiner Hand das Papier, das seinen letzten Willen enthielt.

„Mein Testament!“ rief er. „Geben Sie mir mein Testament.“

Ich reichte es ihm hin. Er zerriß es. Er warf die Stücke von sich.

Der Retscher zu Speier.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_241.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)