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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Neurode zu, machte ihm eine komisch-ceremoniöse Verbeugung und sagte:

„Graf, Gönner, Freund, verzeiht, wenn ich Eurer huldreichen Einladung nicht pünktlichst nachkam. Ich habe auf dem Wege hierher eine unvermuthete Abhaltung gehabt. Wie hätte ich sonst Euch und die übrigen hohen Grafen und Herrn so ungebührlich lange warten lassen!“

Er machte den lachenden Freunden bei diesen Worten eine ernste Verbeugung, während er prüfende Blicke auf die reichbesetzte Tafel warf.

„Gewiß hat er ein Liebesabenteuer gehabt,“ rief Posen, „ein Rendez-vous! Oho, so kommt man hinter seine Schliche. Günther, sagen Sie geschwind, wo die Göttliche wohnt und wie sie heißt.“

Günther blickte den Sprecher mit einem ironischen Lächeln an, das die Heiterkeit der übrigen Herren sehr erhöhte; dann sagte er:

„Ich will Euch die Geschichte meines Abenteuers nicht vorenthalten. Ihr sollt sie Alle hören, aber nicht jetzt bei nüchternem Magen, sondern wenn wir erst einige Gläser Sekt getrunken haben.“

Der Wirth meldete jetzt, es sei angerichtet, und in der heitersten Stimmung schickte man sich an, den aufgetischten Speisen und Getränken die schuldige Ehre anzuthun. Die Unterhaltung riß nicht ab. Ein Scherz jagte den andern und Neckereien jeglicher Art gingen herüber und hinüber.

Als man beim Nachtisch angelangt war, wurde Günther von allen Seiten bestürmt, sein Abenteuer zum Besten zu geben, und er begann bei andächtiger Ruhe seiner Zuhörer:

„Meine Herren und Lords, – unsere höchst ehrenwerthe Gesellschaft hier kommt mir wie eine ständische Versammlung vor. Ihr seid die vielmögenden Grafen und Herren, – ich bin vom Hause der Gemeinen ein bescheidenes Mitglied.

„Denkt Euch nun, Ihr Lords und Herren, ich sei Vertreter des Unterhauses und beauftragt, einen von diesem angenommenen Beschluß Ihnen vorzutragen und Ihrer Berathung, respective Annahme unterzubreiten.“

„Wo soll das hinaus!“ erscholl es im Kreise der Zuhörer. „Zur Sache! Zur Sache!“

„Ich bin bei der Sache, Mylords; Sie werden es sogleich hören. Mein dem hohen Hause vorzulegender Gesetzentwurf muß doch erst von mir begründet und erörtert werden, ehe Sie zur Berathung desselben schreiten können. Und zur Begründung meines Antrages will ich folgende Geschichte erzählen.“

„Hört, hört!“ rief man jetzt, und Günther begann auf’s Neue:

„Als ich durch die Kreuzgasse schritt, um mich zu dieser ehrenwerthen Versammlung zu begeben, hörte ich einen fürchterlichen Lärm, der aus einer daselbst befindlichen Tischlerwerkstatt hervordrang. Zwei Männer zankten heftig mit einander, ein Weib kreischte, und die Begleitung zu diesem unmelodischen Terzett bildete das vielkehlige Wehgeheul der lieben Kinder.

„Ich stand einen Augenblick still und verfolgte den Gang dieser unauflöslichen Dissonanzen – da öffnete sich plötzlich die Thür und ein zornerhitzter Mann trat heraus, der mit Stentorstimme ausrief: „Und ich sage Euch zum letzten Male, es bleibt dabei! Ich lasse Euch auspfänden und auf die Straße werfen!“ Dabei schlug er die Thür so heftig hinter sich zu, daß sie in ihren Angeln zitterte, und ging die Straße hinunter. Drinnen im Hause aber hatte das Schreien nachgelassen, und nur leises Weinen und Schluchzen ließ sich noch vernehmen.

„Dem edlen Triebe meines schönen Herzens folgend, – meine Herren Lords, ich rede hier nicht als Einzelner, sondern als Repräsentant des Unterhauses, daher hege ich keine Scheu vor diesem lobenden Ausspruch und muß den Präsidenten dringend ersuchen, die Lacher zur Ordnung zu verweisen! – Also ich sagte: dem edlen Triebe meines schönen Herzens folgend, trat ich ein in die Hütte der Armuth und fand eine von Kummer und Sorgen heimgesuchte Familie, bestehend aus Vater, Mutter und sechs Kindern – weniger haben arme Leute nie, auch gehören sechs unmündige Kinder nothwendiger Weise zu jeder rührenden Familiengeschichte!

„Erstaunt, theilweise sogar mit den Zeichen der Angst und des Schreckens blickten die sechzehn Augen mich an und mochten zuerst glauben, ihr Quälgeist, der geldverlangende und drohende Hauswirth sei noch einmal zurückgekehrt. Als aber die spärliche Beleuchtung der Stube ihnen gestattete, meine Züge zu erkennen, da wichen die Kinder entsetzt vor mir zurück und riefen: „O Jesses, o Jesses, die Nas’ kummt! Nun ist Alles aus!““

Ein fröhliches Gelächter unterbrach diese mit schwermüthigem Tonfall gesprochenen Worte, und Posen rief:

„Ja, Günther, es war auch sehr unvorsichtig, daß Sie sich dieser unglücklichen, so gar nicht auf Ihren Anblick vorbereiteten Familie zeigten. Die Aermsten hätten den Tod vor Schreck haben können!“

„Ja wohl, ja wohl,“ seufzte Günther, „daran ist aber meine jugendliche Hitze Schuld, die mich die möglichen Folgen eines Schrittes kaum bedenken läßt. – Wären Sie nur an meiner Seite gewesen, edler Freund, Sie hätten mich zurückgehalten und wären selbst hineingegangen, in der beruhigenden Ueberzeugung, daß sich vor Ihnen Niemand fürchten kann!“

Jetzt waren die Lacher völlig auf Günther’s Seite, der, während Posen sich erröthend auf die Lippen biß, ruhig fortfuhr:

„Alles geht vorüber, also auch der Schreck jener Menschen vor meiner Erscheinung. Die Kinder hörten auf zu heulen, und die Eltern fragten, was zu meinen Diensten stände. Ich erwiderte: ich selbst, nämlich zu den ihrigen, sie sollten mir nur mittheilen, um was es sich handle. Da erfuhr ich denn unter einem neuen Ausbruch von Verzweiflung und obligatem sechsstimmigen Accompagnement, daß sie bei der theuren Zeit – natürlich ganz ohne ihre Schuld – in’s Unglück gekommen und dem Wirthe die Jahresmiethe mit dreißig Thalern schuldig geblieben waren, und daß sie um dieser Thatsache willen an die Luft gesetzt werden sollten. Kurz und gut – ich ging wieder fort, bestellte mir aber das älteste Tischlerkind hierher und denke, es wird schon draußen warten. Das Unterhaus hat nämlich den Beschluß gefaßt, und zwar einstimmig, meine Herren Lords, die für die Reparatur des alten, baufälligen Gemäuers, vulgo Familie, nöthige Summe zu bewilligen, und trägt hiermit darauf an, daß das Oberhaus sich diesen Beschluß ebenfalls aneigne.

„Ich habe nichts weiter zu sagen, behalte mir aber vor, Ihnen einige Berechnungen über Champagnerfeste und dergleichen vorzulegen, wenn sich ein Einwand gegen den Beschluß des Unterhauses erheben sollte!“

Hiermit griff Günther zur Börse und legte ein Goldstück auf den vor ihm stehenden Teller, den er sodann seinem Nachbar hinhielt. Seinem Beispiel folgen Alle unter Lachen und Bravorufen.

„Ruft das Kind herein!“ befahl Günther dem Kellner, als der Teller die Runde gemacht hatte und reich gefüllt wieder vor ihm stand. Bald darauf trat ein zwölf- oder dreizehnjähriges, ärmlich gekleidetes Mädchen ein, das in höchster Verlegenheit an der Thür stehen blieb und nicht aufzublicken wagte.

„Tritt näher, Du ältester Sproß einer armen, aber unglücklichen Familie,“ rief Günther ihr zu, „und höre, was das hohe Haus in seiner Weisheit beschlossen hat.

„Nach einer glänzenden Rede des sehr ehrenwerthen Sprechers des Unterhauses, in welcher er klar dargethan hat, daß Ihr unbegreiflicher Weise von der Natur und ihren Reizen nichts wissen wollt – weine nicht, kleiner Rebeller, sonst komme ich aus dem Zusammenhange! – nach diesem Allen hat man beschlossen, Eurer weichlichen Vorliebe für eine warme Stube Vorschub zu leisten und Eurem verkannten Wohlthäter, dem Hauswirthe, die Miethe zu zahlen!

„Nun aber aufgehört mit Weinen! Thränen kann diese hohe Versammlung nicht vertragen. Was? Hände küssen? – Fort fort, mein Kind! .... Doch zuvor die Schürze aufgehalten. So! Das ist für das schreiende Sextett zu Hause, um ihnen die Münder zu stopfen!“

Damit schüttete Günther das Confect von den Schalen in die Schürze des kleinen Mädchens und schob das erschreckte und verwunderte Kind sanft zur Thüre hinaus.

„Ihr habt eine eigenthümliche Manier, wohlzuthun, Günther,“ sagte Neurode. „Mir that das arme Kind ordentlich leid, wenn Ihr es so hart anfuhrt!“

„Seine Worte erschreckten das Kind nicht halb so sehr, als seine Nase,“ rief Mellin. „Sahet Ihr nicht, welche Blicke voll Angst und Entsetzen sie auf dieselbe warf?“

„Ja, die Nase hat schon viel Unheil angerichtet!“ seufzte Posen. „Es ist gewissermaßen eine Rücksichtslosigkeit gegen das Publicum, eine solche Nase zu tragen.“

Günther trank ruhig sein Glas Wein aus, dann sagte er:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_283.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)