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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Ja, freilich darum. Sie war mit den Franzosen, wie sie hier durchgekommen sind, gerade so gut und freigebig, wie mit Euch. Das ist ihr ganz gleichgültig, Deutsche oder Franzosen, wenn’s nur Soldaten sind.“

„Daß sie uns aber von ihrem Wilhelm noch gar nicht gesprochen hat?“

„Das kommt daher, daß sie sich schämt und fürchtet. Es haben sie schon viele Leute ausgelacht und ihr gesagt, ihr Warten sei überflüssig und ihr Wilhelm werde nie wieder nach Hause kommen, und da haben sie ihr erzählt, was Alles in Rußland vorgegangen, und haben ihr gesagt, sie sei verrückt, noch länger zu warten. Der Napoleon freilich, der ist entwischt, und unser Hieronymus, der hat sich noch früher aus dem Staube gemacht, bevor das Unglück und die große Kälte gekommen ist; aber die armen Soldaten – Nun schämt sie sich, daß man sie für verrückt hält, und fürchtet sich, daß man ihr sagen werde, daß ihr Wilhelm auch umgekommen, und da spricht sie nicht mehr darüber.“

Die ganze Geschichte machte uns sehr traurig, und als wir Abends in der Stube um den Tisch saßen und spät nach Sonnenuntergang die Alte murmelnd die Treppe herunterkommen hörten, wurden wir ganz still. So bemerkte sie uns gar nicht, als sie eintrat, und wir hörten deutlich, wie sie, die Hände ineinandergelegt, vor sich hinmurmelte: „Er ist nicht gekommen; nun, er wird wohl morgen kommen, er wird wohl morgen kommen; gewiß, er wird morgen kommen.“

„Er wird kommen!“ rief unser Camerad Helffreich, der Sohn eines Pastors und Studiosus Theologiä, „glaube, liebe und hoffe, Du gute Mutter.“

Aber die Alte hatte nur die ersten Worte gehört; mit strahlendem Gesichte wandte sie sich zu uns und rief: „Nicht wahr, er wird kommen? Gewiß, er wird kommen!“ Dann setzte sie sich zu uns, stützte beide Arme auf den Tisch, sah uns lächelnd an und sprach mit halber Stimme, vertraulich, als ob sie von Anderen nicht hätte gehört sein wollen: „Seht, Kinder, hier zu Lande glaubt Niemand mehr, daß er wiederkommen werde. Die Leute hier verstehen nichts von Kriegssachen; Ihr aber, Ihr seid Soldaten, Ihr versteht’s. Und was meint Ihr, wie geht es ihm in Rußland?“

„Nun,“ sagte Graff, „es geht ihm wohl so gut, wie es Einem in Feindes Land gehen kann.“

„Feindes Land?“ lächelte die Alte, „Du bist ein närrischer Mensch; mein Wilhelm ist keines Menschen Feind; das ist ein gutes Kind, mein Wilhelm, und das werden sie ihm überall ansehen. Er ist ja auch nur mitgegangen, weil er hat mitgehen müssen, sonst hätten sie ihn erschossen. Da habe ich selbst gesagt: Wilhelm, gehe lieber mit, Du wirst schon wieder gesund und frisch heimkommen. Gut werden sie auch überall gegen ihn sein. Warum sollten sie nicht? Ich bin ja auch gut gegen die Soldaten. Immer wenn Soldaten kommen, behandele ich sie, als wären’s meine Söhne. Ich muß ja heimzahlen, was man anderwärts für meinen Wilhelm thut, und wenn man anderwärts hört, wie hier zu Lande die Soldaten gut behandelt werden, wie Kinder im eigenen Hause, wird man sie dort zu Lande auch so behandeln. Ist das nicht richtig?“

Wir nickten mit den Köpfen, denn Keiner von uns war im Stande, ein Wort hervorzubringen. Die Alte fuhr fort: „Na, und wenn er morgen nicht kömmt, so kommt er gewiß, wenn Friede ist. Nach der Schlacht bei Leipzig sagten sie hier, daß nun gewiß Friede wird, aber das war wohl nicht der rechte Friede? Ihr müßt ja das verstehen als Soldaten.“

„Nein,“ sagte Helffreich, „das war nicht der rechte Friede!“

„Das sage ich auch. Mit dem rechten Frieden kommt mein Wilhelm gewiß. Ach Gott!“ rief sie und sah uns dabei mit glückseligem Gesichte an, „wie mir das wohl thut, einmal so recht über diese Dinge zu sprechen, so recht verständig und mit Leuten, die sich darauf verstehen.“

Sie nickte uns voll Liebe zu und sah Einen nach dem Andern schweigend an, immer lächelnd, ohne zu bemerken, daß uns die Augen voll Wasser standen und daß es uns schwer war, ihren Blick auszuhalten. Nach einer langen Pause erst legte sie das Gesicht in beide Hände und sagte: „Wenn nur erst der rechte Friede käme! – Ja, der Napoleon! Wozu macht man denn alle die Kriege? Der rechte Friede, wenn nur erst der rechte Friede käme! So immer zu warten, das könnte Einen ganz krank machen. Es ist ein rechtes Elend!“

Helffreich stand auf und holte eine kleine Bibel, die er immer mit sich führte, setzte sich der Alten gegenüber und begann mit lauter Stimme aus dem Buche Tobias zu lesen: „Und Tobias sprach zu ihr: Schweige und sei getrost! Unserem Sohne geht es, ob Gott will, wohl, er hat einen getreuen Gesellen mit sich.“

„Sie aber wollte sich nicht trösten lassen und lief alle Tage hinaus und sah auf alle Straßen, da er herkommen sollte, ob sie ihn etwa ersähe.“

Die Alte erhob ihren Kopf aus den Händen und sagte: „Das ist ein tröstliches Buch, das Buch Tobias!“ – Und ehe Helffreich weiter lesen konnte, sagte sie auswendig: „Hanna aber saß fast täglich am Wege auf einem Berge, daß sie könnte weit um sich sehen. Und als sie an dem Orte nach ihm sähe, ward sie ihres Sohnes gewahr von ferne und kannte ihn von Stund’ an –“

Darauf sagte sie mit zitternder Stimme den Lobgesang her, und wir sahen mit Staunen, das sie das ganze „tröstliche Buch“ Tobias auswendig wußte. Sie nahm Helffreich die Bibel aus der Hand, legte sie vor sich nieder, zog das Licht näher, legte die Stirn in beide Hände und begann zu lesen und vergaß uns und die ganze Umgebung. Es wurde spät; sie las noch immer. Wir schlichen uns vom Tische, legten uns, müde vom Ritte, auf unsere Lager und schliefen längst den festen Schlaf der Jugend, als sie noch da saß und im tröstlichen Buche von der Wiederkehr des geliebten Sohnes las.

Am anderen Morgen war sie wieder eine gute Bäuerin, wie viele andere. Sie wirthschaftete in Haus und Hof umher und sorgte dafür, daß uns nichts fehle. Aber Nachmittags war sie wieder verschwunden. Wir stiegen Einer nach dem Andern einen Theil der Treppe hinauf, so daß nur der Kopf über den Boden des Speichers hervorragte, und sahen uns die Mutter Lene an, wie sie ruhig, unbeweglich dasaß und der Straße, die nach Osten führte, entgegensah. Wir schlichen wieder fort, ohne sie zu stören, und unwillkürlich gingen wir während des Nachmittags in den unteren Räumen des Hauses auf den Fußspitzen umher, als wäre ein Kranker im Hause oder als würde eine heilige Handlung vorgenommen.

In später Dämmerung erschien sie wieder und murmelte: „Er ist nicht gekommen; nun, er wird wohl morgen kommen; gewiß, er wird morgen kommen.“

So verging ein Tag um den andern; jeder Tag sah sie um dieselbe Zeit auf ihrem Warteposten; jeder Tag brachte uns dieselbe mütterliche Pflege von ihr. Nach und nach bekamen wir vor ihrem heiligen Wahnsinn eine solche Scheu, daß wir die Stunden, die sie vor der Dachluke zubrachte, auf unseren Pferden im freien Felde verweilten, um während dieser Zeit dem Hause und ihr die ganze ungestörte Ruhe zu lassen. Auch ritten wir immer nach der entgegengesetzten Seite der Landstraße, gegen Westen, da es uns etwas unheimlich gewesen wäre, unter diesem starren, concentrirten Blicke der wartenden Mutter hinzureiten oder gar vor diesem Blicke wie ein Hinderniß zu erscheinen.

So vergingen nahe an zwei Wochen, bis wir Befehl erhielten, uns wieder auf den Weg zu machen, und zwar Frankreich zu. Mutter Lene füllte uns noch alle Taschen mit Lebensmitteln, und in der innersten Seele gerührt nahmen wir Abschied. – „Schade,“ sagte sie, „daß Ihr nach der Seite reitet und nicht nach der anderen; da wäret Ihr vielleicht meinem Wilhelm begegnet. Na, wenn Ihr aus Frankreich zurückkommt, haltet Euch nur hier auf, da werdet Ihr ihn schon kennen lernen und sehen, daß es ein so stattlicher Soldat ist, wie Ihr.“

Wir versprachen, auf unserem Rückwege, wenn nur irgend möglich, gewiß wieder bei ihr einzukehren, und ritten unter ihren Segenswünschen und von ihrem Lächeln begleitet davon, Frankreich und dem Feinde entgegen.




Wir hielten Wort. Die Schlachten auf französischem Boden waren geschlagen, der Friede war seit mehreren Monaten geschlossen, und wir ritten als Sieger mit glücklichem und gehobenem Gefühl der Heimath zu. Wir kamen wieder nach Westphalen; aber wir sollten diesmal eine andere Straße reiten. Doch nahm man es mit uns Freiwilligen, die wir halb und halb schon entlassen waren, nicht so genau und man erlaubte uns, einen Umweg zu machen, der uns gestattete, die alte Mutter Lene wieder zu sehen. Wir hatten uns vorgenommen, mit einem der damaligen Sieges- und Freiheitslieder in den Hof einzureiten; aber wir hatten die Zeit schlecht bemessen und es war schon ziemlich spät am Nachmittage, also um die Zeit

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