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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Die Abreise war auf acht Uhr Abends, unmittelbar nach dem Retraiteschuß, der von den Gefangenen auf der Königsinsel abgefeuert ward, festgesetzt, aber schon lange vor dieser Stunde war Alles bereit.

Wir beschlossen endlich, nicht erst auf den Signalschuß zu warten, sondern lösten schon um sieben Uhr, als es dunkel genug geworden war, das Seil, an welchem unser Floß noch festgebunden war, und stießen ab. Alle unsere auf der Insel zurückbleibenden Freunde kletterten an den Felsen hinauf, um uns mit ihren Blicken zu folgen, denn der Mond schien ziemlich hell.

Unsere Fahrt ging ungemein rasch von statten. Der Wind wehete gerade aus der günstigen Richtung und die Ruder waren beinahe überflüssig, dennoch aber waren wir froh, einen ehemaligen Schiffer von der Loire unter uns zu haben, welcher mit einem seltenen Grade von Muth, Kraft und Geschicklichkeit das Steuerruder führte. Die Nacht verging weder besser noch schlimmer, als wir erwartet hatten. Die Nächte sind in diesem Klima ungemein kalt, und die über uns hinwegschlagenden Wogen und die hinter ihnen herheulenden Windstöße trugen eben so wie die Seekrankheit viel zur Entkräftung von Leuten bei, die noch keine andere Seereise als die von Toulon nach Guyana gemacht hatten.

Als die Sonne aufging, sahen wir uns in dem Golf von Sinamari, wir hatten folglich in einer einzigen Nacht eine Strecke zurückgelegt, welche gewöhnlich zwei Tage in Anspruch nimmt.

Das zweite Floß, welches uns anfänglich innerhalb Rufweite gefolgt war, hatte sich mehrmals beklagt, daß es zu schwer beladen sei. Auch hatte es gleich nach dem Abstoßen Beschädigungen erlitten, deren Folgen verderblich sein konnten. Allmählich blieb es immer weiter hinter uns zurück, und gerieth wahrscheinlich aus Mangel an geeigneter Führung in eine Strömung, die es nach dem Lande zurücktrieb.

Am dritten Tage unserer Reise sahen wir Land in einer Entfernung von zwei bis drei Meilen. Was es aber für eins war, vermochten wir nicht zu errathen. Einige von uns sagten: „Es ist das holländische Gebiet, wir müssen den Maroni passirt haben.“

Der Maroni ist ein Fluß, welcher die französischen Besitzungen von den holländischen trennt.

Die Anderen behaupteten das Gegentheil und verlangten, daß man weiter in’s hohe Meer hinaussteuere. Mittlerweile legte sich der Wind. Eine Strömung trieb uns nach der Küste, wir mußten rudern und zwar kräftig. Fünf oder sechs von uns hatten die Seekrankheit auf eine so fürchterliche Weise, daß sie nicht im Stande waren, ein Ruder zu führen. Unsere Ruder – wir hatten deren fünfzehn – waren nicht die leichtesten, denn ihre Länge betrug nicht weniger als vierzehn Fuß. Man ruderte den ganzen Tag stehend und überwand die Strömung glücklich. Keine Stunde ward versäumt, und diejenigen von uns, welche nicht rudern konnten, gaben ihren Cameraden zu trinken.

Gegen sechs Uhr Abends erhob sich der Wind wieder. Unser Schiffer von der Loire war keinen Augenblick von seinem Posten gewichen, konnte aber jetzt vor Müdigkeit und Schlaf nicht mehr stehen und vertraute das Steuerruder einem Freunde an. Wir befanden uns, ohne es zu ahnen, dicht vor der Mündung des Maroni, und der Hülfssteuermann verfolgte eine so verkehrte Richtung, daß wir uns mitten in der Nacht plötzlich kaum fünfzig Schritt weit von dem französischen Grenzposten La Mana sahen. Die Soldaten kamen an den Strand geeilt.

„Hierher, Freunde, hierher!“ schrieen sie, indem sie Fackeln brachten und uns winkten, zu landen.

Diese Ueberraschung nach einem so mühevollen Tagewerke war eine sehr schmerzliche.

„Rudert zu, rudert zu!“ schrie unser alter, in dem Augenblick erwachender Schiffer, indem er aufsprang und sich wieder an’s Steuer stellte. Der Wind war gut und wir griffen kräftiger als je wieder zu den Rudern, aber die Fluth stieg und die Hände der Ruderer waren nur noch eine einzige offene Wunde.

Endlich ward das Licht das Fackeln schwächer, verschwand dann ganz, und nach einer Stunde war das Floß wieder zwei Meilen von dem Gebiete des Kaisers von Frankreich und aller Cayenne’s entfernt. Wir waren einer großen Gefahr entronnen.

Am nächstfolgenden Tage konnten wir bei Eintritt der Ebbe der Strömung folgen, welche uns nach dem Lande zutrieb, und es dauerte nicht lange, so stieß unser Floß an das holländische Ufer der Flußmündung.

Kaum waren wir an’s Land gestiegen, als eine Schaar Indianer auf uns zukam. In jedem andern Lande hätte unsere äußere Erscheinung uns gegen Diebe sicher gestellt. Die Leute aber, welche hier mit Bogen und Spießen bewaffnet auf uns zukamen, waren noch weniger bekleidet als wir. Zwei von uns traten vor, um mit den Wilden zu parlamentiren, und man wußte sich von beiden Seiten verständlich zu machen. Wir setzten den Indianern unsere Lage und unsere Absicht auseinander, und die Indianer antworteten, daß wir auf diesem Ufer nicht sicher wären, weil die Franzosen uns hier noch verfolgen könnten, und es in der Umgegend keinen holländischen Posten gäbe, der uns in Schutz nehmen könne. Deshalb riethen sie uns, zu Lande nach dem fünfundvierzig Stunden entfernten Paramaribo zu gehen.

Leider hatten wir bis jetzt erst den angenehmsten Theil unserer Reise zurückgelegt. Fünfundvierzig Stunden in dieser gefährlichen Wüstenei zurückzulegen, um Paramaribo zu erreichen, war keine kleine Aufgabe, aber wir ließen uns dadurch nicht entmuthigen. Nachdem wir gegessen und einige Stunden ausgeruht hatten, machten wir uns auf den Marsch. Jeder von uns trug ein Packet, welches Papiere, Wäsche und einige Brodrinden enthielt. Nachdem wir ungefähr vier Wegstunden zurückgelegt, waren wir am Saume eines Waldes von Wurzelträgerbäumen angelangt, die den Namen davon haben, daß ihre Aeste sich in den Boden senken, frische Wurzeln treiben und auf diese Weise ein fast undurchdringliches Dickicht bilden. Die Menschenhand allein vermag hier nicht Bahn zu brechen, sie bedarf auch der Axt dazu.

Dennoch drangen wir in den Wald hinein. Wir schlichen mehr, als wir gingen. Es muß in diesen Wäldern giftige Reptilien aller Art geben, aber daran dachten wir nicht. Niemand wurde gestochen. Die große Gefahr lag übrigens auch nicht hierin, sondern in dem trügerischen Aussehen des Bodens, der mit einer Art ziemlich verlockenden Mooses bekleidet war, welches einen immer flüssiger werdenden zähen Schlamm bedeckte. Wir mußten ganz leicht auftreten und die Füße schnell weiter fortsetzen, wenn wir nicht in diesen schwarzen Leim einsinken wollten, und der Wald ward immer undurchdringlicher.

Wir sahen ein, daß wir ohne Hoffnung auf Rettung unser Leben auf’s Spiel setzten, und beschlossen daher, wieder umzukehren. Wir hatten schon früher gehört, daß mehrere unserer Unglücksgefährten, nachdem sie glücklich von den Inseln entronnen waren, in diesen entsetzlichen Wäldern dennoch einen schauderhaften Tod gefunden hatten.

Die Ermüdung machte ohne Zweifel auch bei uns den Tritt schwerer, den Gang langsamer und deshalb auf diesem zitternden Schlamme die Gefahr drohender. Ich fühlte, wie meine Füße mit jedem Schritte tiefer einsanken, und sah den Augenblick kommen, wo es mir unmöglich sein würde, mich auf ein Bein zu stützen, um das andere herauszuziehen, und wo ich dann mit beiden Beinen zugleich einsinken würde. Dies geschah auch. Plötzlich stand ich mit beiden Beinen bis über die Kniee im Schlamm und fühlte mich mit furchtbarer Schnelligkeit noch tiefer einsinken, gerade als ob mich Jemand bei den Füßen gezogen hätte. Der Schlamm ging mir bis an den Gürtel. In meiner Todesangst faßte ich den nächsten Baumast und zog mich mit der räthselhaft riesigen Kraft der Verzweiflung heraus, während ich meine Stiefeln, einen Theil meines Beinkleides und die Haut meiner Beine in dem zähen Moraste zurückließ. Wäre der rettende Ast nur um einen Fuß weiter von mir entfernt gewesen, so hätte das entsetzlichste aller Gräber sich über mir geschlossen.

Jetzt fiel uns ein, was wir einmal den Gouverneur und den Admiral hatten sagen hören, als der Erstere dem Letzteren vorstellte, daß es wohl nicht gerathen sein dürfte, uns auf unserer Insel ohne strenge Bewachung zu lassen.

„Die Gefangenen werden entwischen,“ sagte der Gouverneur.

„Thut nichts,“ entgegnete der Admiral; „wir wissen ja, daß sie in dem Schlamme und in den Wurzelträgerwäldern ihren unvermeidlichen Tod finden müssen.“

Diese Aeußerung brachte uns jetzt, in Verbindung mit der von uns gemachten Erfahrung, auf die gegründete Vermuthung, daß man unsere Flucht gewissermaßen begünstigt habe, um uns dem Tode desto sicherer in den Rachen zu jagen. Diejenigen unserer Unglücksgefährten, welche sich geweigert, unserem Fluchtunternehmen sich anzuschließen, hatten sich ebenfalls in diesem Sinne ausgesprochen und meinten überdies, es sei jedenfalls besser, ruhig und geduldig auszuharren.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_367.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2023)