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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

der Literatur bewandert, so kommt ihm jene Stelle aus dem Dante: „Dies ist die Stadt der Qualen und Verdammniß“ in den Sinn, und über jeder Thüre der zusammengeschichteten Häuser glaubt er zu lesen: „Laßt alle Hoffnung hinter Euch!“ Diese Häuser! Aus allem Material der Welt sind sie zusammengebaut, aber die wenigsten aus wirklichem Baumaterial und die seltensten gebaut. Cigarrenkistendeckel sind verhältnißmäßig noch ein höchst solider Stoff für die Verkleidung der Wände, häufig sieht man dazu blos Kattun benutzt, und zwar nach der Straße heraus; Schilf vertritt, in starke Bündel zusammengebunden, die Stelle der Balken, und ist das allgemeine Deckmittel. Nur einige Hauptgebäude sind theilweise aus gebrannten Steinen errichtet, die von fern her eingeführt werden mußten; selbst die Moschee ist zur größeren Hälfte aus weiß übertünchten Bretern zusammengeschlagen. Schiffstrümmer bilden einen Hauptbestandtheil der Bauten, und manches merkwürdige Gallionbild schaut aus ganz ungewöhnlicher Ecke in das tolle Treiben ringsum. Die Hauptstraße besteht nur aus zwei langen Reihen solcher Baracken, aber dieselben sind gefüllt mit Menschen bis in die entlegensten Winkel, und ein unbeschreibliches Gewühl, ein ohrvernichtendes Schreien, Singen, Lachen, Pfeifen, Rufen, Musiciren betäubt zugleich mit der sonderbar parfümirten Atmosphäre den Fremdling. Jedes Haus ist zugleich ein Laden und eine Schenke und eine Spielhölle.

Handwerker, friedliche Bürger, Familien gibt es hier nicht, aber alle rohen Genüsse des Lebens werden dem Einwohner geboten. Allein dieser will auch um Alles in der Welt nicht dauernd hier bleiben, ihn fesselt nur die Erwerbgier oder die Noth, welche gewöhnlich gleichbedeutend ist mit dem Arme der Gerechtigkeit. Hier ist der Auswurf von ganz Europa zusammengeflossen: entflohene Matrosen, gejagte Seeräuber, entsprungene Galeerensträflinge, Mörder, die sich vor dem Gesetz oder der Blutrache verbergen, Spieler, welche allüberall anderswo zu sehr gekannt sind, Deserteure, Gauner jeder Art und Kategorie – sie finden Alle hier ein sicheres Asyl unter türkischer Oberhoheit. Denn man braucht Menschen, und diese verdienen ein fabelhaftes Geld.

Seitdem der Getreidehandel der unteren Donauländer sich regelmäßig organisirt hat, ist die Menge der Schiffe, welche in die Sulina einlaufen, ungemein groß; sie zählt nach Tausenden. Die meisten davon müssen mehrere Tage, wenn nicht Wochen, vor der neuen Stadt liegen bleiben; der Matrose findet hier die erste Gelegenheit, sein Geld los zu werden. Kommen die Fahrzeuge von Ibraila, Galatz, Tuldscha mit Getreide beladen zurück, dann können sie gewöhnlich, weil sie für das Meer, nämlich mit scharfem Kiel und Tiefgang gebaut sind, die gefährliche Barre der Sulina nicht passiren, welche meistens nur 7–8 Fuß Wasser hat und blos Schiffen von höchstens 300 Tonnen und mit platten Böden die Passage erlaubt. Die Capitaine sind daher gezwungen, ihre Ladung zu löschen und sie mittelst Leichtern über die Barre hinaus zu befördern. Da finden denn genug Hände Arbeit und hohen Verdienst. Unter einem Ducaten täglich ist selten ein Kornträger zu haben; in Perioden des Arbeitermangels oder der Anhäufung von Schiffen, die nach Beförderung drängen, steigt aber manchmal der Taglohn auf 6 Ducaten und mehr. Und wer heute die sechs Ducaten in der Tasche hat, der rührt gewiß nicht eher einen Getreidesack an, bis sie rein alle geworden sind, was freilich häufig in einer kurzen Stunde der Fall zu sein pflegt. Dazu kommt neuerdings der Zusammenfluß von Menschen durch die Etablirung der Donaucommission, den Beginn der Stromregulirung, die Station türkischer, englischer und französischer Kriegsschiffe, und die Rast der Dampfboote der österreichischen, russischen und französischen Gesellschaften – lauter Elemente, aus welchen ein wogendes Leben und Treiben ununterbrochener Aufregung zusammenschießt.

Alle Nationalitäten sind hier vertreten[WS 1]. Türken von jedem Kaliber und in jeder Tracht, besonders viele Bulgaren und Albanesen; Inselgriechen und Ionier, Malteser, Egypter, Neger, Armenier, Serben, Moldavaner, Wlachen, Russen treiben sich in dichtem Gewühl durcheinander; dazwischen geht breitspurig, Arm in Arm, eine Kette englischer Matrosen, mit fabelhaft übergelegten, blauen, weiß besetzten Hemdkragen, kurzen Jacken und Wachstuchhüten, die so weit als möglich im Nacken sitzen; dort eine Gruppe französischer Seeleute, welche mit Bewunderung den Künsten eines tanzenden Affen zusehen, den ein kleiner Tunese in fast paradiesischer Tracht umherführt; hier die gesetzten, ernsten illyrischen Matrosen der Donaudampfer vor dem lockenden Tisch des Polentakochs; dann ein Trupp türkischer Linie von der Fanalwache; geschäftige Kleinhändler mit angehängten Kästen voll unnützen Tandes, orientalischer Abkunft, wie überall in der Welt; halbnackte Bessarabier mit Körben trefflicher Kirschen; zerlumpte Zigeuner und zahllose abenteuerliche Gestalten, von welchen auch der geübteste Kenner nicht zu behaupten vermag, weß Landes, leicht aber, weß Geistes Kinder sie sind. Alle Sprachen schwirren durcheinander, aber die allgemeine Sprache des Handels und der Conversation ist die italienische, die Lingua franca, wie im ganzen Orient; ein Ueberbleibsel der Herrschaft der Republiken Genua und Venedig über das Mittelmeer und seine Grenzländer. Ein ohrbetäubendes Geräusch durchschwirrt die ganze Stadt. In die heiseren Töne der Ausrufer aller möglichen Comestibilien mischen sich die eintönigen Klänge der Guzla, in die wilden Gesänge berauschter Seeleute das „Guarda“ der Lastträger, wenn sie Jemandem einen Balken auf die Brust gestoßen haben; ein melancholischer Drehorgelmann ergeht sich halb schlafend in seinem Melodienzauber, der leider alle Augenblicke einmal abschnappt, Folge einiger geplatzter Pfeifen seines Kastens, welchen nichts desto weniger die griechischen Schiffsjungen umstehen, wie das achte Weltwunder; von der Landung erschallt das „Hoi, hüahoi“ der Matrosen an der Schiffswinde; Teller klappern, Gläser klingen, die schmutzigen Marqueure schreien wie Besessene, Flüche der Spieler, Gekreisch von Papageien, Rollen von Billardbällen und Kegelkugeln, Heulen zahlloser Hunde, manchmal ein Schuß aus der Pistole eines Uebermüthigen – Alles das vereinigt sich zu einem unbeschreibbaren Ganzen.

Wer Nationen und Charaktere studiren will, der wende sich hierher. Welcher Unterschied! Dort die ernsten, stillen Türken, mit gekreuzten Beinen unbeweglich auf der niedrigen Pritsche sitzend, welche den Divan vorstellt, nur von Zeit zu Zeit thun sie einen tiefen Zug aus dem Nargileh, behalten den Rauch minutenlang in sich und lassen ihn dann mächtig hervorquellen, selten den trockenen Gaumen erfrischend mit dem köstlichen, dicksatzigen Trank der Levante aus den winzig kleinen Obertassen; hier eine Gruppe italienischer Marinari, die im leidenschaftlichsten Moraspiel die Hände durcheinanderwerfen, als gehörten sie ihnen nicht; ein zerlumpter bulgarischer Bettler, welcher mit tausend Bücklingen und Händekreuzen vor der Brust eine Gabe erfleht; dort ein berauschter Aethiope, der, von wildem Beifall angefeuert, mit schäumendem Mund und hervorgequollenen Augen sich in seinem Grotesktanze dreht, bis er niederbricht; ein griechischer Pope mit langem Bart, der den hohen Rohrstock mit regelmäßiger Bedächtigkeit vor sich niedersetzt und escortirt wird von einem Gefolge strenggläubiger Schiffer, welche seine staubige Soutane küssen, und ihm gegenüber ein halbnackter Derwisch, fußlange Stahlnadeln durch die mit Eisenplatten bedeckten Brustwarzen gebohrt. Wie in einem verzauberten Land aus Tausend und Einer Nacht wähnt man zu wandeln, der Kopf schwindelt, fieberisch kocht das Blut, als sei die allgemeine Aufregung ansteckend. Hier sieht man die ganze Welt, wie sie der Kalif im Krystall erblickte; nur zwei ihrer wichtigsten Insassen fehlen – Polizei und Weiber! Aber in einem solchen Flibustierlager ist kein Platz für Beide. In der ganzen Stadt Sulina mögen keine zwanzig Frauen existiren, und die da sind, gingen des Namens längst verlustig. Einige alte Vetteln unsauberster Art sieht man an den Schenktischen hantieren, hier und da, aber sehr selten, auch ein jüngeres Wesen, das der Kleidung nach dem weiblichen Geschlechte anzugehören scheint; ein Bild von diesen Töchtern der Sünde zu geben, dazu fehlen alle Farben. Während wir die lange Hüttenzeile der Stadt durchschritten, konnten wir nur zu deutlich gewahren, wie hier das Weib betrachtet wird. Die Damen unserer Gesellschaft waren das Ziel der allgemeinen Aufmerksamkeit, es bildete sich förmlich eine Gasse, um solch’ eine ungewohnte Erscheinung zu begaffen; wenn wir auch die sich kreuzenden Rufe und Bemerkungen nicht verstanden, so doch wohl die brennenden Blicke, die unzüchtigen Gebehrden. Umkehren durften wir nicht, denn Mutlosigkeit solchem Gesindel gegenüber ist der Anfang zum Verderben; aber manche Hand griff doch fester nach der verborgenen Waffe, und zitternd, nicht wagend, die Blicke vom Boden zu erheben, eilten die uns anvertrauten Reisegefährtinnen dahin in unserer möglichst dicht geschlossenen Mitte.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_383.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2023)