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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 28. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Volkesstimme.
Criminalgeschichte von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Die Dunkelheit des Abends war vollständig eingetreten. Man konnte nicht einmal jene hohe Baumgruppe mehr sehen, an der wir aus der Heide herauskommen mußten. Daß wir noch in der Heide waren, nur das war uns klar. In der weiten, menschenleeren, wüsten, mit Finsterniß bedeckten Heide. Was nun? Ich sprang zuerst auf und half dem Kutscher auf sein gesund gebliebenes Bein. Aber was weiter? Er mit seinem lahmen Beine und ich mit meinem lahmen Arme konnten den Wagen nicht einmal aufheben, um weiter zu kommen. Hätten wir es aber auch gekonnt, ein Rad war und blieb gebrochen.

„Hole der Teufel diese verdammten Wege!“ fluchte der Kutscher.

Hole der Teufel etwas Anderes, hätte ich fluchen mögen; aber mit Fluchen richtet man in solchen Situationen nichts aus. Und ich dachte plötzlich auch nicht mehr daran.

Ein leichter Schritt wurde in der Heide hörbar. Er kam nicht näher, er schien sich vielmehr von uns zu entfernen, hinter uns, auf der andern Seite des Walles, über den wir gestürzt, und des Grabens, in den wir nicht hineingestürzt waren. Man sah Niemanden. Wer konnte in diesem Augenblicke an uns vorübergehen, sich fast an uns vorbeischleichen, uns in unserer Lage hülflos lassen? Es war zwar finster in der Heide, aber zu hören war unser Unfall selbst in weiterer Ferne gewesen, als jene Schritte sich befanden! Selbst der Heidemann mit den Siebenmeilenstiefeln wäre da wohl an uns herangekommen, wenn auch nur aus Neugierde. „Heda,“ rief ich. „Hierher, guter Freund! Hier ist Noth, hier ist Hülfe nöthig.“

Einen Augenblick noch glaubte ich, den leichten, flüchtigen Schritt weitergehen zu hören. Dann hielt er an, wandte um und kam auf uns zu.

„Sie haben einen Unfall gehabt?“

Es war die Stimme des Mannes, der uns vorhin den rechten Weg gezeigt, den der alte, kleine Bauer nach der allgemeinen Volksstimme als einen Verbrecher, als den Urheber der vielen in der Gegend verübten Diebstähle bezeichnet; den auch ich in dem schönen Gesichte das Kainszeichen hatte tragen sehen, jenes eigentliche Kainszeichen, das man sieht, von dem man aber nichts weiter sagen kann; der ein Fremder hier war; der die aller Welt unbekannte Sprache redete. Er sah völlig so finster aus, wie früher; aber er sah mich nicht mehr lauernd an, wie vorher; verdächtig gleichwohl wahrlich nicht minder. Es lag eine so sonderbare Befriedigung in den finsteren, unheimlichen Gesichtszügen, als er meinen verstauchten Arm und das verrenkte Bein des Kutschers gewahrte. Mir wollte in der That unheimlich werden in dieser Nähe. Der Kutscher war an meine Seite gehinkt. Ihm schienen die Zähne zu klappern.

Der Fremde besah den Wagen. „Sie können mir wohl nicht helfen, ihn aufzurichten?“ fragte er dann den Kutscher.

„Mein Bein –“ stotterte dieser.

Ich wollte ihm helfen.

„Es ist nicht nöthig,“ gab er mir zur Antwort, und er hatte rasch den Wagen schon aufgerichtet. Er mußte eben so viel Kraft, als Geschick und Gewandtheit besitzen. „Das linke Vorderrad ist entzwei,“ sagte er dann. „Haben Sie einen Strick im Wagen?“

„In dem Sitzkasten unter dem Bock,“ sagte der Kutscher.

Er hatte den Sitzkasten schon geöffnet, nahm den Strick heraus, der darin lag, und nach wenigen Minuten war das zerbrochene Rad leidlich zusammengebunden.

„So, Herr, jetzt kann der Wagen wieder weiter, aber nur zur Noth, nur im langsamen Schritt, bis zum nächsten Hause, wo man dann weiter sehen muß.“

„Ist ein Haus in der Nähe?“ fragte ich.

„Eine Viertelstunde von hier.“

„Können Sie uns hinführen?“

„Warum nicht?“

„Wären Sie so gut?“

„Gern. – Nur,“ fuhr er dann fort, „werden Sie den Weg neben dem Wagen zu Fuße machen müssen. Ihren Kutscher, der nicht gehen kann, wird der Wagen wohl noch tragen.“

„Es sei so.“

Wir hoben Beide den Kutscher in den Wagen; er nahm die Zügel der Pferde, die Peitsche des Kutschers und trieb die Pferde an. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich ging neben ihm her. Wir fuhren und gingen in unserer bisherigen Richtung weiter. Nach einiger Zeit gewahrte ich die Baumgruppe, die er uns schon vorher als den Punkt bezeichnet hatte, an dem wir aus der Heide herauskommen mußten.

Wir waren auf einer befahrenen Straße, die durch Feld und Wald führte. Ich glaubte mich zu erinnern, daß wir auch am Morgen auf dem Hinwege hier gefahren waren. Ich mußte mich aber auch erinnern, daß die Gegend völlig menschenleer gewesen war und daß ich weit und breit kein Haus bemerkt hatte.

Wir konnten eine Viertelstunde gefahren sein.

„Kommen wir bald an ein Haus?“ fragte ich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_393.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)