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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Jahren auch Lothringen zu. Aber jeder Machtzuwachs, den Frankreich erhielt, war ein schwerer Verlust für Deutschland, und allemal wurde er gegen dasselbe gebraucht. Denn was war die Folge? Die edle Republik, die völkerbefreiende, uneigennützige, menschenfreundliche, riß 1801 das ganze Land an der linken Seite des Rheines ab, dann kam der Rheinbund, dann wurde die französische Grenze, die „natürliche“, über Belgien, Holland, die Ems-, Weser- und Elbmündungen bis nach Lübeck an der Ostsee ausgedehnt. So sentimental und sympathieenfreundlich sind die Franzosen von jeher gewesen. Warte nur ab, wie es der „Befreier“ in Italien treibt, wenn ihm nicht ein Riegel vorgeschoben wird!

Aber von allen Verlusten, die wir durch die Uneinigkeit und Schwäche unserer paar hundert souveränetätsschwindelkranken Fürsten erlitten haben, ist kein einziger so beklagenswerth und nachtheilig, wie jener des Elsasses. Nicht nur, daß wir unsere allerherrlichste Landschaft und Vorburg einbüßten, sondern unser Reichsbollwerk Straßburg ist zu einem Pfahl in unserem Fleische geworden. Den dürfen wir nicht stecken lassen.

Das Elsaß! Es ist im dreißigjährigen Kriege, im westphälischen Frieden vom Reich abgetrennt worden, zu welchem es von Anfang der Geschichte an gehört hat. Das sind für Deutschland die Folgen der kirchlichen Zänkereien gewesen, der dogmatischen Streitigkeiten, der abscheulichen Religionskriege, des überwuchernden Pfaffenthums, das so viel Unheil über die Völker gebracht hat. Beim Keifen über „himmlische Dinge“ ging uns unsere irdische Macht, Größe, Blüthe, gingen Wohlstand und Bildung verloren, und unsere Nachbarn vergrößerten sich auf unsere Kosten.

Als schon das Elsaß der französischen Macht gehorchen mußte, blieb doch die alte Reichsstadt Straßburg noch länger als dreißig Jahre bei Deutschland. Aber kein Tag verging, an welchem Ludwig der Vierzehnte nicht Ränke gesponnen hätte, um dieses deutsche Juwel seiner wälschen Krone einzuverleiben.

In meinem nächsten Briefe erzähle ich Dir, wie Straßburg durch innern Verrath und Schwäche des von den Türken bedrängten Kaisers an den Erbfeind kam. Es ist eine lehrreiche und spannende, aber traurige Geschichte, aus der wir auch heute noch Nutzen ziehen können.




Englischer Nationalstolz und englisches Vorurtheil.[1]


Ich glaube nicht, daß jemals ein Fremder London besucht hat, an den nicht zwanzig Mal die Frage gerichtet worden wäre: „Wie gefällt Ihnen England?“ Mich erinnerte diese Frage immer an die stereotypen Worte der Zollbeamten: „Haben Sie nichts Verzollbares bei sich?“ Wehe dem Fremden, der nicht seine unbedingte Bewunderung für englische Zustände und englisches Leben an den Tag legt! Englische Gastfreundschaft duldet Alles eher, als die Contrebande der leisesten Kritik.

Welche Zugeständnisse man auch immer dem nationalen Bewußtsein eines Volkes machen mag, – dieses nationale Bewußtsein muß doch immer gewisse Grenzen einhalten, wenn es nicht Gefahr laufen soll, lächerlich zu werden. Die Engländer – ich sage es unumwunden – treiben den Nationalstolz bis an die äußerste Grenze, sie sind Carricaturen des Nationalbewußtseins; ihre Unwissenheit rücksichtlich der continentalen Zustände, ihre durch nichts begründete systematische Geringschätzung für alles Nichtenglische muß sie in den Augen jedes Fremden, der ein unabhängiges Urtheil mit sich führt, lächerlich erscheinen lassen. Als ich vor etwa zwanzig Jahren Paris besuchte, richtete ein Mann, welcher der besseren Gesellschaft angehörte, die sonderbare Frage an mich: „Haben Sie viele Wölfe und Bären in den Umgebungen Wiens?“ Ich hatte alle Mühe, den Mann zu überzeugen, daß Wien südlicher liege als Paris. Er hatte sich nun einmal ein bestimmtes Bild von der Hauptstadt Oesterreichs gemacht, und die „Barbaren des Nordens“ waren bei ihm zur fixen Idee geworden. Die Römer nannten alle Nichtrömer „Barbaren“. Die Engländer nennen jeden Fremden „Frenchman.“[WS 1]

In einem der fashionablen Pensionate für junge Mädchen wurde durch eine der Lehrerinnen an meine Tochter die Frage gerichtet: „Tragen denn die Frauen in Deutschland auch Hüte?“ und ein englischer Reisender, dessen Reisebeschreibung ich kürzlich las, behauptete, von Deutschland und der Schweiz sprechend: Jeder Engländer, welcher Deutschland bereise, möge sich ja gewiß mit Seife versehen, da dieser Gegenstand dort nirgends zu finden sei. Vom Rheinwein sprechend, sagte derselbe englische Semilasso, es sei dieses Getränk ungefähr dasselbe, wie der englische Cider. Es ist eine Thatsache, daß in einem der anständigsten Stadttheile Londons ein Deutscher von der ganzen Nachbarschaft für verrückt gehalten wurde, weil er, wie man sagte, einen eigenen Menschen gemiethet hätte, der täglich seine Kleider durchprügeln müsse. Erst in der neuesten Zeit, etwa seit der großen Industrieausstellung, haben sich die Engländer mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß es auch ganz anständige Leute geben könne, die nicht das Glück haben, Briten zu sein.

Ein Pröbchen von der an Wahnsinn grenzenden englischen Arroganz mag die nachfolgende Stelle liefern, welche ich aus dem Leitartikel eines der einflußreichsten und verbreitetsten englischen Organe hiermit wörtlich ausziehe:

„Was die continentalen Regierungen immer gewinnen oder verlieren mögen, das kann unsere nationale Wohlfahrt in keiner Weise berühren. Die Unterthanen jener Regierungen sind zu arm und zu unwissend, zu unterdrückt und zu elend (miserable), um von den Schöpfungen unserer Industrie erheblichen Nutzen zu ziehen. Innerhalb der engen Umzäunung ihres Monopolsystems sind sie auf den Verbrauch der plumpen Erzeugnisse ihrer verstandlosen Arbeit angewiesen. Die englischen Fabrikate sind viel zu prachtvoll und kostspielig, als daß sie selbst den reichen Classen des Continentes zugänglich sein könnten, während unsere wohlfeileren Erzeugnisse, Dank sei es der Unwissenheit continentaler Staatsökonomen, zu einem Preise bei ihnen verbreitet werden mögen, welcher augenblicklich all’ ihre Mühlen und Factoreien zum Stillstande bringen würde.“

Die deutschen Industriellen, die in London factische Siege errungen haben, mögen aus diesem Pröbchen ersehen, welche Schätzung deutscher Industrie in England zu Theil wird, und die Deutschen überhaupt mögen endlich einsehen lernen, daß der maßlosen Selbstüberschätzung der Engländer gegenüber deutsche Bescheidenheit und immerbereite mundaufsperrende Bewunderung alles Ausländischen keine andere Folge haben kann, als wohlverdiente Geringschätzung von Seiten eines hochnäsigen Volkes, dessen Hauptverdienst, in der Nähe betrachtet, hauptsächlich nur in der Beherrschung des Geldmarktes liegt.

Ich will diese Anschauungsweise durch ein Beispiel illustriren. Der Eisenmanufactur steht eine große Umwälzung bevor, und es ist nicht unmöglich, daß wir vielleicht in wenigen Jahren nicht mehr auf Eisenschienen, sondern auf Stahlschienen reisen werden. Die directe Production von Stahl aus Roheisen ist nämlich in England der Gegenstand verschiedener Patente geworden, und in diesem Augenblicke sind zwei der größten Eisenmanufacturgeschäfte Englands, nämlich „The Mersey Steel and Iron Company in Liverpool“ und „Thomas Firth und Sons in Sheffield“, in einem erbitterten Kampfe begriffen. Jedes dieser Etablissements arbeitet auf ein anderes Patent hin – aber sie beschuldigen sich gegenseitig der Verletzung ihrer Patente und processiren. Ist diese Reform einst erfolgreich und herrschend in die Eisenmanufactur gebracht, so wird sich die englische Nase wieder hoch erheben und, wie in dem eben angeführten Auszuge, von den prachtvollen englischen Fabrikaten und von den plumpen Erzeugnissen verstandloser continentaler Industrie sprechen, und Niemand wird widersprechen und der bewundernde deutsche Anglomane wird wieder den Mund weit aufsperren, niedergeschmettert von englischer Größe, und wird ausrufen: „Herrliche Nation!“ Wer sich aber näher erkundigt, der kann erfahren, daß das große Eisenetablissement in Liverpool auf das Patent eines Deutschen hin arbeitet, Namens Riepe, und daß die große Firma in Sheffield sich auf das Patent eines Erfinders stützt, der zufällig wieder ein Deutscher ist, Namens Krupp. Außer diesen beiden Patenten soll, wie ich höre, noch ein drittes vorhanden sein, das sich in der Stahlerzeugung mit 50% Ersparniß bewährt, und dieses dritte Patent gehört zufällig wieder einem Deutschen, Namens Bessemer. Die plumpen und

  1. Nicht von unserm bekannten permanenten Londoner Mitarbeiter.   D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Tranchman
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_403.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2023)