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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

verstandlosen deutschen Industriellen haben also, wie es scheint, Ideen, welche der englische Säckel zur Ehre und zum Gedeihen des „glorious England“ auszubeuten weiß. Ich hatte das Vergnügen, einige der Repräsentanten deutscher Journalistik im Jahre der großen Industrieausstellung in London zu sehen, und ich muß bekennen, daß ihre maßlose Bewunderung für alles Englische mich mit Erstaunen erfüllte. Ich konnte den Muth und die Andacht, mit welcher diese an bessere Kost gewöhnten deutschen Michel die halbrohen englisch-karaibischen Steaks verschluckten, nicht genug bewundern, und hörte mit Erstaunen, wie sich diese Herren „Reporter“ nannten, und wie ihr drittes Wort „Gentleman“ und „ladylike“ war. Einer dieser Herren rief auf einmal in meiner Gegenwart begeistert aus: „Und der herrliche Thee, den man in London trinkt!“ – und als ich ihm die Versicherung ertheilte, daß man in London bekanntlich den schlechtesten Thee trinke, da die systematische Wholesale-Verfälschung desselben sprüchwörtlich sei, – beschuldigte mich dieser würdige Freund einer an Wahnsinn grenzenden nervösen Gereiztheit und stärkte sich selbst und seine Begeisterung mit einer Flasche jenes verrufenen Höllengebräues, das man in London „Cape-wine“ oder „South african“ nennt, und dessen Wirkung mich hoffentlich an dem unverbesserlichen Anglomanen gerächt haben wird. Diese von mir mit Zuversicht vorausgesehenen Folgen des herrlichen südafrikanischen Weines waren aber nicht überzeugend genug für einen begeisterten Deutschen, und ich hatte gar bald Gelegenheit, mich hiervon zu überzeugen.

Als ich denselben „German Reporter“ später bei einer damals in der italienischen Oper gastirenden deutschen Sängerin wieder fand, hatte ich Gelegenheit, die deutsche Manie des Verblüfftseins in noch weit lächerlicherer Weise dargelegt zu sehen. Die erwähnte Sängerin hatte gleich nach ihrer Ankunft in London für’s Erste eine jener halbcomfortablen meublirten Wohnungen gemiethet, wie man sie im Westende zu Hunderten bereitstehend findet, um die Zeit zu gewinnen, sich nach einer wirklich anständigen Behausung umzuthun. Der Vermiether jenes Absteigequartieres war der Besitzer eines Schuh- und Stiefellagers in der Regent Street, der sowohl en gros als auch im Detail mit dieser Waare Handel trieb und wohl schon manche Schiffsladung nach Australien oder Ostindien geschickt hatte. Mein deutscher „Reporter“ hob voll Begeisterung ein Ende des Tischteppichs vom Rundtische, auf welchem der Thee servirt war, und rief mit Emphase: „Welch’ ein Land! Ein Schuster besitzt Meubles von Mahagoni!“ – So lange die Deutschen sich in solcher Weise im Auslande lächerlich machen, kann man nicht verwundert darüber sein, daß das civilisirteste Volk der Welt über die Achseln angesehen wird. Die Deutschen haben es durch ihren Mangel an Würde und Nationalbewußtsein schon so weit gebracht, daß das Land der Quäker und Unitarier und Wiedertäufer und Methodisten es wagt, sich über deutsches Wissen und deutsche Philosophie lustig zu machen. So fand ich neulich in einem Leitartikel die nachfolgende Stelle:

„Europa hat von Deutschland nichts gelernt, als einen groben Materialismus, umgeben von Bierschaum und Meerschaumpfeifenrauch. Die deutsche Philosophie ist nichts, als eine ungeheuere Olla-Potrida von englischem und schottischem Sensualismus, französischem Skepticismus, orientalischem Mysticismus und mittelalterlichem Dogmatismus.“

Das war mir denn doch ein bischen zu arg, und obgleich ich mich bisher von allen journalistischen Controversen in England fern gehalten hatte, glaubte ich doch, in diesem Falle für mein deutsches Vaterland eine Lanze brechen zu müssen, – um so mehr, als jener alberne Leitartikel sich in einem der verbreitetsten und accreditirtesten Tagesblätter befand. Ich wählte ein vielgelesenes englisches Witzblatt und ließ folgende Erklärungen einrücken:

„Einer der geistreichen Leitartikel des „Daily Telegraph“ sagt:

„Europa hat von Deutschland nichts gelernt, als einen u. s. w.

(folgt die obige Stelle.)

„Die unterzeichneten deutschen Philosophen benutzen die gastlichen Spalten des „Town Talk“, um hiermit im Namen sämmtlicher Philosophen Deutschlands zu erklären, daß sie nie in englischem oder schottischem Sensualismus gemacht haben und daß ihnen dieser Artikel gänzlich unbekannt ist.

„Im Namen jener deutschen Schriftsteller, welche mehr oder weniger mit Philosophie zu thun hatten.

Erklärung.

„Wenn der Unterzeichnete hätte ahnen können, daß seine Erfindung dazu mißbraucht werden könnte, sein Vaterland zu verleumden, so würde er sich mit einem Patente versehen haben.

Johannes Guttenberg, 
Unpatentirter Erfinder der Buchdruckerkunst.“     
Erklärung.

„Ja, der grobe Materialismus mit Rauch, der den Engländern in Indien eben jetzt so gute Dienste geleistet hat, ist eine deutsche Erfindung.

Berthold Schwarz, 
Unpatentirter Erfinder des Schießpulvers.“     
Erklärung.

„Ich kann nur für meine deutsche Uebersetzung einstehen.

Dr. Martin Luther, deutscher Reformator.“     

„O! Wenn ich das Pericranium dieses englischen Leitartikelschreibers nur für eine halbe Stunde besitzen könnte!

Dr. Gall, Erfinder der Phrenologie.“     

„Die Gesichtszüge dieses Mannes müssen höchst merkwürdig sein!

Lavater.“     

Das englische Witzblatt nahm meine Einsendung mit Dank auf, ich hatte die Lacher auf meiner Seite, und jener hochweise Verächter deutschen Wissens und deutscher Philosophie gab kein weiteres Lebenszeichen von sich.

Im Savage-Club, der nur von Schriftstellern und Künstlern gebildet ist, hörte ich einst den mit Recht populär gewordenen Humoristen Georges Augustus Sala behaupten: Die Deutschen besäßen Humor, aber Geist und Witz fehle ihnen gänzlich, wenn man etwa Goethe ausnehmen wolle. Als ich kurz darauf von Börne sprach, bemerkte ich zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß unter allen anwesenden englischen Schriftstellern auch nicht Einer war, der diesen Namen jemals gehört hatte. Ich nahm mir die Freiheit, dem geistreichen Herrn Georges Augustus Sala zu bemerken: Daß man es billiger Weise der deutschen Literatur nicht zur Last legen könne, wenn sie den Engländern unbekannt sei.

Es versteht sich wohl von selbst, daß meine Bemerkungen über die Einseitigkeit und Hochnäsigkeit englischer Anschauung dem Continente und insbesondere Deutschland gegenüber sich nur auf die Allgemeinheit beziehen und Ausnahmen nicht ausschließen. So ist es z. B. nicht zu leugnen, daß namentlich in den höheren Ständen vorurtheilsfreie Würdigung der Vorzüge deutscher Bildung und deutschen Wissens nicht eben zu den Seltenheiten gehört; aber im Allgemeinen leben die Engländer unstreitig in jener glückseligen Selbstüberschätzung, die unseren Weltkörper zum Paradiese der Dummköpfe macht. Ein nicht zu übersehender Umstand ist es, daß Englands hervorragende Geister häufig das Thema, das ich eben berührt, mit furchtloser Offenheit besprochen haben, wie z. B. Dr. Johnson, Lord Byron und in neuerer Zeit Bulwer. Aber die große Phalanx der englischen Schriftsteller, besonders der neueren, scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, den Nationalvorurtheilen und der Eitelkeit der Massen zu schmeicheln. Mag man einen Roman oder ein Zeitungsblatt zur Hand nehmen, mag man ein Gedicht lesen oder ein Drama ansehen, – überall findet man das „England for ever“, überall findet man das „Rule Britannia“. – Was würde ich darum geben, könnte ich den zehnten Theil des Ueberschusses an Nationalbewußtsein, der die Engländer zu Carricaturen macht, an mein deutsches Vaterland übertragen, das durch diesen Bruchtheil zum Selbstbewußtsein befördert würde!

Nichts kann bezeichnender und zugleich lächerlicher sein, als der Umschwung, der neuerlich in dem Tone stattgefunden hat, welchen die englischen Zeitungen, Deutschland betreffend, angeschlagen haben. Noch vor Kurzem las man von dem machtlosen, von allen Seiten bedrohten, armen, zersplitterten, gewichtlosen Deutschland und von seinen lächerlichen Armeen, aus drei Generalen und zwanzig Mann bestehend, von den liliputanischen Duodezstaaten und dergleichen. Nun aber Deutschland in preiswürdiger Uebereinstimmung sein mächtiges Gewicht in die europäische Wagschale legt und dem gekrönten Abenteurer über den Alpen die Zähne zeigt, ist plötzlich Alles anders, und die Exchange-Politiker des stolzen England fangen an, die runden Zahlen, welche Deutschland in’s Feld zu stellen vermag, mit Wohlgefallen zu betrachten. Und was sagt das englische Orakel, das Idol der modernen Römer, die papiergewordene englische Unfehlbarkeit – die Times? Sie sagt, daß England von seinem erhabenen Standpunkte aus in Ruhe zusehen solle, wie sich zu seinem Wohle und Gedeihen Frankreich und Oesterreich gegenseitig aufzehren gleich jenen beiden Wölfen, von welchen nichts übrig blieb, als zwei Schwänze. Wer die Moral einer solchen politischen Anschauung erwägt, muß von der maßlosen Bewunderung englischer Größe geheilt werden, und wäre er selbst ein deutscher „Reporter“!



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