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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 29. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Volkesstimme.
Criminalgeschichte von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Nach Besichtigung des Fensters stieg ich mit dem Bestohlenen die Treppe hinab, um die Oeffnung unter dem Scheunenthor in Augenschein zu nehmen; sie war, wie derselbe sie beschrieben hatte. Ein Mensch konnte durch sie bequem ein- und auskriechen. Und doch waren mir auf einmal Zweifel aufgestiegen. Ich kann nicht sagen, wie und wodurch zuerst. Aber als sie einmal da waren, wurde ich mir ihrer Gründe wohl bewußt.

Der Diebstahl war mit großer Verwegenheit und hartnäckiger Ausdauer, aber auch mit sehr großer Vorsicht und nur von einem Menschen ausgeführt, der genau im Hause Bescheid wußte, der namentlich sowohl dessen innere Einrichtung, wie das Vorhandensein und den Ort der Aufbewahrung des Geldes kannte. Ein solcher Dieb hätte nun aber auch meine Anwesenheit im Hause und in der Stube wissen müssen und unzweifelhaft sein Verbrechen auf eine andere Zeit verschoben. Sodann, wie kam der Bestohlene dazu, sein Geld, jene bedeutende Summe, sein gesammtes Erspartes, anstatt unten in seinem Wohn- und Schlafzimmer, hier oben in der unbewachten Kammer zu verwahren? Endlich, warum hatte er jenes Stillschweigen über das Verbrechen von mir gefordert? Der Diebstahl war also von ihm fingirt, vorgespiegelt? Die gefundenen Spuren waren von ihm selbst gemacht? Auch ein Grund dafür ließ sich, wie ich meinte, leicht auffinden.

Heimann, der angeblich Bestohlene, war in verbrecherischer Absicht während der Nacht an meiner Thür gewesen, hatte aber seinen Zweck nicht erreicht; er konnte, ja mußte sogar vermuthen, daß ich das Geräusch gehört und dadurch Verdacht geschöpft haben mußte. Um nun meinen Verdacht auf eine falsche Bahn zu lenken, hatte er den Diebstahl erfunden. Freilich war sein Benehmen so natürlich. Aber trug er nicht das Kainszeichen im Gesichte? Und vor Allem, wenn er wirklich nach der allgemeinen Volksstimme der gefürchtete freche und listige Dieb war, konnte er ein besseres Mittel erdenken, den gegen ihn herrschenden und ihm sicher nicht unbekannten Verdacht mit einem Male und für immer von sich abzulenken, als indem ich fast der Augen- und Ohrenzeuge eines gegen ihn mit großer Verwegenheit und List verübten Diebstahles werden mußte? Das allein, ohne daß ich irgend weiter die Absicht eines Verbrechens gegen mich anzunehmen brauchte, konnte erklären, warum er mich in sein Haus geführt und die Nacht dort gehalten hatte. Ich durfte ihn von meinen Zweifeln, von meinem Verdachte nichts merken lassen. Nur die behutsamsten, von Gericht und Polizei gemeinsam und gleichzeitig zu bewirkenden Nachforschungen konnten, wenn mein Verdacht ein gegründeter war, zur Ermittelung der Wahrheit führen. Nur eins mußte ich ihn fragen, um nicht durch zu große Zurückhaltung meinerseits in ihm Verdacht zu wecken.

„Sie baten mich vorhin, den Diebstahl geheim zu halten.“

„Ich bitte Sie noch darum.“

„Sie wissen, wer ich bin?“

„Sie sind der Herr Criminaldirector – Ihr Kutscher hat es mir gesagt.“

„Aber vermöge meines Amtes darf ich Verbrechen nicht verbergen.“

„Ich will Sie auch nur bitten, ungefähr acht Tage lang die Sache zu verschweigen.“

„Könnten Sie mir den Grund sagen?“

Er besann sich. Dann sagte er: „Ich habe eine Vermuthung, wer der Dieb ist, wer alle die anderen Diebstähle in der Gegend verübt hat. Dieser Diebstahl hat mich auf einmal darauf gebracht. Gestern Abend in der Heide, als Sie den Unfall halten und ich an Ihnen vorbeieilen wollte, war ich schon auf einer Spur –“ Er brach plötzlich ab. Dann fuhr er fort: „Aber ich darf Ihnen nicht mehr sagen. Nur ich allein kann den Dieb entdecken und überführen und zugleich wieder zu meinem Eigenthume kommen, jeder Andere würde mir Alles verderben; auch die Polizei und die Gerichte. Glauben Sie mir das. Lassen Sie mich daher allein handeln, nur die acht Tage lang. Ich bin ein ruinirter Mann, wenn ich mein Geld nicht wieder bekomme. Und nur ich allein kann es mir wieder verschaffen, wenn kein Mensch weiter von dem Diebstahle erfährt. Meine Leute wissen noch nichts und werden auch nichts erfahren.“

Er sprach so wahr und überzeugend, daß ich mir beinahe über meinen Verdacht gegen ihn Vorwürfe machte. Ich versprach ihm, acht Tage lang den Diebstahl geheim zu halten und keine amtlichen Schritte in der Sache zu thun. Wie die Sache stand, konnte ich das, ohne, nach aller Wahrscheinlichkeit, ihr erheblich zu schaden. Jedenfalls war es mir eine Gewissenssache, auf einen durch keine Thatsache unterstützten Verdacht hin dazu beizutragen, daß der Mann nicht wieder zu seinem Vermögen komme. Ich that nur noch eins. Die Fußspuren unter dem Fenster, von denen er gesprochen Halle, mußten nach acht Tagen verwischt sein. Auf sie konnte gleichwohl Vieles ankommen. Ich ging in den Garten, sie zu besichtigen. Ich fand sie unter dem Fenster. Jemand war dort hin- und hergegangen. Aber der Dieb, oder wer es sonst gewesen sein mochte, war auch hier vorsichtig gewesen. Die Spuren waren, und zwar unzweifelhaft absichtlich, so verwischt, daß man ihre Beschaffenheit unmöglich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_409.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)