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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

den Saum des Rockes dessen umfaßten, an den ihre Bitten gerichtet waren. – Das Bild des litthauischen Verbrecherpaares stand wieder vor mir. Und diese schöne, unglückliche Frau mit dem blassen, leidenden Gesichte, mit dem tiefen Schmerze, mit der Todesangst um den Mann, gehörte zu dem Paare? – O doch, auch ihre Angst ergriff mich. Ich ließ sie sich setzen. Sie mußte mir dann erzählen.

Ihr Mann hatte ihr den Diebstahl mitgetheilt. Er hatte ihr auch anvertraut, daß er auf Jemanden Verdacht habe, und ihr diesen genannt. In dem Kirchdorfe, zu dessen Kirchspiele auch der Hof ihres Mannes gehörte, wohnte schon seit acht bis neun Jahren ein alter Mann, von dem es hieß, daß er früher in dem Nachbarlande einen bedeutenden Holzhandel betrieben und dabei viel Geld verdient habe, und der sich in das Dorf zurückgezogen hatte, um dort seine alten Tage in Mühe zuzubringen. Er lebte ganz allein in einem kleinen Hause, das er sich in einer abgelegenen Gegend des Dorfes gekauft hatte. Er war ein alter Junggeselle, der wenig zugänglich, aber dennoch im Dorfe beliebt war, weil er der regelmäßigste Besucher der Kirche war, den Armen Gutes that, gegen mäßige Zinsen Gelder auslieh und Schuldner nicht drückte. Er hieß Keller. Diesen Menschen hatte ihr Mann wegen des gegen ihn verübten Diebstahles in Verdacht.

Das schleichende Wesen des Menschen, der Niemandem in die Augen sehen konnte, war ihm schon lange aufgefallen; er hatte es in Verbindung gebracht mit den vielen Diebstählen, die seit einem halben Jahre begangen waren. Er hatte ihn beobachtet, um so mehr, als es ihm nicht entging, daß er selbst, Heimann, für den Urheber dieser Diebstähle gehalten werde, und als ihm der Gedanke kam, jener möge seine, des Fremden, Ankunft in der Gegend benutzt haben, um verdachtlos endlich wieder zu einem Gewerbe zu greifen, das er wahrscheinlich schon vor Jahren im Auslande getrieben, und mühsam genug so manches Jahr seitdem hatte unterlassen müssen. Schon mehrere Tage vor dem Diebstahl hatte er den Mann am Abend in der Umgegend seines Hofes umherschleichen sehen; er hatte ihn jedoch nicht mit voller Sicherheit erkannt. Dasselbe war am Abend vor dem Diebstahl der Fall gewesen. Er hatte ihn in der Heide gesehen, unweit des Weges, der von dem Kirchdorfe nach der Bauerschaft führte, in welcher der Heimann’sche Hof lag. Um sich zu vergewissern, daß er sich nicht irre, hatte er, ehe der Andere ihn bemerken konnte, rasch einen Seitenweg eingeschlagen, der ihn Jenem gerade entgegenführen mußte.

Auf dem Wege hatte ich ihn angerufen, und um mir Hülfe zu leisten, hatte er seine weitere Verfolgung aufgegeben.

In der Nacht war er bestohlen. Nur Keller konnte nach seiner Meinung der Dieb sein, er mußte diesen entdecken, er mußte wieder zu seinem Gelde kommen. Wie das anfangen?

Bei Tage saß der fromme Mann Keller in der Kirche oder in seinem Hause und betete; bei Nacht mußte er also seinem Verbrechen leben.

Heimann begab sich jeden Abend in die Nähe des Keller’schen Hauses, und ließ dessen Ein- und Ausgänge die ganze Nacht nicht aus den Augen. Zwei Nächte hatte er vergeblich auf der Lauer gestanden, der Mensch hatte sich nicht sehen lassen, sich nicht gerührt, Haus und Umgebung waren still und dunkel geblieben.

Am dritten Abend war er wieder hingegangen. Es war am Abend vor dem Tage, an welchem die Frau bei mir war. Er war nicht zurückgekehrt. Aber schon früh am Morgen war die Gegend in einer eigenthümlichen Unruhe gewesen. Auch an dem Heimann’schen Hofe waren Menschen hin und her gerannt. Der Frau hatte sich eine große Angst bemächtigt. Es war ihr vorgekommen, als wenn die Menschen nach ihrem Hause, nach ihr so sonderbare Blicke richteten. Sie hatte ihre Leute ausgeschickt, sich zu erkundigen, was vorgefallen sei. Man habe in der Nacht im Dorfe einen Dieb, einen Räuber gefangen, war ihr berichtet worden, dann, an der Keller’schen Wohnung sei der Dieb gefangen, endlich, ihr Mann sei es. Ihr Mann habe in der Nacht dem Keller sein Hab und Gut stehlen wollen, dreihundert Stück Friedrichsd’or, die der alte brave Mann sich mühsam erspart und für seine alten Tage zurückgelegt habe. Aber Keller habe den frechen Räuber ertappt, mit ihm gerungen, um Hülfe gerufen und ihn gehalten, bis Hülfe gekommen sei.

Endlich habe man den verwegenen, gefährlichen Dieb und Räuber, der so lange die Gegend unsicher gemacht, so viele Verbrechen verübt, dem man so lange nachgespürt, dessen man nie habe habhaft werden können.

Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Nachbarschaft verbreitet. Von allen Seiten war man nach dem Dorfe zusammengelaufen. Alles war mit wüthender Freude über den Fang hingerannt. Im Zusammentreffen hatte Zorn und Wuth sich gesteigert. Man müsse sofort über den Verbrecher Gericht halten, die Strafe müsse auf der Stelle folgen; bei den Gerichten werde ein so schlauer und gewandter Verbrecher sich durchlügen. Eine vorläufige Freisprechung sei ja das gewöhnliche Ende der langwierigen, jahrelangen Untersuchungen gegen solche listige Diebe.

Der Fanatismus des Volkes ist leicht erregt, und Elemente und Gründe zu einer Lynchjustiz finden sich nicht blos in Amerika.

Heimann war in das Gemeindehaus des Dorfes gebracht. Der Schulze des Dorfes hatte ihn dort gleich anfänglich eingesperrt, bevor das Volk tumultuarisch geworden war. Er war dann darin belagert, man hatte sein Herausgeben verlangt, aber der Schulze hatte dieses verweigert.

Die unglückliche Frau war auf diese Nachrichten zu dem Dorf geeilt, und hatte vergeblich die Unschuld ihres Mannes betheuert. Man hatte sie nicht zu ihm lassen wollen, man hatte nur die Herausgabe des Räubers verlangt, um an ihm eine Strafe zu vollziehen, wie ein solcher Bösewicht sie verdiene.

In ihrer Angst hatte die Frau keinen andern Rath gewußt, als zu mir zu eilen. Sie war nach Hause zurückgekehrt, hatte einen Wagen anspannen lassen, und war zu mir herübergefahren. Sie bat mich, sie zu dem Dorfe zurückzubegleiten. Ich sei der Einzige, der ihren Mann retten könne. Ich wisse, daß ihr Mann nicht der Dieb, sondern der Bestohlene sei. Sie flehte mich an, ihn zu retten. Das waren die Mittheilungen, die Bitten der Frau.

Sie hatte Recht; ich konnte ihren Mann retten, ich mußte ihn retten, vollständig, wenn er wirklich der Bestohlene war, was ich jetzt leicht glaubte ermitteln zu können. Wenigstens vor der Wuth des Volkes, wenn ich auch nicht sofort seine Unschuld herausstellen konnte.

Ich fuhr auf der Stelle hinaus nach dem Dorfe. Bei dem Landrathsamte requirirte ich Gensd’armen, die meinem Wagen vorausreiten mußten, um möglich schon vorher weitere Excesse zu verhüten. Protokollführer und Executoren des Criminalgerichts nahm ich mit mir. Auch die Frau Heimann nahm ich mit. Die arme Frau war mit dem Kinde an der Brust auf einem offenen Leiterwagen gekommen. Es war regnerisches, stürmisches, rauhes Wetter. Ich ließ sie mit ihrem Kinde zu mir und dem Protokollführer in den Wagen steigen.

Ich zweifelte nicht, daß es mir gelingen werde, die Unschuld ihres Mannes in Beziehung auf den Diebstahl herauszustellen. Aber welche andere, größere, entsetzlichere Schuld mußte ich dennoch auf ihn werfen! Und nicht blos auf ihn! Auch auf die Frau, auf die unglückliche, jammernde, in ihrer Todesangst, den unschuldigen Säugling an der Brust, mir gegenübersitzende, schuldige Frau!

Ich konnte sie nicht ansehen, ohne daß ich selbst von einer Angst ergriffen wurde. War sie die Schuldige, die ich meinte, irrte ich mich nicht, so hatte sie, wie jung sie war, schon durch so manches Jahr in schweren Leiden sich hinquälen müssen, in Leiden eines brechenden Herzens, einer blutigen Schuld, einer furchtbaren Strafe, der Angst vor neuer Strafe, aus der es keine Erlösung gab. Und dieser neuen furchtbaren Strafe sollte ich sie dann unbarmherzig überliefern!

Und ich irrte mich nicht. Je mehr ich über Alles nachsann, über Vergangenes und Gegenwärtiges, über Entferntes und Nahes, desto gewisser, desto unzweifelhafter wurde es mir, daß ich mit meinen schrecklichen Vermuthungen auf einem dunkeln, aber richtigen Wege, auf einer blutigen, aber nicht auszulöschenden Spur war. –

Am 3. August 1828 war die Strafanstalt zu R. in Litthauen abgebrannt. Das Feuer war am späten Abend ausgebrochen und hatte plötzlich Alles in tiefem Schlafe überrascht. Mehrere Menschen, Gefangene, wie selbst Mitglieder der Familien von Beamten, die in der Anstalt wohnten, waren in den Flammen umgekommen. Noch schrecklicher hatten andere oben im dritten und vierten Stock eingesperrte Gefangene den Tod gefunden, indem sie in ihrer Todesangst vor den Flammen von da hoch oben sich aus den Fenstern gestürzt hatten, um unten in der fürchterlichen Tiefe zerschmettert zu werden.

Das Feuer war vorsätzlich angelegt, darüber blieb kein Zweifel. Aber wer war der Thäter? Man wußte es nicht. Die genaueste, die sorgsamste und unermüdlichste Untersuchung konnte es nicht ermitteln. Mancher Verdacht erhob sich, keiner konnte bestätigt werden.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_411.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)