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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

No. 31. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Börne’s Jugendliebe.
Von Max Ring.

Mit einem offenen Briefe in der Hand trat der praktische Arzt Marcus Herz in das Zimmer seiner Frau, welche wegen ihrer auffallenden Schönheit in Berlin bekannt war und allgemein gefeiert wurde. Auch in diesem Augenblicke, wo sie bereits ihr dreißigstes Jahr überschritten, gehörte sie noch zu den reizendsten Erscheinungen der Residenz. Die Zeit schien spurlos an ihr vergangen zu sein, und wenn man ihren schlanken, elastischen Wuchs, diese classischen Formen, die rosig angehauchten Wangen, das üppig dunkle Haar und besonders die hell wie Sterne leuchtenden Augen sah, so war man versucht, sie für weit jünger zu halten, als sie in der Wirklichkeit war. Trotz der Gewohnheit des Anblicks konnte der weit ältere Gatte sich dem überwältigenden Eindrucke dieser unvergänglichen Schönheit nicht entziehen, seine geistreichen, aber nichts weniger als schönen Züge belebten sich und über die gefurchte Denkerstirn glitt ein Strahl der Freude, welche jedes vollendete Werk der Kunst oder Natur in uns hervorzurufen pflegt. Wie gebannt blieb Herz in der geöffneten Thüre stehen, um sie nicht zu stören. Sie las und schien ganz versenkt in das Buch, welches sie in ihren Händen hielt. Es war dies „Werther’s Leiden“, das Evangelium der empfindsamen Herzen in jener Zeit. Ein Seufzer entrang sich der Brust der schönen Frau und in ihren strahlenden Augen schimmerte eine schnell wieder unterdrückte Thräne. Wer hätte sagen können, ob diese Zeichen der Trauer dem Helden des berühmten Romans oder ihrem eigenen Schicksale galten?

Henriette war die Tochter des jüdischen Arztes de Lemos und als ein Kind von zwölf Jahren nach der damaligen Sitte ihres Volkes mit dem fast dreifach so alten Doctor Herz verlobt. Ein Kind an Geist und Bildung, aber bereits in frühreifer Entwickelung des Körpers eine Jungfrau, reizend durch Schönheit und angeborene Anmuth kannte sie keinen anderen Willen, als den ihrer Eltern, die in patriarchalischer Weise über die Hand der unmündigen Tochter verfügten. Ihr genügte der Gedanke, daß sie jetzt geputzt an dem Arme ihres Bräutigams spazieren gehen und nicht mehr so früh aufzustehen genöthigt sein würde, um sie mit dieser Verbindung auszusöhnen. Sie hätte um diesen Preis den ältesten und auch häßlichsten Mann unter ihren Glaubensgenossen auf den Wunsch ihres Vaters geheirathet, wenn sie dadurch nur die Erlaubniß erkaufte, sich von einem Friseur ihr volles Haar ordnen zu lassen und ein neues, nach der letzten Mode gearbeitetes Kleid zu tragen; denn Henriette war, wie alle Töchter Eva’s, ein wenig eitel auf ihr hübsches Gesichtchen, dem nicht blos der Spiegel täglich Schmeicheleien sagte. Für ihren Verlobten empfand sie anfänglich weit mehr Respect, als Liebe; er galt für einen sehr gebildeten und sehr gelehrten Arzt, der sich bereits einer einträglichen Praxis zu erfreuen hatte. Wenn er mit seinen Krankenbesuchen fertig war, kam er jeden Abend in das Haus seiner Verlobten. Nie erschien er, ohne Henrietten ein interessantes Buch mitzubringen; er hatte dabei die Absicht, sich an ihr eine gebildete und für seine Stellung passende Frau zu erziehen. Dies gelang ihm auch ganz nach seinem Wunsche, da das junge Mädchen eben so geistreich und lernbegierig, als schön und liebenswürdig war. Sie machte die wunderbarsten Fortschritte, und der Lehrer durfte stolz auf seine talentvolle Schülerin sein.

Endlich, nach dreijährigem Unterricht, führte Herz seine Braut als Gattin heim; erst unter dem Trauhimmel und beim Wechseln der Ringe fühlte Henriette das ganze Gewicht des bedeutungsvollen Schrittes. Sie war die Frau eines weit älteren Mannes, den sie nur – achtete. – Aus der Beschränkung des elterlichen Hauses trat sie jetzt in eine ihr unbekannte und gefahrvolle Welt. Das Haus ihres Gatten wurde bald der Sammelplatz vieler geistreichen Männer, mit denen Herz durch ein gleiches Streben schon früher verbunden war. Berliner Notabilitäten, wie der Odendichter Rammler, der Professor Engel, der geniale Moritz, gehörten zu den Freunden des Hauses. Von dem Geiste des kenntnißreichen Arztes und der Schönheit seiner Frau angezogen, erweiterte sich dieser Kreis durch die Brüder Wilhelm und Alexander v. Humboldt, den verführerischen Gentz, den ritterlichen Grafen Dohna-Schlobitten, Friedrich Schlegel, den schon damals berühmten Schleiermacher und den liebenswürdigen Karl Laroche, den Sohn der bekannten Schriftstellerin, ein Apoll an jugendlicher Anmuth. – Es konnte nicht fehlen, daß diese meist jüngeren Männer nicht ungestraft sich der reizenden Herrin näherten; so Mancher von ihnen wurde von einer tieferen Leidenschaft ergriffen, unfähig, seine Flammen zu verbergen. Henriette war an derartige Huldigungen schon gewöhnt, und vielleicht schützte sie gerade das Bewußtsein ihrer siegreichen Persönlichkeit vor den vielfachen Versuchungen, denen sie ausgesetzt war. Einen besseren Anhalt fand sie jedoch in der patriarchalischen Sitte ihres Volkes, bei dem derartige Verirrungen der ehelichen Treue zu den Seltenheiten gehören, in der Achtung vor sich selbst und in dem rücksichtslosen Vertrauen ihres Gatten, der ihr in jeder Beziehung die vollste Freiheit gestattete.

Einen Ersatz für die Liebe, welche sie nur dadurch kennen lernte, daß sie Anderen diese Leidenschaft einflößte, bot ihr die Freundschaft mit den edelsten Geistern. Vor Allem

knüpfte sie mit dem berühmten Schleiermacher einen Seelenbund, der erst mit seinem Tode endete und unter allen Verhältnissen sich ungetrübt erhielt, als ein Beweis, daß auch zwischen Mann und Weib diese

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_437.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)