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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Die Aufregung, deren sie sich nicht zu erwehren vermochte, röthete ihre Wangen und verlieh ihren Augen einen höheren Glanz. Ihre Blicke ruhten voll Mitleid und weiblicher Theilnahme auf dem verirrten Jünglinge. Eine feierliche Würde schien sie zu umschweben und verlieh ihren sonst so freundlichen Zügen einen neuen, ungekannten Reiz. Nachdem sie den Thee nach ihrer Gewohnheit selbst bereitet und eingeschenkt, gab sie ihrer Schwester Brenna, welche zugegen war, einen Wink, worauf sich diese entfernte. Sie blieb mit dem Jüngling allein, der, von leisem Zittern ergriffen, kaum zu athmen wagte.

Tiefe Stille herrschte in dem Zimmer; sie selbst mußte erst nach Fassung ringen, ehe sie das wichtige Gespräch beginnen konnte.

„Louis,“ sagte sie nach einer erwartungsvollen Pause. „Ich habe den Brief gelesen, den Sie an mich in grenzenloser Verblendung geschrieben haben.“

„Und Sie zürnen mir nicht?“ fragte er erschrocken mit bebender Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Sie verstoßen mich nicht?“

„Ich hätte Ursache, Ihnen ernstlich zu zürnen, aber –“

Röthe und Blässe jagte über seine Wangen, wie Verzweiflung und Hoffnung in seinem Herzen mit Blitzesschnelle wechselten. Er war bei ihren Worten von seinem Stuhle aufgesprungen, bald aber wieder zurückgesunken, mit beiden Händen sein Gesicht bedeckend.

„Tödten Sie mich!“ rief er mit jugendlicher Schwärmerei. „Ich bin nicht mehr Werth, diese reine Atmosphäre mit Ihnen zu athmen!“

„Ich will Sie nicht tödten,“ antwortete Henriette mild, „sondern Sie heilen. Sie sind krank, mein junger Freund!“

„Zum Sterben krank!“ seufzte er tief.

„Glauben Sie mir, daß dies Uebel nicht unheilbar ist. Man stirbt nicht so schnell an gebrochenem Herzen, selbst wenn man auch ein Weib ist. Was ich aber einer Frau verzeihen kann, finde ich feig für einen Mann. Sie wollten Hand an sich legen. – Haben Sie auch daran gedacht, daß dieses Leben nicht Ihnen gehört?“

„Wem sonst?“

„Ihren Eltern, den Freunden, dem Staat und vor Allem der Menschheit.“

Bei diesen feierlichen Worten war Henriette aufgestanden; ihre schlanke Gestalt schien zu wachsen, ihre Züge leuchteten in überirdischer Glorie. Ihm war, da sie seine Hand ergriff, zu Muthe, als redete sein Schutzgeist mit ihm in dieser Stunde.

„Hören Sie mich ruhig an,“ fuhr sie mit gehobener Stimme fort. „Ich allein weiß, welch einen Geist Ihnen der Himmel verliehen. Ich glaube Sie richtiger zu kennen, als meine Freunde, als Sie selber sich kennen. Der Blick des Weibes sieht oft schärfer, als die meisten Männer; weil unser Horizont begrenzt ist und wir nicht in die Ferne schweifen, schauen wir klarer. Der Instinct des Herzens irrt oft weniger, als der sich überhebende Verstand, und die Liebe, ich meine jene göttliche Liebe, führt uns sicherer, als alle menschliche Klugheit. Darum hoffe ich mich nicht zu täuschen, wenn ich Ihnen eine große Zukunft prophezeie. Wollen Sie dieselbe einer thörichten Leidenschaft zum Opfer bringen, die noch dazu den Fluch des Lächerlichen an sich trägt? – Ihnen gegenüber bin ich eine alte Frau; ich könnte Ihre Mutter sein, wie ich eine solche Ihnen sein wollte. Sie selbst haben jenen Wahn mir benommen und das reine Verhältniß, von dem ich einst geträumt, zerstört. Sie haben mir einen großen Schmerz bereitet.“

„Können Sie mir verzeihen?“ fragte der Jüngling tief bewegt.

„Nur unter der einzigen Bedingung, daß Sie mir Ihr Wort geben, Ihrer thörichten Leidenschaft zu entsagen, daß Sie mir jetzt feierlich versprechen wollen, jeden ferneren Versuch gegen Ihr Leben für immer aufzugeben. Ich verachte den Selbstmord, weil er nur ein Beweis der moralischen Feigheit ist. Das Leben ist ein harter Kampf; nur erbärmliche Egoisten und Schwächlinge entziehen sich ihm, weil es ihnen an Muth gebricht. Ich habe Ihnen mehr Heroismus zugetraut.“

„Was soll aus mir werden?“ stöhnte Louis erschüttert, wenn auch noch nicht überzeugt.

„Ein Held des Geistes, der Kämpfer einer neuen Zeit. Sie werden diese Prüfung überstehen und als ein Mann daraus hervorgehen. Die Täuschung Ihres Herzens wird verschwinden und selbst der Schmerz, den Sie gewiß in diesem Augenblick empfinden, Ihnen zum Segen gereichen. Unter Leiden reift der Geist; er bedarf der Stürme, um festere Wurzeln zu schlagen. Ihr Talent wird sich entfalten, sobald Sie die träge Gefühlsschwärmerei von sich abstreifen; Ihr scharfer Witz wird, von der zurückbleibenden Wehmuth verklärt, sich zu einem milderen Humor gestalten, dessen weltbezwingende Macht Sie an sich selbst zunächst erproben sollen. Sie werden Ihre angeborene Kraft kennen, zu Ihrem eigenen und fremden Vortheil gebrauchen lernen. Dann kann die allgemeine Achtung und Anerkennung nicht ausbleiben. Mit Stolz werde ich mich selbst dieser großen Stunde erinnern, in der ich Sie der Welt erhalten und zurückgegeben habe.“

„Ich bin nicht ehrgeizig,“ antwortete der junge Mann mit trübem Lächeln.

„Aber Sie denken groß genug von der Menschheit, um für ihr Wohl zu leben und zu wirken.“

„Was kann ich für sie thun?“

„Kein Mensch ist so unbedeutend, daß er nicht eine Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen hätte. Jeder Sterbende hinterläßt eine Lücke, die freilich nur das Auge eines Gottes sieht. Deshalb darf Keiner von dem ihm anvertrauten Posten freiwillig weichen, bevor die Stunde der Ablösung geschlagen hat. Sie fragen, was Sie thun können? Sie sind Jude! – Wohlan! Kämpfen Sie gegen das Vorurtheil, womit seit Jahrhunderten der blinde Religionshaß unsere Glaubensgenossen verfolgt. Verbreiten Sie unter diesen selbst Bildung und Aufklärung, befreien Sie die doppelt Geknechteten von dem Joche der Tradition und der Sclaverei des Talmuds. Erwecken Sie den besseren Geist in ihnen, und öffnen Sie ihr am Schacher klebendes und nur den Gewinn suchendes Auge für die edleren Güter des Daseins. Als Deutscher fühlen Sie, wie ich, die Zerrissenheit des Vaterlandes, die Entartung und den Druck der Mächtigen, die dumpfe Verkommenheit des größten Volkes, das die Sonne je erblickt. Welch eine herrliche Aufgabe für den Mann, das Nationalbewußtsein zu erheben, den Despotismus zu bekämpfen, den Bürgersinn von Neuem zu beleben! – Die ganze Menschheit hat ein Recht auf Sie, und mahnt Sie durch meinen schwachen Mund, das Ihnen von Gott verliehene Pfund nicht zu verbergen, sondern in ihrem Dienste zu gebrauchen. Für Wahrheit, Recht und Freiheit werb’ ich Sie im Namen dieser Menschheit an!“

Unwillkürlich hatte sich der Jüngling auf ihre Hand gebeugt, welche sie segnend auf seinem Haupte ruhen ließ.

Als er sich erhob, war eine wunderbare Veränderung mit ihm vorgegangen. Er schien um Jahre älter geworden zu sein; diese Stunde hatte ihn zum Manne gereift. Unaufgefordert überreichte er ihr das Tagebuch, welches er auf seinem Herzen trug. Sie nahm es, und las nicht ohne tiefe Rührung die glühenden Geständnisse, die nach Henriettens eigenem Ausspruch an Innigkeit und wahrem Gefühl Alles übertrafen, was der später so berühmte Mann nachträglich geschrieben und veröffentlicht hat. Aus übertriebener Vorsicht übergab sie vor ihrem Tode diese kostbaren Blätter den Flammen, welche dieses unschätzbare Document unrettbar vernichteten.

Louis Baruch verließ nach jener nächtlichen Scene Henriette und Berlin, um seine Studien in Halle fortzusetzen. Sie selbst hatte ihn an den berühmten Reil dringend empfohlen, in dessen Hause er freundlich wie ein Verwandter aufgenommen wurde. Mit mütterlicher Zärtlichkeit sorgte sie auch aus der Ferne für ihn, wie ihr deshalb mit ihrem in Halle damals angestellten Freund Schleiermacher geführter Briefwechsel beweist. Fortwährend nahm sie den lebhaftesten Antheil an dem Schicksal des jungen Mannes, der in der That ihre Prophezeiungen zur Wahrheit machen sollte.

Erst nach einigen Jahren sah sie ihn in Frankfurt am Main wieder; er war indeß ein berühmter und allgemein bewunderter Schriftsteller, ein Kämpfer für Wahrheit, Recht und Freiheit geworden. Er hieß zwar nicht mehr Louis Baruch, da er zum Christenthum übergetreten war und bei der Taufe den Namen Ludwig Börne angenommen hatte; dieser Name aber hatte in Deutschland einen guten Klang und einen Ruf, der mit jedem Jahre immer höher und höher stieg.

Als Henriette ihm beim Wiedersehen die Hand reichte und ihm dabei einige schmeichelhafte Worte über sein Talent und seine Berühmtheit sagte, spielte ein eigenthümliches, halb wehmüthiges, halb scherzhaftes Lächeln um seine Lippen.

„Das Alles danke ich Ihnen,“ rief der große Humorist, „aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll. Der Preis, den ich dafür bezahlt, steht doch in keinem Verhältnisse zu dem, was ich damit gewonnen habe.“

Dabei küßte er die noch immer schöne weiße Hand der mütterlichen Freundin. Als sie dieselbe zurückzog, fühlte sie, daß eine Thräne darauf gefallen war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_440.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)