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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

„Lassen Sie mich – lassen Sie mich vergessen!“ rief ich und riß den Flügel auf. Ich spielte und spielte – und vergaß alles um mich. Seit Monaten hatte ich keine Taste angerührt. Erschöpft hielt ich inne.

„Was spielten Sie?“ fragte mich Harry, der während des Spieles eingetreten war.

„Wer nie sein Brod mit Thränen aß!“ antwortete ich düster.

„Das Lied ist schlecht!“ sagte heftig Harry.

„Dies Lied?“ fragte ich verwundert.

„Gott führt Niemand in Versuchung!“ antwortete Harry ernst.

„Teuflische Mächte lassen den Menschen schuldig werden, nicht die himmlischen. Doch das verstand Goethe nicht!“ fügte er hinzu. „Bitte, spielen Sie ein heiteres Lied, eines der schönen Liebeslieder.“

„Ich kann nicht mehr!“ sagte ich verstimmt und stand auf.

Harry schien unangenehm berührt, doch hatte er sich zu sehr in der Gewalt, um empfindlich zu werden. Er sprach mit meinem Freunde von der deutschen Lyrik, und dieser hielt ihm bald einen gelehrten Vortrag über Anakreon und seine Schule. Ich sah zum Fenster hinaus. Nur eine Aeußerung Harry’s fiel mir auf. Er ging bald, und ich fragte meinen Freund:

„Ist es wahr, daß Harry nie Wein getrunken hat?“

„Gewiß! Auch sein Vater trank nie Wein.“

„Dies nüchterne Geschlecht!“

„Wie falsch Sie urtheilen! Dieser junge Mann versagt sich den Genuß, weil er durch sein Beispiel dem Mißbrauche steuern will. Seine Beurtheilung des Goethe’schen Liedes, seine Mäßigkeit haben eine edle Quelle.“

Mein Freund hatte Recht, und der Amerikaner stieg in meiner Achtung. Ich spielte ihm gern vor, aber mein Spiel machte mich trauriger. Meine Arbeit als Hausknecht bildete einen zu schroffen Gegensatz. Er wurde mir unerträglich, da Harry durch eine Bemerkung darauf hinzudeuten schien.

„Eure Ideale sind Träumereien,“ sagte er. „Wir nehmen die Wirklichkeit, wie sie ist, und suchen sie zu veredeln; Ihr baut Euch Eure Ideale auf, um die Wirklichkeit, das Reelle zu vergessen, und kommt so stets in Zwiespalt mit der Wirklichkeit. Eure Fürsten sind überirdische Wesen, Eure Geliebten Engel, und findet es sich nun, daß sie nichts mehr und weniger sind als gewöhnliche Menschen, so ist Euer Unglück im Staate und Hause fertig. Mit unseren Zuständen könnt Ihr nun erst recht nicht zu Stande kommen. Es tritt Euch die krasse, ungeschminkte Wirklichkeit überall entgegen, und Ihr verzerrt unsere Zustände zum Ungeheuerlichen, weil Euch überall Menschliches begegnet.“

„Wir verstehen uns nicht!“ sagte ich.

„Lernen Sie uns erst kennen, dann werden Sie uns verstehen!“ sagte Harry mit Wärme. „Ich habe so heute eine Bitte an Sie. Meine Geschäft sind hier zu Ende. Ich will einen Jagdausflug machen, da könnten sie mich begleiten.“

„Ich bedaure, daß ich dazu keine Zeit habe,“ erwiderte ich.

„Nun, überlegen Sie es sich, übermorgen reise ich ab,“ sagte Harry, indem er sich empfahl.

„Gott sei Dank!“ rief mein Freund, „er wird warm! Menschenskind, Du wirst Dein Glück doch nicht mit Füßen treten?“

„Dein Herzog von Weimar, reizt mich nicht, jetzt aus dem Geschäfte zu gehen. Mein Herr will mich im Laden beschäftigen.“

„Liebster, bester Freund, nur jetzt keinen Eigensinn!“

„Ich muß an meine Zukunft denken und nicht an Jagdpartien!“

„Aber liebster Junge, Du bist ja in Amerika! Denken Sie sich nur nicht, daß ein Fürst Sie zu einer Jagdpartie einladet. Der könnte vergessen, daß Sie Hunger haben, aber ein Amerikaner vergißt das nicht. Er nimmt Sie in seinen Dienst! Bester, liebster Junge, Du bist aus aller Noth! Verlaß Dich auf mich. Wenn Du von der Reise zurückkehrst und Du sagst, Du willst ein Geschäft anfangen, so kannst Du über Tausende gebieten, und er steht unter Dir um seinem Credite. Willst Du eine Professur, Du kannst Dir das Collegium auswählen!“

„Ich weiß nicht –“

„Nur um das Eine bitte ich Dich: Noch keinen Entschluß!“ fuhr mein Freund fort. Und war es Eins, was mich in meinem Vorsatze schwankend machen konnte, so war es diese herzliche Dringlichkeit, die ihn sogar das Du und Sie in einem Athem verwechseln ließ. Ich sah wohl, er konnte Recht haben, allein dieser junge Mensch, dieser Kaufmann, dieser sollte über mein Schicksal bestimmen können? – es schien mir überspannt.

„Sprechen Sie mit Ihrem Herrn, und was der Ihnen räth, das thun Sie!“

„Das will ich!“

Am andern Tage ging ich zu meinem Herrn und fragte ihn, ob es noch sein Wille wäre, mich in sein Geschäft aufzunehmen.

„Ihr könnt die Stelle bekommen, aber erst in künftiger Woche.“

„Dann möchte ich Euch um Erlaubniß bitten, bis dahin eine Jagdpartie mitmachen zu dürfen.“ Mein Herr sah mich groß an.

„Seid Ihr Jäger?“

„Nein, ich bin nur eingeladen.“

„Da könnt Ihr machen, was Ihr wollt, aber Jäger kann ich in meinem Geschäft nicht gebrauchen.“

„So bleibe ich bei Euch, mir liegt nichts daran.“

Mein Entschluß schien ihm zu gefallen.

„Mann, wie kommt Ihr nur auf diesen Einfall?“ sagte er, indem er aufsah, denn bis jetzt hatte er mich kaum angesehen.

„Mr. Harry hat mich dazu eingeladen, und –“

„Wer?“ rief er erstaunt, und die Feder fiel ihm aus der Hand. „Mr. Harry von Harry und Comp., Mr. Harry, den kennt Ihr?“ und er sah mich an, als wenn ich ein Wunderthier wäre.

„Ja, Mr. Harry von Harry und Comp.“

„Den kennt Ihr? Der hat Euch eingeladen? Und Ihr wollt die Einladung nicht annehmen?“

„Wenn Ihr es nicht erlaubt, daß ich so lange aus dem Dienste trete –“

„Ich, es nicht erlauben, Mann! Wo denkt Ihr hin? Könnt gehen, wenn Ihr wollt, könnt kommen, wenn Ihr wollt. Ein Freund von Mr. Harry ist mir immer eine Ehre –“ Er wäre noch lange fortgefahren, wenn ihm nicht Bedenklichkeiten aufgestoßen wären. „Und wovon kennt Ihr ihn?“ Mit dieser Frage machte er sich Luft.

„Ich lernte ihn bei meinem Freunde, dem Professor, kennen.“

In diesem Augenblicke fuhr ein Wagen vor, und Mr. Harry, Chef des Hauses Harry und Comp., trat in das Comptoir.

Von einer äußern Devotion war keine Spur zu merken. Harry hatte mir die Hand geschüttelt, dann sie meinem Herrn gegeben, der mit aller Ruhe von seinem Sessel gestiegen war, aber es war doch zu merken, daß etwas Außerordentliches sich ereignete. Keine Feder rührte sich, man hörte kaum den Athem.

Die geistige Ueberlegenheit Harry’s erkannte ich hier erst auf seinem Boden. Hier war er zu Hause, über diese Menschen hatte er Gewalt. Er schien überrascht, mich noch in meinem Arbeitscostüm zu finden, noch mehr, daß ich um Erlaubniß und daß ich eben erst darum gebeten. Er wandte sich aber mit aller Herzlichkeit zu mir und sagte deutsch:

„Wir werden uns schon verstehen! Fahren Sie mit zu mir, ich habe schon für Alles gesorgt, es ist die höchste Zeit, daß Sie sich zur Reise vorbereiten.“

Ich war so überrascht, daß ich an meinen Anzug nicht dachte und ruhig stehen blieb.

„Wie steht’s Geschäft?“ fragte Harry.

„Es geht, nur fehlt die Waare.“

„Weiß wohl! Habe noch für Euch fünfhundert Centner. Habt bei mir ein Conto.“

Das waren zwei Prisen auf einmal. Aber der Amerikaner kam nicht außer Fassung.

„Sehr wohl, Mr. – Notiert’s, John,“ wandte er sich zum ersten Commis. Nur ich sollte die Nachwirkung erfahren, denn auf den Wink des Herrn hatte es der zweite Commis nicht unter seiner Würde gehalten, mir Rock und Hut zu holen, wofür ihm auch ein anerkennendes Nicken von Harry wurde – so gut als eine Stelle in dessen Comtoir, wohl nächst dem eigenen Geschäft das Ideal des armen Burschen.

Ich saß im Wagen bei Harry und hatte meine Gedanken noch nicht gesammelt.

„Sie fahren mit zu mir, ich muß Sie erst mit meiner Schwester bekannt machen,“ sagte Harry.

„So wie ich hier bin?“ fragte ich und sah auf meine Hände und Beinkleider, beschmutzt und voll Staub.

Harry lächelte.

„Sie sollen heute mein Haus als das Ihrige betrachten, denn an Vorbereitungen zur Jagd haben Sie wohl nicht gedacht und nicht denken können.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_463.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2023)