Seite:Die Gartenlaube (1859) 468.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Labsal, welches die Natur dem Menschen beut, so wenig dem wirklichen Bedürfnisse geopfert wird. Wie viele gesunkene Kräfte könnte dies verschwenderisch von mir verbrauchte Glas Wein erheben!“

„Philanthropische Träumereien eines dreißigjährigen Arztes bei einem Glase Rüdersheimer!“ rief Felix mit Humor und hielt ihm sein Glas zum Anstoßen entgegen. Die Gläser klangen wunderbar hell und harmonisch zusammen. Ganz verwundert sahen sich beide junge Männer an.

„Was sind das für Gläser?“ fragte der Doctor, das seinige prüfend emporhebend.

„Die alten, schon oft von uns zusammengestoßenen,“ erklärte Felix.

„Es war wie ein Geisterhauch, wie ein Engelston dazwischen –“ meinte der Doctor nachdenklich.

„Vielleicht daß der Engel der Philanthropie seine Fittiche regte,“ spottete Felix gutmüthig.

Der Doctor lächelte und trank. „Hätten Sie, wie ich, eine Frau belauscht, die zu Gott betete und dann den Durst mit einigen klaren Tropfen Gebirgswasser löschte, so würden Sie mich besser verstehen.“

„Eine Frau?“ wiederholte Felix betroffen, sein Glas niedersetzend. „Vielleicht eine Dame?“

„Ja, eine Dame, die wahrscheinlich erschöpfter vom harten Leben war, als wir Schwelger.“

„Doch nicht Frau von Dahlhorst?“ forschte Felix fast schüchtern. Als der Doctor bejahte, fuhr er flüsternd fort: „Und sie betete? Und sie dürstete? Bei Gott, Doctor, daran habe ich nicht gedacht – denken Sie nicht, daß ich ganz unmenschlich bin?“

„Wie so?“ fuhr Strodtmann ahnungsvoll auf. „War sie hier gewesen?“

„Ja,“ beichtete Felix ehrlich, und sein ganzes Bereuen leuchtete in seinen großen blauen Augen. „Sie war hier und wollte zwölfhundert zwei und sechszig Thaler von mir borgen, um den Wechsel zu decken, der morgen Abend ihren Mann in’s Schuldgefängniß liefert.“

„Natürlich weigerte sich der reiche Kaufherr Felix Mettling, der Lord unserer Residenz, dies Lumpengeld zu borgen?“ fragte Strodtmann bitter dazwischen.

„Ja,“ gab Felix kleinlaut zu. „Aber es war auch sonderbar von ihr – Sie hat mir nämlich vor sechs Jahren, als ich als Volontair in ihrer Vaterstadt mich aufhielt, ihres Mannes wegen einen Korb gegeben –“

„Und deswegen mußten Sie, natürlich ihres Mannes wegen, der Dame die Bitte abschlagen?“

„Der Kerl ist es nicht werth –“ entschuldigte sich Felix.

„Ist es die Dame werth?“ warf der Doctor ein.

„O, sehr werth! Adeline war immer das freundlichste und reizendste Wesen – sie war immer der Blitzableiter aller Stürme im Leben ihrer Angehörigen, Ich könnte Ihnen Geschichten von dieser engelhaften Frau erzählen –“

„Und dennoch konnten Sie es über’s Herz bringen, sie zu kränken?“ fuhr der Doctor auf.

„Der Mann soll gestraft werden. Er hat sich stets der Haft durch Lügen von Krankheit entzogen, und dann wird es auch für Adelinen gut sein, daß ihr die Augen geöffnet werden. Sehen Sie, Doctor,“ setzte er muthiger hinzu, „die kleine Lehre kann ihr und ihm nicht schaden. Nachher will ich helfen, so wahr Gott lebt.“

„Hülfe zu rechter Zeit ist wahre Christenbarmherzigkeit,“ murmelte Strodtmann vor sich hin. „Die Thränen zu trocknen, die vor dem Herzensjammer fließen, das Herz zu beruhigen, bevor Verzweiflung es bricht –“

Felix rückte unruhig hin und her auf seinem weichen Sessel.

„Sie betete, aber sie weinte nicht – geduldig netzte sie ihre trockenen Lippen mit dem Wasser, das sie mit der Hand erreichen konnte,“ phantasirte der junge Arzt in seltsamer Aufregung weiter.

„Mein Wort darauf, Doctor, daß ich ihr helfen will! Aber morgen soll und muß der Schuft, den sie Mann nennt, in’s Schuldgefängniß, und wenn er sich todkrank stellt.“

„Er ist wirklich krank!“ betheuerte der Doctor.

„Ja, ja! Wir wissen recht gut wovon. Er nimmt etwas ein, um krank zu scheinen – wir sind unterrichtet, wie er es dort in seiner Heimath gemacht –“

Der Doctor sah starr und erschrocken zu Felix auf.

„Was nimmt er ein?“ fragte er ängstlich.

„Irgend ein Gift, sagt man.“

„Allmächtiger Gott – der unsinnige Mensch!“

„Sind Sie sein Doctor?“ fragte Felix jetzt aufmerksam.

„Man hat mich vorgestern rufen lassen.“

„Damit Sie ein Krankenattest liefern sollen?“

„Ich habe versprochen, heute ein solches auszustellen.“

„Sehen Sie –“ triumphirte Felix.

„Und die Frau weiß von diesen widernatürlichen Experimenten?“ fragte der Doctor entrüstet,

„Die Frau? Du lieber Gott! Sie soll ihren kranken Mann in Baumwolle wickeln. Sie würde niemals gestatten, daß er seine Gesundheit auf’s Spiel setzte. Ich habe ihr einen Wink gegeben.“

„Sagen Sie nicht: seine Gesundheit, sondern: sein Leben auf’s Spiel setzt,“ sprach der Doctor mit tiefem, traurigem Ernste. „Ich muß fort – ich muß zu ihm! Lassen Sie mich jetzt schnell Ihren Vater sehen. Was war es mit ihm?“

Wieder flog ein unnatürlich scharfes Roth über des jungen Kaufherrn Gesicht.

„Er ist eigentlich mehr unwirsch, als krank,“ entgegnete er zögernd. „Ich wollte nicht zu Ihnen schicken, weil ich glaubte, mit der Entfernung des aufregenden Gegenstandes würde sich das Uebel beseitigen, aber der alte Papa verlangte bestimmt nach Ihnen.“

Der Doctor erhob sich und ging schnell, von Empfindungen zur Eile getrieben, die ein Gemisch von Angst, Zorn und Sorge waren, nach dem Zimmer des alten Herrn hinüber, der sich bei seinem Eintritte mit jugendlicher Elasticität erhob und ihm klar in’s Auge blickte. Der alte Herr Mettling war ein großer, schöner alter Mann, dem selbst die Krankheit nichts von seiner imponirenden Stattlichkeit geraubt hatte. So lange er saß, präsentirte er sich königlich, wenn er aber aufstand, so fiel die ganze Hülflosigkeit seines Körpers schmerzlich in’s Auge. Sein Sohn Felix war ihm sehr ähnlich, nur verlieh dem alten Herrn die Ruhe seines Innern eine Würde, die dem jungen Manne zur Zeit noch sehr mangelte. Aber alle diese Vorzüge wurden seit mehrern Monaten von einem Uebel beeinträchtigt, das ihm zeitweise das Aussehen eines Irren gab. Eine rastlose Unruhe, worin er sich vergeblich anstrengte, seine Lähmung der Füße zu bewältigen, und ein geistiges Abspringen von einem Gegenstande zum andern, verbunden mit Verwechselungen der Begriffe sowohl, als der Zeitperioden, ließ befürchten, daß wirklich sein Verstand ebenfalls bei dem Nervenschlage gelitten haben möge. Solche Unfälle gingen aber nach leichten Beruhigungsmitteln vorüber, und wenn auch danach im Allgemeinen eine gewisse Lethargie eintrat, die den alten Herrn an specieller Theilnahme bei geselligen Zusammenkünften verhinderte, so verrieth doch ein gewisses Behagen, daß er nicht ohne Genuß dabei sei. Es war noch Niemand eingefallen, eine Hebung dieses letztern Zustandes dadurch zu versuchen, daß man ihn sanft und freundlich anregte. Man begnügte sich damit, ihn mit dem zu versehen, was ihn erquicken und erfreuen konnte, und überließ ihn dann mit aller Freudigkeit Gott und seiner Natur.

Der Doctor erstaunte nicht wenig, als ihm jetzt der alte Herr mit den Kennzeichen geistiger und leiblicher Veränderung entgegenschaute und in allem Ernste Anstalten traf, sich allein aus seinem Schlafsessel zu erheben.

„Ho – ho!“ scherzte er mit der gewinnenden Jovialität, die ihn seinen Patienten so sehr angenehm machte. „Wenn der Kranke mit solchem Wesen seinem Arzte entgegenstrebt, so kann der Doctor wegbleiben. Wie geht’s, alter Herr? Vortrefflich, wie ich sehe! Und ich habe ein halb Pfund Senfteig und ein Dutzend Blutegel im Sacke! Was heißt denn das? Warum mußte ich denn heraus kommen? Etwa um Ihnen zu gratuliren zur Genesung?“

Herr Mettling lächelte und reichte ihm beide Hände. Der Doctor setzte ihn dann in eine bequeme Stellung und sah mit ärztlicher Aufmerksamkeit in die Augen, die gewöhnlich lebhaft zu rollen begannen, wenn Unruhe in ihm herrschte. Die Augen aber sahen so mild und so gütig aus, wie Gottes Augen. Er richtete sie ganz ruhig in die Höhe, als er gutmüthig entgegnete: „Sie sollen mir vor allen Dingen ein Attest der Zurechnungsfähigkeit ausstellen, bester Doctor!“

„Das thue ich sogleich in bester, vollgültigster Form!“ rief Strodtmann hastig und sehr munter.

„Dann aber sollen Sie mir Rath geben, und dann sollen Sie mir eine Bitte erfüllen oder vielmehr einen Wunsch meines Herzens erfüllen helfen!“



(Schluß folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_468.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)