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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

fast täglich seine Blumen und sein Laubgewinde. An Haufen festlich fröhlicher Menschen kommen wir auf allen Seiten vorüber.

Wir gehen an dem Ufer des Sees hinauf, wir verlassen den Quai, die Stadt. Wir sind an der Grenze der Gemeinde Rießbach, am Eingange jener schnurgeraden, anmuthigen Seefeldstraße. Ein großes, für das Fest gebautes Triumphthor empfängt uns hier. Es hat Aehnlichkeit mit dem Brandenburger Thor in Berlin. Hoch oben auf ihm steht die kolossale Statue Tells. Sie ist sehr gut gearbeitet, aus Gyps. Sie stellt den mythischen Helden in dem Augenblicke dar, wie er den Apfel von dem Haupte des Kindes geschossen hat, und drohend den Pfeil dem kaiserlichen Landvogt entgegenhält. Ob die Geschichte wahr oder nicht wahr ist, kümmert uns in diesem Augenblicke am wenigsten, und wahrhaftig auch alle die tausend Schützen und tausend und abermals tausend anderen Leuten nicht, die täglich und stündlich unter ihm her durch das Thor hin und her gehen. Sie haben bei seinem Anblick Alle nur einen Gedanken, und den rufen Tausende beim Vorübergehen in lautem, begeistertem Gruße ihm zu: „Hurrah, Schützenvater Tell! Noch heute ist der Schweizer Schütze muthig und daher auch frei wie Du!“

Ja, Mythe oder nicht Mythe, ein Mann des Volkes ist der Tell nun einmal, und wohl dem Volke, das einen Tell hat und ein dankbares Gedächtniß für ihn bewahrt!

Wir durchschreiten das Thor, und treten in die Seefeldsstraße ein. Der Schmuck der Flaggen, der Fahnen, der Blumen und des Laubes überbietet hier fast den in der Stadt. Er erhöht doppelt den Reiz aller der anmuthigen Landhäuser und Gärten zu beiden Seiten der Straße. Unter ihm reihet vor Gärten und Häusern sich Bude an Bude an einander, von dem einen Ende der langen Straße bis zu dem anderen. Man ist wie auf der lebendigsten Kirchmesse, die nur je in Westphalen oder am Rheine gefeiert worden ist. In anderen Gegenden Deutschlands haben sie Jahrmärkte, aber die sind nichts gegen unsere großen Kirchmessen.

Auch Seiltänzerbuden sind da und „Arenen“ und ein Circus, und Puppentheater und Caroussels und ungeheure Zelte mit wilden Thieren, und Geschrei der Menschen, die Einen in die Buden und Zelte hereinrufen wollen, und Musik und Trommeln und Gekreisch der fremden Raben und Papageien, und Geheul der Bären, Tiger und Löwen. Und ein Gewühl von Menschen und Wagen, daß man, trotz der größten Ordnung, die man in einem solchen Gewühl sich nur zu denken vermag, nur mit Mühe vorwärts kommt. So gelangen wir zur Festhütte. Gleichviel, zu welcher Tageszeit. Sie ist immer gefüllt, von acht Uhr Morgens an bis lange nach Mitternacht hin. Und wie die Hütte, sind es alle Räume um sie her. Nur auf dem Schießstande hört des Abends mit dem Glockenschlage acht das Leben auf. Ein einzelner Kanonenschuß verkündet das Ende des Schießens, wie er am Morgen um acht den Anfang anzeigt.

Aber ich muß Ihnen doch wenigstens mit einigen Zügen das Leben eines ganzen Tages auf diesem Festplatze beschreiben.

Um acht Uhr Morgens, wie gesagt, beginnt es.

Zeiger und Warner sind schon auf ihren Plätzen bei Scheibe und Schießstand. Mitglieder der verschiedenen Comité’s finden sich mehr und mehr ein, um zu wahren, daß Alles in Ordnung sei. Die ungeduldigen Schützen waren schon lange da, harrend des Signalschusses. Zuschauer strömen von allen Seiten herbei. Der Signalschuß ertönt. Im Augenblick nachher knattern sechsundneunzig Büchsen in der langen Reihe der Schießstände, Schuß auf Schuß, und Schlag auf Schlag schlagen da hinten die Kugeln in die Scheiben hinein. Und wie das einmal angefangen hat, hört es keine Minute auf, bis um zwölf Uhr ein Kanonenschuß zum Mittagessen in die Festhütte ruft. Gegen zehn Uhr, oft noch früher, entsteht unterdeß anderes Leben. Die ersten Dampfschiffe, die ersten Züge der Eisenbahnen sind in der Stadt eingetroffen. Sie haben neue Gäste gebracht, Schützenvereine aus allen Theilen und Gegenden, aus allen Bergen und Thälern der Schweiz. Sie haben am Landungsplatze oder auf dem Bahnhof sich geordnet. Jede „mit flatternder Fahne anrückende Schützengesellschaft“ wird mit drei Kanonenschüssen salutirt, von Festführern des Comités abgeholt und zu dem Schützenplatze geleitet. Musik begleitet sie durch die Stadt bis dahin. Dort werden sie an den Gabentempel geführt. Das ganze Empfangscomité ist da schon versammelt; Mitglieder anderer Comités, Schützen in Menge, andere Zuschauer noch mehr haben sich angeschlossen. Die Ankommenden führen sich mit einer Begrüßungsrede ihres Anführers ein. Ein Mitglied des Empfangscomités beantwortet die Rede. Dann wird den Ankommenden „der Ehrenwein kredenzt“. Dabei wird die mitgebrachte Fahne übergeben und den Fahnen, die schon von dem Thurme des Gabentempels herabwehen, hinzugefügt.

Ueber hundert solcher Fahnen hingen während des Festes von dem Thurme herunter, in allen Farben der verschiedenen Schweizerkantone; von deutschen Fahnen waren namentlich die der Bremer und später der Stuttgarter darunter. Diese war von einer königlichen, oder gar kaiserlichen Prinzessin geschenkt, der Kronprinzessin Olga von Württemberg. Die eidgenössische Schützenfahne flatterte dennoch als die Königin von Allen da oben auf dem Thurme.

Dem Empfang der ankommenden Schützengesellschaften ist auch die Entlassung der abziehenden gleich. Die Fahne wird ihnen mit einigen kurzen Worten zurückgegeben; der Abschiedstrunk wird ihnen gereicht; dann werden sie mit Musik zurückbegleitet.

Die Schützengesellschaften waren aus zweiundzwanzig Kantonen da. Wie viele aus jedem! Zwar kamen sehr viele, die meisten, jedesmal kantonsweise an, und so verabschiedeten sie sich auch wieder. Dennoch war während des ganzen Festes den ganzen Tag über Zu- und Abgang, in den ersten Tagen jener, in den letzteren dieser vorherrschend. Namentlich die Ankommenden hielten dabei manchmal lange Reden; die Antwort durfte dann nicht immer eine kurze sein. Die Mitglieder des Empfangscomités hatten saure Redetage.

Die Ersten, die ankamen, waren die Neuenburger; sie wurden mit dem lebhaftesten Enthusiasmus begrüßt. Die Ersten, die abgingen, waren unsere Bremer Landsleute; sie verließen am Mittwoch, 6. Juli, das Fest. Ihr Abschied war ein rührender, ergreifender. Der Präsident Dubs sprach zu ihnen: „Eure Fahne geben wir nur ungern heraus, denn wir hatten gewünscht, daß Ihr Alle bis an das Ende des Festes geblieben. Wir sind einander im Herzen nahe gekommen; die Liebe macht nicht viele Worte, aber Ihr habt es gespürt, daß Ihr uns Allen unvergeßlich theuer seid. – Ihr verseht die Wache an der Nordsee, wie wir an den Alpen; möge unsere Verbrüderung in Freundschaft und Freiheit ewig bestehen!“ Am Tage vorher hatte man ihnen noch „den Zürichersee gezeigt“. Das soll eine wundervolle Fahrt gewesen sein, an den beiden Ufern des Sees entlang, an allen den schönsten, reizendsten Landungsplätzen der Welt, unter der freudigsten Begrüßung aller der Uferbewohner.

Einer der Glanzpunkte des Festes war der Empfang der Schützen-Vereine der Vierwaldstätte, Luzern, Schwyz, Uri und Unterwalden. Sie langten ebenfalls am 6. an, noch vor dem Abgange der Bremer. Es waren ihrer an siebenhundert Schützen. Ihnen voran schritten vier „Kernmannen“, gekleidet in die alte Landestracht nach ihren Landesfarben; sie trugen die alten „Harsthörner“, die schon vor einem halben Tausend von Jahren ihre Väter in die Schlacht gerufen hatten. Die alten Schlachtbanner folgten. Der Zug der stattlichen Urschweizer, alle Kernmannen, schloß sich an. So zogen sie durch die Stadt, die Seefeldstraße entlang, zu dem Schießplatze. Halb Zürich geleitete sie; ein ungeheurer Jubel umwogte sie. Er wollte schon nicht enden, als sie an der Ehrenpforte am Eingange der Seefeldstraße hoch oben ihren Schützenvater Tell erblickten. Dieser Zug und der Empfang, den sie auf dem Festplatze erhielten, verdiente eine besondere Beschreibung.

Wir kehren zu dem Festplatze zurück. Es ist Mittag geworden. Ein Kanonenschuß verkündet den Beginn des Mittagsessens. Das Knattern der Büchsen hört auf. Die Schützen eilen von den Schießständen und allen anderen Seiten her in die Festhütte. Ich glaube, es sind an anderthalbhundert lange Tische, die dort gedeckt sind. Sechstausend Menschen haben Platz daran. Wer keinen Platz mehr findet, muß weiter wandern zu den zahlreichen Restaurationen in der Nachbarschaft, zu den Gasthöfen und Speisehäusern in der Stadt. An Einem Tage mußten an viertausend Menschen vor den Tischen der Festhütte umkehren.

Wie die Zahl der Gäste, so sind Hunger und besonders in der Hitze Durst groß. Die Wirthschaft des Festes hat dennoch vom Anfang bis zu Ende nur Anerkennung und Lob eingeerntet. Schon am vierten Tage waren zwar die ursprünglich für das ganze Fest berechneten Trinkvorräthe aufgezehrt, so wurde – getrunken. Aber der Mangel war ersetzt, bevor die Trinker ihn gewahr werden konnten. Aber wie groß Hunger und Durst sind, der Begeisterung des Festes können sie keinen Eintrag thun. Jedes Mittagsmahl wird von Toasten belebt. Persönliche Toaste sind ein- für alle- mal ausgeschlossen. Nur des Vaterlandes, der einzelnen verbundenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_475.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2023)