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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

den Kindern der Armuth besser abzuhalten im Stande sind, als beim germanischen System. Allein dem ist auch nicht so, ja gerade das Gegentheil findet statt, wie Thatsachen lehren. In Madrid starben im ersten Jahre von 100 Findlingen 67, in Wien 92, in Brüssel 56, in Paris 72; von 19,420 im Laufe von 20 Jahren in Dublin aufgenommenen waren nur noch 2000 am Leben, in Moskau von 37,600 nur 7000; von den in Petersburg in den Jahren 1832 bis 1835 aufgenommenen 25,624 Kindern starben in den Jahren der Aufnahme 12,290. Bedenkt man nun, daß nach den neuesten und zuverlässigsten Beobachtungen die allgemeine Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebensjahre sich etwa auf 25 vom Hundert beläuft, so ergibt sich hieraus die große Sterblichkeit der Findelkinder und die Unrichtigkeit der Behauptung, daß die Findelhäuser den Kindern der Armen zur Lebensrettung dienen. Sie sind im Gegentheile deren gefährlichste Feinde, und es wäre die Ueberschrift über Findelhausthüren, die ein französischer Schriftsteller vorschlug: „Hier werden Kinder auf öffentliche Kosten umgebracht,“ nicht so ganz ungerecht. – Ebenso läßt sich ferner beweisen, daß auch die sittliche Verwahrlosung bei Findlingen eine größere ist, als bei andern Kindern.

Fassen wir nun aber noch die üblen Folgen in’s Auge, welche das Findelhaussystem zum wahren Fluche machen, so muß man dasselbe als ein verderbliches bezeichnen. Es sind aber die Nachtheile der Findelhäuser theils sittlicher, theils wirthschaftlicher Art. In sittlicher Beziehung schaden die Findelhäuser nun aber ja nicht etwa insofern, als durch sie die Zahl der unehelichen Geburten vermehrt würde, als vielmehr durch die Lockerung und Auflösung der Familienbande. Man hat nämlich neuerlich erkundet, daß keineswegs blos uneheliche Kinder den Findelhäusern übergeben werden, sondern daß ein bedeutender Theil der Findlinge aus gesetzlichen Ehen stammt, ja in manchen Orten (besonders Fabrikorten) finden sich mehr eheliche als uneheliche Kinder in den Findelhäusern. Nun läßt sich aber eine größere Demoralisation, ein empörenderes Mißachten aller sittlichen Pflichten gar nicht denken, als wenn Eltern, blos um Mühe und die Kosten der Erziehung zu ersparen, ihre Kinder nicht nur unter den Händen von Miethlingen einer bedeutenden Todesgefahr aussetzen, sondern sie auch einer schlechten Erziehung, einer völlig hülflosen und unbewachten Jugend, somit der offenbarsten Gefahr sittlichen Unterganges überantworten; sie berauben sie jedes Anspruches auf Verwandtenliebe, jeder Möglichkeit einer Erbschaft, ja selbst ihres Namens.

Hierzu kommen nun noch die ganz enormen Kosten, welche die Findelhäuser dem Staate machen, und diese wachsen mit der Zahl der Findlinge überall und stetig in solchen Verhältnissen, daß sie unerschwinglich zu werden drohen. Was die Zahl der Pfleglinge betrifft, so berechnete man, daß in Frankreich im Jahre 1784 etwa 40,000 Findelkinder existirten; im Jahre 1798 waren sie auf 51,000 gestiegen; 1818 auf 98,100, im Jahre 1833 auf 119,930. Ebenso zeigte sich in andern Ländern eine stetige Vermehrung der Findlinge, die, wenn auch die Bevölkerung ebenfalls mit gestiegen war, doch eine ganz unverhältnißmäßige ist. Der Grund davon liegt wahrscheinlich darin, daß mit dem längern Bestehen der Findelhäuser bei den Eltern immer mehr die Scheu vor der unsittlichen Handlung der Verlassung des eigenen Kindes abnahm, vielleicht auch in Folge der bedeutenden Verbesserung in der Verpflegung der Kinder.

Jedenfalls geht aus der auf Thatsachen gegründeten Darstellung des Findelhaussystems deutlich hervor, daß dasselbe kein humanes ist, und daß unsere Waisenhäuser, sowie die durch Privatwohlthätigkeit und auf öffentliche Kosten geschaffenen Verpflegungs- und Rettungsanstalten für Kinder den Findelhäusern weit vorzuziehen sind. Aber freilich müssen hier durchaus noch bedeutende Verbesserungen geschehen, und diese sollten sich vorzugsweise auf die ersten Lebensjahre des Kindes beziehen, denn in diesen wird ja der Grund für das ganze übrige Leben gelegt.Bock. 

(Fortsetzung folgt.)[WS 1]

Die Prairien.

Erlebnisse eines deutschen Flüchtlings von C. B.
(Fortsetzung.)

„Nur die Möglichkeit will ich erkennen, dann ist die Ausführung gewiß!“ sagte Harry mit großer Lebhaftigkeit. „Hier liegt das Material zur Ueberbrückung, und finden wir auch Kohle zum Heizen, so ist uns Santa Fé erschlossen. Von Kansas aus setzen uns die vielen Ströme unüberwindliche Schranken, und wollten wir sie auch überwinden, strecken uns die Ausläufer der Felsengebirge ihre Mauer entgegen. Hier haben wir nur die Wellen der Prairie zu überwinden und die Terrasse zur Wüste zu ersteigen, dann bieten die Längsthäler keine Schwierigkeiten bis Santa Fé vorzudringen. Erst eine Verkehrsader in dies wilde Land hinein, und Bildung und Gesittung werden folgen. Unsere Missionare arbeiten vergeblich unter diesen wilden Horden. Untereinander und mit den weißen Eindringlingen leben sie in fortwährender Fehde, und dieser Vernichtungskrieg gegen sie wird erst enden, wenn sie die Unmöglichkeit einsehen, gegen die Civilisation anzukämpfen, wenn ihnen keine andere Wahl bleibt, als zu verhungern, indem sie auf der jagdlosen Prairie bleiben oder sich in die Felsengebirge zurückziehen. Und auch unsere wilden Jäger werden sich zum Ackerbau bequemen und ihre fürchterlichen Gewohnheiten ablegen, wenn ihnen die Wohlthaten der Civilisation nahe gebracht werden. Auf der Wüste werden unsere Kameele gehen, von Fort Gibson aus bis an ihren Rand sind die Flüsse mit Dampfschiffen zu befahren, finden wir hier Kohlenwerke, und von Kansas, am Rande der Prairie, wird deren Norden mit dem Süden durch ein Eisenbahnnetz verbunden.“

Die riesigen Pläne machten mich zum lautlosen Zuhörer.

„So erobern wir!“ fuhr Harry fort. „Santa Fé muß uns werden. Es ist nothwendig für uns, seitdem wir Californien haben. Es bietet uns einen Ruhepunkt auf der großen Straße nach dem Westen, sicherer und unabhängiger als der Seeweg. Wir müssen die Straße so weit südlich haben, weil der nordische Winter mit seinem Sturm und Schneegestöber fast ein halbes Jahr die Verbindung auf einer nördlicheren Straße unterbrechen würde, weil diese südlichen Gebirge einen Uebergang durch ihr milderes Klima erleichtern. Will Gott es, erreichen wir auch noch einen andern Zweck!“ fügte er nachsinnend hinzu.

„Und welchen?“ fragte ich.

„Die Prairie hat Sie schon gesunden lassen, Willy,“ sagte Harry ernst. „Ihre deutsche Empfindelei ist aber noch nicht aus Ihrem Geiste so fern, daß ich Sie ohne Bedenken an unsere Verhältnisse erinnern möchte, die wieder den alten Geist weckten. Wir leiden auch an unseren Gebrechen, wie Ihr in Europa, aber wir suchen sie zu heilen und nicht in die Glieder zu treiben. Unsere Freiheit ist eine Wahrheit, aber sie hat zwei Feinde – unsern Egoismus und die Sclaverei. Unser Egoismus macht uns gemüthlos. In der Politik werden wir uns so leicht mit Louis Napoleon verständigen, wie wir es mit dem Kaiser von Rußland gethan haben. Wir erkennen unsern Fehler und sind dem deutschen Elemente hold, das uns corrigiren kann. Unsere Dichter und Künstler fühlen sich zu Euch hingezogen und suchen sich in Euch zu vertiefen, unsere jungen Leute machen ihre Studien auf deutschen Universitäten. Aber Ihr Deutschen tretet uns mit Eurer Empfindelei entgegen. Eure Heimath habt Ihr verlassen, und die neue genügt Euch nicht; Ihr findet Eure Ideale nicht verwirklicht und verurtheilt uns, ohne uns näher kennen zu lernen. Dann verachtet Ihr, wodurch allein Amerika sich in seinen Gegensätzen erhält, unsere Kirchlichkeit. Ihr tadelt – und vergeßt die Hand anzulegen, die Schäden zu bessern – werdet amerikamüde und hier unbrauchbar. Sie waren auch auf dem besten Wege, Willy, nur unsere Schäden zu suchen, nicht, wie unser Freund, sie zu beurtheilen, sondern um uns zu verurtheilen. Wir verurtheilen die Sclaverei nicht minder hart, aber sie ist ein überkommenes Uebel, das sorgsam behandelt werden will. Wir hoffen sie zu beseitigen, und unsere Hoffnung stützt sich auf das deutsche Element.“

„Wären deshalb die Knownothings mächtig geworden, die doch nur den Deutschen feindlich waren?“ fragte ich.

„Sie sind ein Zeichen, daß die Amerikaner das Gewicht fühlen, welches die Deutschen in die Wagschale legen, aber sind sie

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Eine Fortsetzung wurde angekündigt, ist aber nicht erschienen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_511.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)