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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Die Brotteröder.
Ein Stücklein aus der Franzosenzeit.

Eine herzerquickende Erscheinung für den Touristen ist ein kräftiges, naturwüchsiges Völkchen. Ein solches sind die Bewohner des kurhessischen Landfleckens Brotterode am westlichen Fuße des Inselsberges, in einer Höhe von 1800–1900 Fuß über der Meeresfläche gelegen, mit 2700 Einwohnern in 368 Wohnhäusern. Diese ziehen sich bei dem wechselnden rauhen Terrain in einer Hauptstraße mit einigen Nebengassen fast eine halbe Stunde von einem Ende des Ortes bis zum andern hin, und bilden ein sehr verschiedenes Gemisch von Wohlhabenheit und Armuth, je nachdem ihr Aeußeres das Gepräge der Fabrikherren oder der ärmeren Feuerarbeiter trägt. Wohl nirgends spricht sich der Volkscharakter eigenthümlicher aus, als hier. An dieser merkwürdigen Erscheinung wirken verschiedene, in den örtlichen Verhältnissen begründete Umstände zusammen. Die alte Zunftordnung der Schnallenschmiede zur Verfertigung aller möglichen Metallarbeiten zu Pferdegeschirren und Wagen erbt als ein Privilegium von Geschlecht zu Geschlecht, bindet an den eigenen Heerd in der Familie, indem sie dem jungen Arbeiter das Wandern nicht auferlegt, so daß Mancher von ihnen nicht weit über die Gipfel seiner nahen Berge hinauskommt, und mit dem Handwerk die alten Gebräuche und Liebhabereien vom Vater ererbt.

Der Markt in Brotterode.

Der Brotteröder ist einfach in Sitte und Tracht, fleißig und genügsam, hämmert und feilt in rußiger Werkstatt vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Seine Mundart ist, ähnlich der Ruhlaer, ein ganz besonderes Idiom und für ein ungeübtes Ohr schwer verständlich. Auch der gebildetere Theil spricht dieselbe fast immer auf dem heimathlichen Boden, und auf Messen erregen die Brotteröder Kaufleute, wenn sie unter einander plaudern, nicht selten die Verwunderung der deutschen Landsleute, als wenn sie von einem fremden Menschenschlag abstammten.

Die kernige Constitution der Brotteröder ist größtentheils in localen Verhältnissen begründet. Nicht blos die frische Luft mit ihrem Reichthum an Sauerstoff und ihrem geringeren Luftdrucke in der beträchtlichen Thalweitung, in der Höhe von 1800–1900 Fuß, am Fuße des Inselsberges, sondern auch das herrliche krystallhelle, fast chemisch reine, überall aus Granit zu Tage gehende und daher immer kühle Quellwasser tragen viel zu einer dauerhaften Gesundheit der Bewohner bei. Hierzu kommt noch der auffallend erscheinende Umstand, daß in Brotterode die Tuberkelschwindsucht angeboren nicht vorkommt, daß diese Krankheit bei Fremden im dasigen Orte in ihrem weiteren Verlaufe aufgehalten wurde, sodaß ein wissenschaftlich gebildeter, sehr tüchtiger Arzt die Behauptung aufstellte, ein Schwindsüchtiger sei in Brotterode weit besser aufgehoben als in Nizza. Wegen dieser gesammten klimatischen Verhältnisse ist dort bereits eine Badeanstalt nicht blos für alle möglichen kalten Bäder, sondern auch für Fichtennadeldampfbäder eingerichtet worden. Für solche, die blos eine Molkencur zu brauchen beabsichtigen, ist hier die Milch der auf den kräuterreichen Bergen weidenden zahlreichen Ziegen vorhanden, und deshalb dem Gedeihen der Curanstalt mit Zuversicht entgegen zu sehen.

Die Fremde hat für den Brotteröder im Allgemeinen etwas Verächtliches, deshalb nimmt er selten eine „Fremde“, auswärts Geborne zur Frau, noch weniger aber will er einen fremden Mann in der Gemeinde haben. Ein Jude, deren es nicht weit davon in Massen gibt, darf unter keiner Bedingung in dieselbe aufgenommen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_537.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)