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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

werden, ja früher soll nicht einmal ein Jude im Orte haben übernachten dürfen. Der Brotterode ist kühn, kurz angebunden zum Streit; ja, nicht selten ließ er in der Hitze schon Blut fließen, denn schnell blitzte sonst der scharfe Schnitzer in der nervigen Faust. Seine alten Ortsrechte, die Kaiser Karl V. mit Verleihung einer Fahne (die Fune von Karles Quintes genannt) einst dem Dorfe schenkte oder vielleicht nur erneuerte, ist er stets bereit, zu vertheidigen, besonders das heilige Symbol von der Väter Sitte selbst, die theure Fahne mit den Emblemen des Bergbaues, des früheren Gewerbes, und mit einer darüber stehenden Kaiserkrone und den Anfangsbuchstaben des kaiserlichen Gebers C. V. geziert.

Dabei ist er von Charakter im Allgemeinen gutmüthig, leicht aufgesetzt zu munterem Scherz, Musik und Tanz und allerlei Kurzweil, denn er ist rasch in seinen Bewegungen und führt eine geläufige Zunge, worin sich namentlich der weibliche Theil auszeichnet. Einige Brotterode Weiber im lebhaften Gespräch ihre Mundart sprechen zu hören, ist für einen Fremden eine Komödie.

Um die Leute in ihrer ganzen Volkseigenthümlichkeit zu sehen, beschloß ich, ihre Kirchweih zu besuchen, die zu Ende des Monats Juli fällt; heute war der Haupttag. Der Postwagen hatte auf der Landstraße von Schmalkalden her die südlich gelegene Anhöhe erreicht und rollte bergein dem Orte zu, der unter dem schönsten Himmelsblau sich ausbreitete, während er sonst häufig einen großen Theil des Jahres in dicke Nebel eingehüllt ist, die der Sturm vom nahen Inselsberg herabwälzt.

Zuerst suchte mein Blick die berühmte Fahne unter der Thurmkuppel, denn heute war ihr Ehrentag. Sie wehete hoch oben in der Luft, zum Zeichen, daß heute Brotterode noch in seinem alten Rechte sei, erst morgen früh sollte sie unter Glockengeläute und Musik wieder abgenommen werden, wie sie nach altem Branche unter gleichen Feierlichkeiten aufgesteckt worden. Der glänzende Thurmkopf erinnerte mich an die Worte, die auf einem Pergament in dem alten Knauf enthalten waren, und so recht die Zähigkeit der Brotteröder am Altherkömmlichen und ihre Kampfeslust für dasselbe bekunden. Sie lauteten: „Diese Kirche ist angefangen worden zu bauen, als ein Mönch, Namens Lutherus, wider die Papisten angefangen zu schreiben, dem aber das Maul bald gestopfet werden soll.“

Unter diesen und ähnlichen Betrachtungen über die Volkssitten zog ich im festlichen Orte ein und gelangte auf den Markt, wo eben eine Abtheilung Kirmsebursche mit ihren Mädchen den jubelnden Umzug hielt. Ich hatte manches Beispiel von der Kampfeslust der Brotteröder aus alter Zeit gehört, so daß sie vor vielen anderen einzig in ihrer Art dastehen. Einen interessanten Beleg hierzu liefert unter Anderem die Vertheidigung der genannten Fahne und noch mancher Beweis von kühner Entschlossenheit und Tapferkeit für das Vaterland gegen die Franzosenherrschaft. Ein Augenzeuge jener Ereignisse aus seiner Jugendzeit, ein alter Herr mit schneeweißem Haar, erzählte mir „auf der Höh", wie das Casino der Kaufleute schlechtweg genannt wird, mit großer Gefälligkeit die merkwürdigsten Begebenheiten aus Brotterode’s Geschichte.

„Es war auf dem Kirchweihfeste des Jahres 1805 oder 1806," erzählte er, „als uns die Schmalkälder die Fahne entführen wollten, in der Meinung, daß mit dem Verluste derselben auch die dem Ort durch dieselbe zuständigen Rechte verloren gingen. Die Bürger der Stadt Schmalkalden waren auf uns schon seit Jahren wegen des raschen Aufschwungs unseres Handels eifersüchtig, sie schienen es uns im Fleiße nicht gleich thun zu können, denn es herrschte damals, in der Zopf- und Haarbeutelzeit, bei ihnen das Sprüchwort: „Wenn wir uns des Morgens beim Anzuge noch pudern, haben sich die Brotteröder schon halb todt gearbeitet.“ Besonders war ihnen die Fahne von Karl V. ein Dorn im Auge, denn die Brotteröder steiften sich oft den Schmalkälder Behörden gegenüber auf ihre durch jene erhaltenen Rechte, als da sind: acht Tage Kirmes ohne obrigkeitliche Erlaubniß, acht Tage freie Fischerei und zuweilen etwas zu freier Gebrauch von dem großen Gemeindewald. Man hätte sich daher die Fahne, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, gern längst geholt, aber man kannte die Verehrung für dieses Panier und fürchtete sich deshalb vor unsern harten Fäusten. Da vermaß sich, gerade zu jener Kirmes 1806, zu Schmalkalden der Unteramtsschultheiß Becker in einem Gespräch mit seinen Vorgesetzen voll Groll über die Brotteröder, er wolle ihnen ohne Weiteres die Fahne vom Thurme nehmen, wenn er zu seiner Bedeckung eine kleine Escorte Militair erhielt. Es wurde um das Wagestück gewettet, und Becker zog mit seinen Feldjägern nach Brotterode ab, durch eine Seitengasse ein. hin nach dem Kirchplatz, während fast alle Leute fröhlich auf dem (damaligen) Schützenhofe beim Tanze waren. Er hatte gerade eine nagelneue gelbe Hose an und sich den Zopf recht schlank gedreht. Im Pfarrhofe sah ihn zufällig eine Botenfrau, als er an seinen Raub nach dem Thurme ging, erkannte ihn und seine Absicht, und bat ihn: „Ach, Herr Amtsschulz, thun Sie doch das nicht, da wird ja das ganze Dorf aufsässig.“ Er aber holte die Fahne. Unterdessen hatten sich einige neugierige Frauen eingefunden, als er mit der Fahne herabkam; unter diesen ein altes beherztes Weib, die sogenannte schwarze Margreth Christine, Wittwe eines Schnallenschmiedes, Namens Jüng, und eine andere, genannt Hühne Krette (Margarethe Huhn). Die alte Schwarze den Schmalkälder Unteramtsschulzen mit der Fahne in der Hand sehen, ihn an der Kirchenthür vermittelst einer Kartoffelhacke im Rockkragen einhaken, an sich ziehen, seinen Zopf fassen und ihn so zur Erde reißen, war das Werk einiger Augenblicke. Triumphirend hob sie mit der einen Hand den schön gewichsten Zopf, den sie dem Räuber ausgerissen hatte, in die Höhe, mit der andern hatte sie unter Beistand und „Zuschlag“ der Hühne Krette die Fahne gefaßt. Andere Weiber hatten die Feldjäger in „Beschlag“ genommen und die Schläge auf sie nicht gezählt. Die übrige Bevölkerung hatte die Schreckenskunde von dem Raube schnell herbeigezogen, aber die Männer fanden fast nichts mehr zu thun, die Weiber waren Sieger. Man ließ die Schmalkälder Sippschaft unter heller Verhöhnung laufen, und steckte unter lautem Jubel und Schalle der Musik die Fahne sofort wieder auf.“

Die Sache kam, wie ich von dem Erzähler weiter erfuhr, vor die Behörden von Schmalkalden, obgleich diese die Urheberin des Scandals selbst gewesen war, und der erboste Unteramtsschulze scheint dieselbe so zu seinem Vortheile dargestellt zu haben, daß die ihm für die Wette erfahrene Unbill hart bestraft wurde. Die schwarze Margreth Christine und Hühne Krette kamen mehrere Monate in’s Zuchthaus zu Kassel und einige Andere mußten geringer büßen. Doch die Rache der Brotteröder gegen den Schulzen Becker schlief nicht lange, dann bei einer anderen Gelegenheit, die das Resultat ihres kühnsten Patriotismus war, sollte sie von Neuem erwachen und ohne Rückhalt geübt werden.

Als gegen Ende des Jahres 1806 der Kurfürst von Hessen durch Napoleon verjagt und sein Land zu dem Königreich Westphalen unter Jerome Bonaparte geschlagen wurde, waren die Brotteröder von dem wüthendensten Hasse gegen das Franzosenthum erfüllt. Zu dieser Zeit war im Ort als französischer Maire – denn Schultheiß hieß es nun nicht mehr — ein gewisser Eichhorn, ein Mensch, der sich trefflich zu dem französischen Spionirsystem eignete und durch seinen Eifer auf seinem Posten einen weit höheren zu erschnappen hoffte. Der Haß gegen diesen war außerordentlich, überhaupt der Haß gegen die westphälische Herrschaft so groß, daß sich die jungen Militairpflichtigen durch die Flucht dem Dienste in der französischen Armee zu entziehen suchten und zu ihrem Aufenthalte die verstecktesten Schluchten und Winkel des Waldes aufzufinden wußten, wo sie Monate, ja, man sagt, Jahre lang von ihren Freunden mit Nahrung versorgt wurden. Nur auf diese Weise gelang es dem Maire Eichhorn nicht, sie auszuliefern, denn ein Brotteröder gab sich nicht zum Angeber her. Aber wahrlich nicht aus Feigheit, aus Scheu vor dem Kriegsdienste, nein aus Scheu davor, gegen die deutschen Brüder die Waffen tragen zu müssen, unterzogen sich die kühnen Söhne der Berge den Gefahren, denn beim ersten Erwachen der deutschen Begeisterung stellten sich Viele derselben sogar freiwillig unter die Fahnen des zurückgekehrten Landesherrn. Der Haß gegen den Maire Eichhorn brach jetzt, noch zur Zeit der westphälischen Regierung, fast zusammenfallend mit den Schlachttagen bei Leipzig, furchtbar hervor. Für die Brotteröder hatte er sein elendes Leben verwirkt; der Tod war ihm geschworen. Noch spät in der Nacht wollte man sich seiner bemächtigen, schon glaubte man seiner in seinem Bette gewiß zu sein, als er sich durch die Flucht zu retten wußte, ohne Zeit zu haben, seine Kleider anzulegen. Nur im Hemde, durch einen kühnen Sprung aus dem Fenster, entkam er mit Mühe und fand Zuflucht in Schmalkalden. Sogleich aber wurde sein Haus der Erde gleich gemacht, obschon man des Sieges der deutschen Waffen noch nicht ganz sicher war. Als zwei Tage darauf mehrere Brotteröder mit dem frohen Botschaft „die Kosaken kommen“ nach längerer Zeit zurückkehrten, fügten sie dieser Kunde sogleich mit freudestrahlenden Gesichtern und geballten Fäusten die Aufforderung hinzu: „Nun wollen wir dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_538.jpg&oldid=- (Version vom 23.9.2023)