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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Der König, gereizt von seinem männlichen Widerstande, erließ an ihn eine Cabinetsordre voll heftiger Vorwürfe. Er nennt ihn darin „einen widerspenstigen, trotzigen, hartnäckigen und ungehorsamen Staatsdiener, der, auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt, das Beste des Staates vor Augen zu haben, nur durch Caprice geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt.“ Unter solchen Umständen blieb ihm nichts übrig, als seinen Abschied zu fordern, der ihm auch in verletzender Weise gewährt wurde.

Die Kunde von Steins Entlassung wurde von allen Patrioten mit tiefer Trauer aufgenommen; schon damals hielt man ihn für den Einzigen, der im Stande wäre, das seinem Untergange entgegengehende Preußen noch zu retten. Er selbst ging wieder nach Nassau auf seine Güter zurück, um seine zerrüttete Gesundheit wieder herzustellen. Auch in der Ferne beschäftigte er sich mit dem Schicksale des unglücklichen Landes und einer undankbaren Regierung, indem er im Stillen Pläne ausarbeitete, die eine Verjüngung und Reform des Staates bezweckten. Dort in der Einsamkeit faßte er den großen Gedanken, den er später gegen Hardenberg folgendermaßen äußerte: „Ich glaube, daß es wichtig ist, die Fesseln zu brechen, wodurch die Bureaukratie den Aufschwung der menschlichen Thätigkeit hindert; man muß diesen Geist der Habsucht, des schmutzigen Vortheils zerstören, diese Anhänglichkeit an den Mechanismus, welchem die Regierungsform unterworfen ist. Die Nation muß daran gewöhnt werden, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus diesem Zustande der Kindheit herauszutreten, worin eine immer unruhige, immer dienstfertige Regierung die Menschen halten möchte."

Eine Aufforderung des Kaisers Alexander, in russische Staatsdienste zu treten, lehnte Stein damals zum Glücke Preußens ab. Bald hatte Friedrich Wilhelm sein Unrecht eingesehen, von Neuem wendete sich, als durch den Frieden von Tilsit die Noth auf das Höchste gestiegen war, der Blick des Monarchen und aller wahren Vaterlandsfreunde nach dem treuen Diener, dem unentbehrlichen Minister, der allein das große Werk der Wiederbelebung vollbringen konnte. Die edle Prinzessin Radziwill schrieb an ihn, um ihn zur Rückkehr in den Staatsdienst zu bewegen; Blücher und Hardenberg erließen an ihn eine Aufforderung in gleichem Sinne und im Namen des Königs selbst. Die unvergeßliche Königin Louise rief in einem Briefe sehnsuchtsvoll: „Wo bleibt nur Stein? Dies ist mein letzter Trost. Großen Herzens, umfassenden Geistes, weiß er vielleicht Auswege, die uns noch verborgen liegen."

Dem allgemeinen Verlangen vermochte Stein nicht länger zu widerstehen; großmüthig vergaß er die ihm widerfahrene Kränkung; er kannte nur ein Ziel, Rettung des Vaterlandes. — Es gehörte mehr als gewöhnlicher Muth dazu, die Leitung eines vollkommen ruinirten Staates, der fast die Hälfte seiner Länder verloren, dessen Finanzen zerrüttet, dessen Wohlstand zu Grunde gerichtet, der in der allgemeinen Achtung so tief gesunken war, unter den jämmerlichsten Verhältnissen zu übernehmen. Aber ein Mann wie Stein schreckte vor keiner Schwierigkeit zurück, seiner Kraft sich bewußt und von einer Fülle schöpferischer Gedanken beseelt, ging er sogleich an’s Werk. Es galt zunächst, die augenblickliche Noth zu lindern und den befruchtenden Samen für die Zukunft auszustreuen. Zu diesem Zwecke traf er die passendsten Finanzmaßregeln durch Ersparnisse, zweckmäßige Anleihen und Verwerthung der Domainen. Doch war es ihm nicht darum zu thun, nur palliative Hülfe zu schaffen, sein großer Geist erkannte als die wahren Quellen des Nationalwohlstandes die Freiheit der Personen und des Eigenthums. Wenige Tage nach seinem Wiedereintritt in den Staatsdienst erschien die Verordnung vom 9. October 1807, welche das ausschließliche Vorrecht des Adels auf den Besitz ritterschaftlicher Güter beseitigte, dagegen dem Adel die Freiheit gab, bürgerliche und bäuerliche Grundstücke an sich zu bringen, und bürgerliche Gewerbe zu treiben, ohne dadurch, wie dies bisher der Fall war, sein Ansehen und seine Privilegien einzubüßen. Weit tiefer noch griff die Aufhebung der auf dem Bauernstande lastenden Leibeigenschaft ein, welche mit Eintritt des 11. Novembers 1810 für gänzlich erloschen erklärt wurde. Mit dieser Maßregel wurde nicht nur ein tausendjähriges Unrecht gesühnt, sondern aus Sclaven freie Menschen gemacht, die jetzt erst, ihrer Würde sich bewußt, das Vaterland lieben lernten. Ebenso schuf Stein einen kräftigen Bürgerstand, der, von jeder bureaukratischen Bevormundung befreit, seine eigenen Angelegenheiten selbst verwalten sollte. Die preußische Städteordnung in ihrer ursprünglichen Gestalt ist das Muster eines vernünftigen Self-Governments. Mit dieser Schöpfung ging die Beseitigung des Zunftzwanges und ähnlicher Beschränkungen Hand in Hand, die das Aufblühen der Gewerbe und des Handels hinderten.

Eine gründliche Verbesserung der Provinzialstände sollte zu ihrer erhöhten Theilnahme am öffentlichen Leben leiten, und als Schlußstein des staatlichen Baues nach dem Abzuge der Franzosen das Institut der Reichsstände einberufen werden, um den König mit den Wünschen seines Volkes bekannt zu machen, ihm für das zweckmäßige Verfahren der obersten Regierungsbehörden Gewähr zu sein und ihr rathsames Gutachten bei neuen Gesetzen zu geben.

Dies waren die theils ausgeführten, theils erst projectirten Grundzüge einer Neugestaltung des Staates, mit denen sich noch ein verbesserter Unterricht der Jugend und die bewundernswürdige Reform des ganzen Heerwesens durch Scharnhorst zu einem System verband, das die Wiedergeburt Preußens zur Folge habe mußte. Diese großartigen Reformen übten nach allen Seiten eine unbeschreibliche Wirkung aus, indem sie den schlummernden Geist des Volkes weckten, die Liebe zum Vaterlande neu belebten, den Haß gegen die fremden Unterdrücker anfachten. Nur mit Unmuth wurde noch das Joch Napoleons ertragen, im Stillen aber alle Vorbereitungen zur Befreiung getroffen, indem sich Gleichgesinnte zu einer geheimen Gesellschaft vereinigten, welche unter dem Namen des Tugendbundes bekannt geworden ist und die Erhebung der Nation vorbereitete. Blieb auch Stein selbst derartigen Verbindungen fern, so theilte er doch die Hoffnungen der Patrioten, welche jubelnd den Aufstand in Spanien und die Rüstungen Oesterreichs zum erneuerten Kriege gegen Frankreich begrüßten.

Damals überreichte Stein dem Könige eine Denkschrift über die Lage Europa’s und die von Preußen zu befolgende Politik, worin er die Nothwendigkeit nachwies, sich mit dem Gedanken der Selbsthülfe vertraut zu machen. Er verschwieg dabei nicht die Gefahr, welche er muthvoll in’s Auge faßte. Unter seinem Einflusse verfaßte Gneisenau seinen Entwurf über Volksbewaffnung und Verbindung mit dem stehenden Heere, gab Scharnhorst sein Gutachten ab „über die dem österreichischen Hofe und England zu machenden Eröffnungen", die Stein mit der Bemerkung begleitete: „Der Krieg muß geführt werden zur Befreiung der Deutschen durch Deutsche. Auf den Fahnen des Landsturmes muß dieses ausgedrückt sein, und führt als ein Provinzialabzeichen eine jede Provinz ihr Wappen oder ihren Namen auf der Fahne. Man sollte nur eine Cocarde haben, die Farben der beiden Hauptnationen in Deutschland, der Oesterreicher und Preußen: Schwarz, Weiß und Gelb.“ — Der König prüfte diese Vorschläge mit strenger Gewissenhaftigkeit, hielt sie jedoch nur für ausführbar, wenn Rußland, das damals noch mit Napoleon verbunden war, seine Hülfe zusagte, und Oesterreich erst einen entscheidenden Sieg erfochten haben würde. Von einer Befreiung des Landes durch einen Volksaufstand wollte er nichts hören, da er zu einer Nation, die ihn 1806 so gänzlich verlassen, alles Zutrauen verloren hatte.

Stein gab darum nicht alle Hoffnung auf; er benutzte die Anwesenheit des russischen Kaisers, der sich auf Napoleon’s Einladung zu der Fürstenversammlung nach Erfurt begab, um ihn zum Bruch mit Frankreich zu bewegen und für die Befreiung Europa’s zu gewinnen. Noch war Alexander von Napoleon’s Glanz geblendet, von den Schmeicheleien des schlauen Corsen umstrickt, sodaß er alle derartigen Pläne zurückwies und Preußen von einer Coalition gegen Frankreich dringend abrieth. Dagegen versprach er sein Wort bei Napoleon dahin einzulegen, um die für Preußen unerschwingliche Contribution zu ermäßigen; zugleich wünschte er, daß Stein als preußischer Bevollmächtigter nach Erfurt kommen sollte. Schon hatte dieser die nöthigen Vorbereitungen zu der Reise getroffen und seine Vollmachten in Empfang genommen, als ihn die Nachricht traf, daß die überall thätige französische Polizei einen Privatbrief Stein’s, den dieser an den Fürsten Sayn-Wittgenstein gerichtet und dem Assessor Koppe anvertraut, aufgefangen und erbrochen hatte. Das Schreiben, welches die damaligen Verhältnisse und die daran sich knüpfenden Hoffnungen der Vaterlandsfreunde offen darlegte, war zuerst im Moniteur mit der Bemerkung veröffentlicht worden: „Wir glauben diesen Brief veröffentlichen zu müssen als ein Denkmal der Ursachen des Gedeihens und des Sturzes der Reiche. Er enthüllt die Denkungsweise des preußischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_603.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)