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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Eine Knaben-Armee unter Waffen.
Von K. N.

Die Olivenpflanzungen Elihu Burritt’s haben nicht gedeihen wollen. Die Welt kann sich nicht überzeugen, daß die Friedfertigen sich von den Händelsuchern müssen mit Füßen treten lassen. Sehr einsam stehen noch immer die Manchestermänner, welche verwundert fragen: „ob man nicht auch unter französischer Herrschaft Baumwolle spinnen und Geld machen würde?“ Jedes Volk, das sich nicht selbst aufgibt, hält es mit dem guten alten: „Ehrhaft, wehrhaft!“ Und wenn denn Europa wirklich ein Karpfenteich ist, wie Professor Leo meint, so wollen auch wir Deutsche lieber Hechte als Karpfen sein und uns in die gehörige Verfassung setzen, um jeder auswärtigen Macht etwaige freche Gelüste vertreiben zu können.

Sicheres und mustergültiges Mittel zu solchem Zwecke ist das Milizsystem, wie es in der Schweiz ausgebildet ist. Es verbürgt zugleich die innere Freiheit und äußere Unabhängigkeit. Neigung und Pflicht ist da Eins. Das friedlichste und arbeitsamste Volk der Erde ist zugleich das gerüstetste und kriegerischste. In der schweizerischen Anschauung ist Bürger und Soldat untrennbar, weil sonst der Bürger zum Unterthan eines einheimischen oder fremden Herrn herabsinken würde. Folge dieser Anschauung ist, daß die Schweiz kein stehendes Heer hat und doch in jedem Augenblick an Bundesauszug, Reserve und Landwehr (ohne die unorganisirte Landwehr und den Landsturm zu rechnen) gegen 200,000 waffengeübte Männer, mit einiger Anstrengung noch weit mehr, in’s Feld stellen kann. Auf diesem Fuße, der mit 4 bis 5 Millionen Francs eidgenössischer und kantonaler Ausgaben, also mit dem siebenten Theil der Militairkosten anderer Länder erzielt wird, könnte Deutschland gleichfalls acht Procent der Bevölkerung, also 3½ Millionen Streiter aufbringen und brauchte keine Welt in Waffen zu fürchten.

Als Voraussetzung oder doch wesentliche Erleichterung des Milizsystems muß allerdings gelten, daß fast die Säuglinge schon schießen lernen und die Jugend nicht blos im Turnen, sondern auch im Waffenwerk geübt werde. So ist es in der Schweiz. Dem zarten Knaben schon wird der Gedanke geläufig, daß er vor allen Dingen sich zum Vaterlandsvertheidiger ausbilden muß. Und fürwahr, zu dem Schönsten, was ein Menschenauge schauen kann, gehört die heranwachsende, frische Jugend in Wehr und Waffen. Dem denkenden Angehörigen dieser oder jener großen und breiten Nation von 30, 40 und mehr Millionen zuckt es krampfhaft durch die Brust und sein Auge verdüstert sich, wenn er im freien Alpenlande die wohlgeordneten Schaaren junger Soldaten mit blitzenden Bajonneten und wallenden Fahnen, mit rauschender Musik oder rasselnden Trommeln vorüberschreiten sieht und dann – der Heimath gedenkt! – –

Das schweizerische Cadettenwesen darf nicht nach deutschem Sprachgebrauch aufgefaßt werden; es ist nicht etwa ausschließlich dem Adel und den Officierssöhnen vorbehalten, sondern eine wirklich demokratische Einrichtung. Das erste bewaffnete Knabencorps finden wir schon gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts in der Stadt Bern. Doch erlangte die Waffenübung der Jugend erst allgemeinere Verbreitung, seit die helvetische Militairgesellschaft vor 80 Jahren anfing, auf Bildung von Cadettencorps hinzuwirken; die ausgezeichnetsten und berühmtesten Officiere widmeten sich der Sache mit Liebe und Sorgfalt. Ihre ersten Schöpfungen waren die Corps in Aarau, Sursen und Olten. Aarau hatte lange Zeit hindurch das schönste, größte und geübteste Corps; überhaupt ist das Cadettenwesen im Kanton Aargau am tiefsten eingewurzelt, und man trifft dort in allen größeren Ortschaften (Zofingen, Lenzburg, Brugg, Baden und noch einem Dutzend anderer) gut eingerichtete Corps. In den drei Vororten Zürich, Bern, Luzern war es Sitte, daß die Cadetten zu Ehren der Tagsatzung aufmarschirten, wie man denn auch sonst gern bei feierlichen Gelegenheiten diese Hoffnung des Vaterlandes bewaffnet vorführt. In Zürich bestand schon 1770 ein Knabencorps von Infanteristen und Artilleristen; seit Ausgang des vorigen Jahrhunderts schlief die Einrichtung zeitweise etwas ein, ist aber nach der Gesammtverjüngung des Kantons vom Jahre 1830 eifrig gepflegt worden. Außer der Hauptstadt gibt es Corps in Winterthur, Uster, Wald, Stäfa, Meilen, Horgen, Wädenswyl und andern Ortschaften am See. Bern, Biel, Thun, Burgdorf und viele andere Berner Städte üben seit 30 bis 40 Jahren ihre Schuljugend in den Waffen; von Staatswegen wird auch auf der Universität Bern und den beiden Lehrerseminaren für militärische Ausbildung gesorgt. Die Kantone Luzern, Solothurn, Baselstadt und Baselland, Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen, Appenzell-Außerrhoden, Glarus, Graubünden, Tessin, Waadt, Freiburg, Neuenburg erfreuen sich sämmtlich eines oder mehrerer Cadettencorps.

Fast in allen diesen Kantonen wird an den höhern und Mittelschulen (die Ausdehnung auf sämmtliche Schulen wird nicht lange ausbleiben) die Waffenübung gleich dem Turnen als Unterrichtsbestandtheil betrachtet und für jeden Schüler, den nicht körperliche Gründe verhindern, verbindlich gemacht. Die Cadettenzeit fängt mit vollendetem eilften Jahre an und dauert bis zum Alter von achtzehn und neunzehn Jahren. Der Exercirunterricht wird von kantonalen oder eidgenössischen Officieren und Instructoren ertheilt, gewöhnlich an zwei Nachmittagen wöchentlich, für die Reiferen einmal in der Woche. So lernt schon die Jugend Mannszucht; doch nicht blos im Gehorchen, auch im Befehlen wird sie geübt. Jedes Corps ist nämlich mit Officieren und Unteroffizieren aus seiner eigenen Mitte versehen; sie machen eine vortreffliche Schule durch, um später als Officiere in das eidgenössische Heer einzutreten. Alle gewesenen Cadetten, sowie sie zur Miliz übergehen, sind gesetzlich vom Recrutenunterricht befreit. Die Waffen werden vom Staat oder der Gemeinde geliefert; für die Uniform, die auch außer dem Dienst getragen werden darf, muß jeder Schüler selbst sorgen.

Die meisten Cadettencorps bestehen aus Infanterie (Jägern und Füsilieren); viele haben auch Artillerie, in Zürich z. B. 2 Zwei- und 2 Vierpfünder. In Aargau und einigen andern Kantonen sieht man sogar Grenadiere und Sappeure, nicht immer ohne Bart. Die Cavallerie wird überall hinzugedacht. Die Geschütze sind gewöhnlich Zwei- und Vierpfünder. Gewehr mit Bajonnet und Patrontasche, auch wohl noch Säbel und Tornister bilden die Bewaffnung und Ausrüstung der Infanteristen. In Erfindung verschiedener Uniformen hat die Phantasie das Mögliche geleistet. Durch einfache geschmackvolle Erscheinung zeichnen sich unter andern die Züricher Cadetten aus; sie tragen dunkelblauen Waffenrock mit weißen Metallknöpfen, helle blaugraue Beinkleider und dunkelblaue Mütze mit Cocarde. Jedes Corps hat eine oder mehrere Fahnen und Fähnlein. In vielen Kantonen gibt es tüchtige Musikcorps; andere, wie Zürich, nehmen billige Rücksicht auf die jugendlichen Lungen und begnügen sich mit soliden Trommeln nebst unentbehrlichem Tambourmajor.

Allenthalben ist es Sitte, das Schuljahr im Herbst mit einem Schulfest zu schließen, dessen Glanzpunkt der Ausmarsch und das Feldmanöver bildet. Die schweizerischen Jugendfeste, die auch bei den Volksschulen beliebt sind, haben sich einen wohlverdienten Namen erworben. In den Aargauischen Gemeinden ist am Cadettenfest die ganze Schuljugend, auch die weibliche in festlichem Schmucke, betheiligt. Zu den Feldübungen werden öfter Corps aus einem oder mehreren Kantonen zusammengezogen; bei solchen Gelegenheiten wogt Fröhlichkeit und Wetteifer der Jugend noch höher. So hielten die Berner Cadettencorps schon 1824 eine gemeinsame Uebung in der Nähe der Hauptstadt ab und haben seitdem fleißig damit fortgefahren. Im Jahre 1846 bezogen etwa 1000 Mann Aargauer ein Uebungslager bei Lenzburg; sie alle haben gewiß dies Cadettenfest, bei dem es überaus munter herging, in dankbarem Andenken behalten. Noch größerer Ruf ist dem heißen Kampf bei Wettingen zu Theil geworden, wo im Jahre 1821 die Aargauischen Cadetten mit den Zürichern und Winterthurern zusammen operirten. Zwei Brigaden mit 7 Geschützen, in einer Gesammtstärke von 1560 Mann, stritten dort um die Stellungen zwischen Wettingen und Baden; die ruhmvollste Affaire des Tages war die hartnäckige Vertheidigung und endliche Erstürmung der Wettinger Brücke. Alle ältern Waffenspiele dieser Art sind indeß durch das große ostschweizerische Cadettenfest vom September 1856 in Schatten gestellt worden. Dasselbe wird den vielen Tausenden activer und passiver Theilnehmer unvergeßlich bleiben, selbst wenn einmal ein vollständiger Zusammenzug sämmtlicher Cadettencorps der Schweiz zu Stande kommt. Zehn Kantone waren damals betheiligt: Aargau

stellte 974 Mann, Zürich 805, St. Gallen 472, Schaffhausen 186,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_636.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)