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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Graubünden 166, Außerrhoden 155, Luzern 148, Thurgau 111, Glarus 60, und selbst Tessin sandte eine Abordnung von 84 über den Gotthard. So zogen denn nicht weniger als 3161 junge Helden in den mannichfaltigsten, meist kleidsamen Uniformen, mit Musikcorps, 124 Trommeln, zahlreichen Bannern und 18 Kanonen von allen Seiten her in das festlich geschmückte Zürich ein. Bei Oerlikon und Schwamendingen in zwei Divisionen gegen einander aufgestellt, wiederholten sie mit Lust und Liebe das Treffen vom 4. Juni 1799, in welchem die Franzosen unter Massena von den Oesterreichern unter Erzherzog Karl geworfen wurden.

Die Jugend in Zürich, wie in andern Kantonen, kann sich nicht beklagen, daß ihr Körper über dem Geist vernachlässigt werde; zeitweise möchte sogar Uebertreibung der körperlichen Anstrengung zu besorgen sein. Die Kantonsschüler (Gymnasiasten und Industrieschüler, darunter eine Anzahl Ausländer, besonders Deutsche) turnen das ganze Jahr hindurch; ihr Soldatenleben ist jedoch auf das Sommerhalbjahr beschränkt und treibt seine schönsten Blüthen in den Monaten August, September und October. Im August findet seit alter Zeit das Knabenschießen für alle städtischen und sonstigen in der Stadt wohnenden Schüler statt. Dabei schießen die Kleineren mit aufgelegtem Gewehr, die Größeren aus freier Hand nach der Scheibe; eine große Anzahl von der Stadt und Privaten ausgesetzter Preise belohnt die Schwarztreffer und die ihnen zunächst stehenden glücklichen Schützen. Im September halten die Cadetten, sowohl Artilleristen als Infanteristen, ihr Zielschießen ab. Im October kommt das „Vorkämpfli“ und darauf das Jahresschulfest mit Turnspielen und großem Cadettenmanöver.

Beim diesjährigen Vorkämpfli, am 1. October, war der Feind, wie gewöhnlich, nur in der Einbildung vorhanden; dennoch wurde mit einem Eifer auf ihn geschossen, als wäre er von Fleisch und Blut. Es galt, einen Feind von Windikon bis zum Höckler zu verfolgen. (Für die Leser, welche in Zürich waren, führen wir die Ortsnamen an.) Man zog über die bedeckte Brücke von Außersihl aus und entsandte eine Umgehungscolonne durch die oberen Waldhöhen, während das Gros an der Sihl entlang das Gehölz und die Lichtungen säuberte. Beide Abteilungen vereinigten sich wieder bei der Höcklerbrücke und zogen dann auf die große Wollishofer Allmend, wo tüchtig im Feuer exercirt ward. Ein herrlicherer Platz für Truppenentfaltungen, als dies auf allen Seiten von Höhen umgebene tellerflache Sihlbecken, kann nicht gedacht werden; jedem Schusse antworten zahlreiche Echos. Die Züricher und eidgenössischen Truppen exerciren, schießen und lagern gleichfalls auf jener Allmend.

Das Jahresfest der Kantonsschule ging als Turntag und als Cadettentag vor sich. Das an die Schüler vertheilte Programm enthält die Reihenfolge der Begebenheiten, die Supposition des Manövers und einige nützliche Randbemerkungen in fetter Schrift: „Bahn frei! – Rauchen ist den Schülern am Feste untersagt! – Nicht hitzig! – Ladstock nicht vergessen! – Stets 120 Schritte Distanz!“ Morgens 6 Uhr wird Tagwache geschlagen von der Hauptwache aus in drei Richtungen. Das weit und breit verrufene Züricher Festwetter ist, wie schon seit ein Paar Jahren, nirgends zu blicken und vollkommen überflüssig wird die schreckliche Clausel des Programms: „Wenn bei üblem Wetter das Schlagen der Tagwache unterbleibt, so wird das Fest verschoben und ist von 8 Uhr an Schule.“ Durch die morgentlichen Herbstnebel bricht bald eine strahlende Sonne, zur Freude der Menschen und ihrer geliebten Reben; der Schlachttag ist so heiß, wie man sich ihn nur wünschen mag. Unter Leitung des trefflichen Turnlehrers Niggeler wurden am 5. October Vormittags Riegen- und Wettturnen abgehalten, Nachmittags Frei- und Ordnungsübungen ausgeführt. Gegen Abend Eröffnung des Urtheils der Kampfrichter und Vertheilung der Turnpreise.

Am zweiten Tage eilt die gesammte Mannschaft, gegen 500 Köpfe stark, in Uniform und Waffen um 7 Uhr zur Kaserne und marschirt auf den Platz beim Bahnhof, wo von 8 bis 10 Uhr der Director der Waffenübungen, Oberst Ziegler (Regierungsrath und Vorsteher des Militairdepartements, also nach monarchischer Sprachweise Kriegsminister), in Begleitung einer Abordnung der Aufsichtscommission, die große Inspektion über seine „jungen Cameraden“ vornimmt. Um 12½ Uhr sammelt sich das Cadettencorps wieder bei der Kaserne, um die Munition zu fassen, und marschirt um 1 Uhr zum Manöver aus. Es ist in zwei kleine Heere getheilt, deren jedes aus Centrum, rechtem und linkem Flügel und Reserve besteht. Der Feind rückt unter dem Befehl des Oberstlieutenants v. Escher über Riesbach und Zollikon in seine Stellung. Das eidgenössische Corps, von Commandant Nadler geführt, nimmt seinen Weg über Hirslanden und den Balgrist. Es ist nämlich auf den Höhen oberhalb Zollikon in der Gegend von Wytellikon der rechte Flügel eines auf dem rechten Seeufer gegen Zürich anrückenden feindlichen Corps angekommen und hat dort Halt gemacht, nachdem er durch die vorgesandten Recognoscirungspatrouillen und Kundschafter erfahren, daß das Burghölzli und die Höhen des Balgrist von den in und um Zürich stehenden eidgenössischen Truppen in der Absicht besetzt seien, das weitere Vordringen des Feindes über Hirslanden zu verhindern. Die Eidgenossen greifen um 3 Uhr den Feind in seiner Bergstellung an, werden aber trotz wiederholter Versuche nachdrücklich abgeschlagen und sind genöthigt, sich vor dem nunmehr über Unter- und Oberried offensiv vorgehenden Feinde zurückzuziehen, was indes; in guter Ordnung und unter mehrmaliger Bestreitung des Terrains geschieht. Zwar wird eine Seitencolonne abgeschnitten, aber der Feind muß große Opfer bringen, bis er das mörderische Feuer der auf der Oberrieder Höhe sehr günstig aufgestellten eidgenössischen Artillerie zum Schweigen bringt und sodann in der Niederung weiter vordringt.

Der Kampf bietet manche malerische Momente dar. Nirgends wird man ein so mannichfaltiges, zerschnittenes Gefechtsterrain finden, wie im schweizerischen Vorlande. Namentlich in der Gegend von Zürich hat man nur die Verlegenheit der Auswahl. Für die Jäger gibt es überall Deckungen und Verstecke, die Linie kann sich nach Bedürfniß ihre Stellungen aussuchen und der Artillerie stehen die bequemsten Höhen zu Gebote, um Thal und Ebene zu beherrschen. Beim diesjährigen Manöver haben die Führer Mühe, den ausgebrochenen Jägerketten die Schüsse im Lauf zu bannen, bis sie in gehöriger Nähe angelangt sind. Endlich fällt der erste Schuß und gibt das Zeichen für unzählige Nachfolger. Eine wahre Freude ist’s, zu beobachten, wie die Plänkler sich beim freien Vorlauf so klein wie möglich machen, wie sie geschickt jeden Vortheil des Bodens benutzen, wie sie jedem Schusse den Erfolg zu sichern trachten. Dieser oder jener dünkt uns ein hübscher kleiner Zuave. Sogar Anlagen zu Turcos entwickeln sich: Einer ladet sein Gewehr, platt auf dem Rücken liegend, ein Anderer schnellt sich im Tigersprung vorwärts. In die Jägerkette beordert zu werden, gilt für ein besonderes Glück; da gilt der Mann noch etwas, hat freie Bewegung und Patronen vollauf. Doch auch dem Gros, das festgeschlossen und in strenger Ordnung operiren muß, wird vergönnt, seinen Grimm in reichlichem Rottenfeuer und donnernden Bataillonssalven zu entladen. Mit innigem Vergnügen hören wir hundert Gewehre auf Commando einen einzigen Schuß abfeuern und schauen der wohlriechenden Pulverwolke nach. Zur Abwechslung schließen wir uns der wackern Artillerie an. Zwar hat sie noch keine gezogenen Kanonen, aber darum ist sie nicht minder beflissen, kaltblütig zu zielen und den Feind von ihrem Dasein gründlich zu überzeugen. Ab- und aufgeprotzt wird so flink, wie in erwachsenen Armeen auf schwierigem Gelände schleppen die stämmigen jungen Kannoniere selbst ihre Stücke.

Der „Cadettenvater,“ Oberst Ziegler, begleitet als Unparteiischer die Schlacht und geht auf der Wahlstatt hin und her, schmunzelnd, wenn einer Abtheilung ein rechter Schlag gelungen. Sobald die „sich rückwärts concentrirenden“ Eidgenossen bei ihren günstigen Aufnahmepositionen angelangt sind, halten sie gebührend Stand und bieten jedem fernern Angriff Trotz. Der Feind überzeugt sich, daß die eidgenössischen Streitkräfte den seinigen vollkommen gewachsen sind und ein weiteres Vordringen nicht möglich ist. Er macht Halt und bricht das Gefecht ab. Selbstverständlich muß zu guter Letzt immer das weiße Kreuz im rothen Felde Meister bleiben.

Schon manches Manöver ist ohne allen Unfall abgelaufen, heute aber ist wieder einmal ein tückischer Ladstock stecken geblieben und einem Cadetten durch den linken Oberarm gefahren, glücklicher Weise so, daß schlimme Folgen nicht zu befürchten sind. Die jungen Hitzköpfe finden gar leicht, daß bei den 150 Schritt Entfernung eine Null zu viel stehe. Auch ein Zuschauer hat durch einen zweiten desertirten Ladestock eine leichte Verletzung davongetragen; das bei dem beliebten Volksfeste zahlreich versammelte Publicum mischt sich eben sorglos in’s Schlachtgetümmel. Sogar die europäischen Diplomaten, die seit acht Wochen in Zürich mit vereinigten Kräften dem Nichtsthun obliegen, sind ziemlich vollzählig zugegen

und werden ohne allen Zweifel ihren Regierungen mit glühender

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 637. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_637.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)