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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

gewesen, etwas für sie zu thun. Seitdem sie selber so glücklich war, wie nur Jemand sein kann, erschien ihr das öde, traurige Leben Emilien’s noch unendlich beklagenswerther als einst, und der Gedanke daran war der Wermuthstropfen in ihrem Freudenbecher. Sie verdankte ihr so viel und hatte sie so lieb, dennoch vermochte sie ihr nicht einmal ein Vergnügen zu machen, denn Emilie war ja für Alles unempfindlich, was nicht das Putzmachen betraf. Es war all’ ihren Bitten und Ueberredungskünsten nicht gelungen, sie ein wenig geselliger zu machen, selbst in ihrem häuslichen Kreise, unter Alinen’s lieblichen Kindern, fühlte sie sich nicht recht behaglich. Sie nahm zwar herzlichen Antheil an ihrem Wohlergehen, doch nur aus der Ferne.

Für heute hatte sie endlich die Erzählung ihrer Geschichte zugesagt. Die jetzige Principalin und ihr Mann waren ausgegangen und für Vermeidung jeder Störung gesorgt. Emilie erzählte schlicht und mit gesenkter Stimme ihre Geschichte, die so einfach und alltäglich war, nun sie in Worte gekleidet wurde, daß sie sich selber fast darüber wunderte, wie diese unbedeutenden Begebenheiten der Inhalt eines ganzen Menschenlebens sein und es mit so namenlosem Glück und doch auch wieder mit so unsäglichem Leid erfüllen konnten.

„Mein Vater war früh gestorben, und die Mutter ernährte mich und meine Schwestern kümmerlich genug dadurch, daß sie einigen jungen Leuten Mittagessen gab,“ erzählte sie, indem sie, gewohnt unausgesetzt zu arbeiten, auch jetzt Drahtstäbe zu einem Hutgestell zusammenbog. „Wir mußten von Jugend auf fleißig sein, und ich kann nicht sagen, daß ich dazu unlustig war. Meine älteste Schwester, die später starb, hatte ein kleines Putzgeschäft, und ich war von jetzo ihre fleißigste Gehilfin; schon als kleines Kind machte ich Hauben und Hüte, nicht nur für meine Puppen, sondern auch für die aller meiner Bekannten, weil sie das selber nicht so gut verstanden. Nach dem Vergnügen, etwas recht zierliches zu machen, kannte ich kein größeres, als es wegzuschenken; mein Lebelang begriff ich nie, daß Jemand lieber nehmen, als geben kann; ich hätte am liebsten mein kleines Herz fortgegeben. Uebrigens geschah das auch bald genug. Der Stiefsohn Ihrer Schwiegermutter, Aline, war nach dem Tode seines Vaters zu seiner Großmutter gekommen; sie war indeß auch bald gestorben, ohne ihm viel zu hinterlassen, Madame Albrecht konnte ihn nicht besonders unterstützen, weil sie sich selber in sehr beschränkten Verhältnissen befand, dennoch wollte er Abiturient werden und dann das Bergfach studiren. Er war einmal davon überzeugt, daß er seinen Vorsatz verwirklichen werde, obgleich jeder Andere daran verzweifelt hätte. – Er aß bei uns, und ich lernte ihn kennen, als ich kaum fünfzehn Jahr alt war. Was soll ich Ihnen davon viel erzählen? Ich habe in meiner Einsamkeit das Reden fast verlernt, verstehe nicht schöne Worte zu machen und dann können wohl auch die allerschönsten nicht ausdrücken, was man eben erleben muß, um es zu verstehn. Jung sein, lieben und geliebt werden, das heißt von Allem nichts wissen, was es Drückendes im Leben geben mag, und an kein Leid glauben, und doch macht der Schmerz sich uns später nur zu sehr fühlbar. – Es dauerte lange, ehe wir von Blicken zu Worten kamen, aber wir waren ja Beide noch sehr jung, und es ist nicht gerade der kleinste Genuß, in den Augen die Gefühle zu lesen, welche noch nicht auf die Lippen zu treten wagten. Bald wurde Gustav wie ein Glied unserer Familie betrachtet, denn die Meinigen gewannen ihn Alle sehr lieb. Wenn er Zeit hatte, las er uns bei unserer Arbeit vor, oder er ging mit uns spazieren. Meine Mutter beachtete es nicht, daß wir nur Sinn für einander hatten und Gustav stets in meiner Nähe war; sie meinte, es sei eine Kinderei, über die wir später lachen würden, und sollte es sich zufällig schicken, daß wir ein Paar würden, so hatte sie auch nichts gegen den Schwiegersohn. So vergingen uns einige Jahre schnell und angenehm wie ein Traum. Wenn ich später an jene Zeit dachte, schien es mir oft, ein ganzer trüber, sonnenloser Lebenstag sei mit einem solchen Lebensmorgen nicht zu theuer erkauft. Aber das Menschenherz ist so ungenügsam, und je größer ein Glück war, desto tiefer fühlt man eben seinen Verlust.“

„Wie sah denn Gustav aus – war er hübsch?“ fragte Aline, als die Erzählerin bewegt schwieg. Ein leichtes Lächeln trat auf die farblosen Lippen der alten Jungfer, als sie sagte:

„Das ist eine verfängliche Frage, liebe Aline; welches Mädchen hält den Geliebten nicht für den schönsten Mann, den es gibt? Aber Gustav war wirklich nicht häßlich – mit einem Wort, er sah aus wie der Baumeister. Beide ähneln wohl ihrem Vater. Auch hatte er ähnliche Gesinnungen, wie der Baumeister, was die Bildung angeht. Er sprach am liebsten nur mit Leuten, die viel wissen, und verlangte auch von den Frauen, daß sie von Allem mitreden können, wenigstens Sinn und Verstand für Alles haben, was Großes und Gutes in der Welt ist und passirt. Freilich merkte ich das erst viel später – damals war er noch ein bloßer Jüngling, und wenn wir mit einander plauderten, so war es gewöhnlich nicht von gelehrten Sachen. Und redete er einmal davon, so hörte ich ihn gern an und gab auch wohl meine Meinung dazu, denn die Worte gingen mir flink genug vom Munde. Auch war ich nicht auf den Kopf gefallen und hatte große Lust, von Allem etwas wegzubekommen und zu lernen und zu denken. Es mag Ihnen das sonderbar vorkommen, Aline, wenn Sie mich ansehen, wie ich jetzt bin und schon lange bin. Aber es vergeht Einem Manches im Leben, und Sie mögen mir glauben, daß ich damals vielleicht alles Mögliche hätte lernen können und so klug und gebildet und geistreich werden, wie irgend Eine.“

Die junge Frau glaubte das gern. War sie doch auch einst ein unwissendes Mädchen gewesen und hatte sich geistig so schnell gebildet, daß man ihre vielseitige Entwickelung bewunderte. Zugleich regte sich wieder in ihren, Herzen die heiße Dankbarkeit gegen das geistig verkümmerte Wesen, welches ihr die Mittel zu höherer Bildung gegeben hatte, und sie hätte einen Funken der göttlichen Allmacht besitzen mögen, um Emilien’s Vergangenheit auszulöschen und sie wieder jung zu machen. Diese war selber viel weniger schmerzvoll bewegt, wie sie; wenigstens fütterte sie emsig den Schirm ihres Hutgestells, und der rosenfarbene Stoff, auf welchen sie sich herabbeugte, warf einen Schimmer von der Röthe der Jugend auf ihr verblühtes Gesicht. Oder war es die Erinnerung, welche die eingefallenen Wangen lebenswarm anhauchte?

„Gustav sollte jetzt Abiturient werden,“ fuhr sie fort. „Wir hatten die herrlichsten Pläne für die Zukunft gemacht und zu ihrer Verwirklichung fehlte nichts weiter, als Geld. Tag und Nacht sann ich darüber, wie ich welches erwerben könnte, um es Gustav heimlich zukommen zu lassen. Er war zu stolz, etwas von mir anzunehmen, überhaupt da er wußte, daß wir selber nichts übrig hatten. Ich faßte den Entschluß, Directrice zu werden, und war unbeschreiblich glücklich, als zufällig gerade die Stiefmutter Gustav’s mich engagirte. Jetzt durfte ich nicht mehr darum sorgen, wie ich ihm Geld zukommen ließ, ohne ihm weh zu thun. Madame Albrecht gab meiner Bitte nach und sandte ihm meinen Gehalt in ihrem eigenen Namen; er wußte nicht, wie ihre Verhältnisse standen, und nahm die Unterstützung von der Frau seines Vaters dankbar an. – Der Abschied war mir nicht schwer geworden, ich war so glückselig, wie sich’s gar nicht beschreiben läßt, daß ich ihm die Mittel schaffen konnte, zu werden, was er werden wollte, sonst aber nicht hätte werden können. All’ mein Denken und Trachten richtete sich auf meine Arbeit, denn ich hatte gegen Madame Albrecht die Verpflichtung übernommen, Außerordentliches zu leisten; auch arbeitete ich ja für ihn. Wie hätte ich mir da Rast gönnen sollen, oder was brauchte ich überhaupt Erholung? Ich hatte früher die Musik und den Tanz geliebt, gern gelesen, auch einen Spaziergang oder eine fröhliche Unterhaltung gern gehabt, jetzt gab ich Alles das auf; ich hatte ja nicht Zeit dazu, jeder Augenblick, in dem ich nicht arbeitete, erschien mir als Zeitverschwendung. Mit siebzehn Jahren ist man noch nicht über die Eitelkeit hinaus; ich hatte mich früher gern zierlich gekleidet, schon um Gustav zu gefallen. Jetzt konnte ich keine Sorgfalt mehr darauf verwenden, das kostete Zeit und Geld, und Beides brauchte ich für ihn, und dann tröstete ich mich auch damit, daß er mich nicht sah. Ermüdung und Langeweile, oder Ueberdruß und Mißstimmung kannte ich nicht. Fielen mir Nachts, wenn ich einsam bei der Lampe saß, auch zuweilen die ungehorsamen Augenlider zu, dann raffte ich mich schnell und fröhlich wieder auf. Ich lachte im Stillen darüber, wenn Madame Albrecht sagte, ich brächte meine schönste Lebenszeit ungenossen zu, werde mich mit meinem Fleiß krank machen. Ich dauerte die gute Frau sogar, weil sie nicht aus Erfahrung wußte, daß es für mich keinen größeren Genuß geben konnte, als zu denken: Dein Gustav kann werden, was er will, er braucht sich nicht das Nothwendige abgehen zu lassen, und Dein Fleiß, Deine Geschicklichkeit ist es, was ihn vor Mangel schützt. Krankheit fürchtete ich nicht; ich war ja jung, ich arbeitete gern unausgesetzt, und es

geschah nicht aus schnöder Habsucht – Gott mußte mir also Kraft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_648.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)