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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

Familiengemälde zu einer Tragödie von wahrhaft geschichtlicher und politischer Bedeutung.

Alle Wünsche aber, alle Hoffnungen und Träume einer nach Freiheit dürstenden Seele strömte der Dichter in seinem „Don Carlos“ aus. Noch heute, in einer den materiellen Interessen nur zu sehr hingegebenen Zeit, wirkt der ideale Gehalt dieses Trauerspiels stets begeisternd auf die Menge und vor Allem auf das Herz der Jugend, deren Lieblingsheld der edle, hochherzige Marquis Posa geworden ist; noch heute, Gott und dem Dichter sei dafür gedankt, wecken die Verse des todesmuthigen Schwärmers für Menschenwürde und Völkerwohl ein tausendfältiges Echo in unserem Vaterlande, rütteln sie ein nur zu oft der Lethargie oder der Blasirtheit verfallenes Geschlecht aus seinem Schlaf, wenn die erhabene Mahnung, für den Tyrannen Philipp bestimmt, an sein Herz pocht:

 Sehen Sie sich um
In seiner heiligen Natur! Auf Freiheit
Ist sie gegründet – und wie reich ist sie
Durch Freiheit! Er, der große Schöpfer, wirft
In einen Tropfen Thau den Wurm, und läßt
Noch in den todten Räumen der Verwesung
Die Willkür sich ergötzen – Ihre Schöpfung
Wie eng und arm! Das Rauschen eines Blattes
Erschreckt den Herrn der Christenheit – Sie müssen
Vor jeder Tugend zittern. Er – der Freiheit
Entzückende Erscheinung nicht zu stören –
Er läßt der Uebel grauenvolles Heer
In seiner Welt blind toben – ihn,
Den Künstler, wird man nicht gewahr; bescheiden
Verhüllt er sich in ewige Gesetze!
Die sieht der Freigeist, doch nicht ihn. Wozu
Ein Gott? sagt er: die Welt ist sich genug,
Und keines Christen Andacht hat ihn mehr,
Als dieses Freigeists Lästerung, gepriesen. –

Aber für Schiller in seiner fortwährenden Entwickelung war die Freiheit kein bloßer abstracter Begriff, das Vaterland kein leerer Schall, das Volk kein eitles Wort. Ueber die Liebe zur Menschheit vergaß er nicht sein Volk, das deutsche Volk, dessen Größe und Erhebung ihm vor Allem am Herzen lag. Er wollte es stark durch Einigkeit und geachtet wissen; tief empfand er die Schmach und Erniedrigung desselben unter einheimischer Tyrannei und dem Drucke fremder Eroberer. Schon in seinem „Wallenstein“ deutete er auf unser Grundübel hin, auf unsere nationale Zerrissenheit:

Was geht der Schwed’ mich an? Ich hasse ihn, wie
Den Pfuhl der Hölle und mit Gott gedenk’ ich ihn
Bald über seine Ostsee heimzujagen.
Mir ist’s allein um’s Ganze. Seht! Ich hab’
Ein Herz, der Jammer des deutschen Volkes erbarmt mich.

Selbst der Ehrgeiz eines Wallensteins schreckt nicht vor dem Abfall von seinem Kaiser, aber wohl vor dem Verrathe am Vaterlande zurück; er fragt darum:

Wie war’s mit jenem königlichen Bourbon,
Der seines Volkes Feinden sich verkaufte
Und Wunden schlug dem eignen Vaterland?
Fluch war sein Lohn, der Menschen Abscheu rächt
Die unnatürlich frevelhafte That.

Aus diesem wahren, aber keineswegs beschränkten Patriotismus entsprang die herrliche Gestalt der „Jungfrau von Orleans“, welche ihr gottgeweihtes Schwert gegen die Unterdrücker ihres Volkes zieht. Der Dichter wurde wieder zum Seher, der seiner Zeit vorauseilte und den künftigen Freiheitskampf verkündigte. In der stillen Werkstätte der Gedanken erschien ihm der Genius und offenbarte ihm die Geschicke seiner Nation: nicht durch die Macht der uneinigen Fürsten, durch die Tapferkeit des übermüthigen Adels, sondern nur durch den Geist des Volkes sollte einst das Vaterland gerettet aus seiner größten Schmach wieder auferstehen; wie Frankreich durch die gottbegeisterte Jungfrau von niederer Geburt sich von Neuem erhoben hatte. In dem Volke erkannte Schiller mit welthistorischem Blicke die Elemente einer neuen besseren Zeit, den Träger einer großen Zukunft. Wie in allen seinen Werken, so bekundete er auch hier seine Liebe, sein Vertrauen zu dem Volke, dem er das Höchste zumuthete. Vorzugsweise aber war es wieder die deutsche Nation, welche er im Auge hatte, obgleich er die Geschichte seines Drama’s, sei es Zufall oder weise Absicht, dem französischen Boden entlehnte. Unter seiner Hand jedoch erhielt der fremde Stoff ein vaterländisches Gepräge, ähnlich den heidnischen Altären, welche dem Christenthume dienen, gleich dem Schwerte, das ein tapferer Krieger dem Feinde entreißt, um ihn selbst damit zu bekämpfen.

Mit Recht erinnert sich daher die edle Königin Louise von Preußen in einem ihrer schönsten Briefe aus dem Jahre 1809 in ihrem tiefsten Schmerze an den hingeschiedenen Dichter der Jungfrau, von dem sie folgendermaßen an eine Freundin schreibt: „Auf den Bergen ist die Freiheit!“ Klingt diese Stelle, die ich erst jetzt verstehe, nicht wie eine Prophezeiung, wenn Sie auf das Hochgebirge blicken, das sich auf den Ruf seines Hofer erhoben hat? Welch ein Mann, dieser Andreas Hofer! Ein Bauer wird ein Feldherr und was für einer! Seine Waffe – Gebet, sein Bundesgenosse – Gott! Er kämpft mit gefalteten Händen, kämpft mit gebeugten Knieen und schlägt wie mit dem Flammenschwerte des Cherubs! Und dieses treue Schweizer-Volk, das meine Seele schon aus Pestalozzi angeheimelt hat! Ein Kind an Gemüth, kämpft es wie die Titanen mit Felsstücken, die es von seinen Bergen niederrollt. Ganz wie in Spanien! Gott, wenn die Zeit der Jungfrau wiederkäme und wenn der Feind, der böse Feind doch überwunden würde, überwunden durch die nämliche Gewalt, durch die einst die Franken, das Mädchen von Orleans an der Spitze, ihren Erbfeind aus dem Lande schlugen! – Ach, auch in meinem Schiller hab’ ich wieder und wieder gelesen! Warum ließ er sich nicht nach Berlin bewegen? Warum mußte er sterben? Ob der Dichter des Tell auch verblendet worden, wie der Geschichtsschreiber der Eidgenossen? (Johannes von Müller, der französischer Staatsrath wurde.) Nein! Nein! Lesen Sie die Stelle:

Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre!

„Kann diese Stelle trügen? – Und ich kann noch fragen: warum er sterben mußte? Wen Gott lieb hat in dieser Zeit, den nimmt er zu sich.“

Bewundern wir in Schillers Jungfrau seinen Seherblick, womit er die künftige Größe und Bedeutung des Volkes ahnte, so müssen wir noch weit mehr den welthistorischen Sinn anstaunen, der uns aus seinem „Tell“ entgegen leuchtet. Schillers Idealismus, den man ihm so oft und stets mit Unrecht zum Vorwurf macht, wird immer von dem Geiste der Geschichte so lebenskräftig durchströmt, daß sich Beide gegenseitig ergänzen und durchdringen. Solch eine Ergänzung zu der idealen Jungfrau bildet sein Tell; dort die gottbegeisterte Schwärmerin, hier der besonnene Mann, dort die Idee, hier die That, dort das evangelische Wunder des Glaubens, hier der mächtige Impuls der selbstbewußten Freiheit. Beide Werke verhalten sich zu einander wie der Mann zur Frau, wie die dunkle Ahnung zu dem klaren Wissen. Der Dichter selbst hat in seinem letzten Drama das Wesen der Freiheit auch am tiefsten erfaßt. Nicht der Einzelne, so hoch er auch stehen mag und sei er selbst ein Mann wie Tell, vermag mehr das große Werk allein zu thun; dazu bedarf es aller Kräfte, aller Stände, aller Parteien im Vaterlande. Das Volk selbst muß zum Helden werden in dem Drama seines Freiheitskampfes. Adel und Bürger, Landmann und Handwerker müssen sich einst die Hände reichen, um die Despoten zu verjagen. In diesem Sinne ruft der edle Attinghausen dem verführten Rudenz zu:

Lern’ dieses Volk der Hirten kennen, Knabe!
Ich kenn’s, ich hab’ es angeführt in Schlachten.
Ich hab es fechten sehen bei Farenz.
Sie sollen kommen, uns ein Joch aufzwingen,
Das wir entschlossen sind nicht zu ertragen!
O, lerne fühlen, welchen Stamms du bist!
Wirf nicht für eitlen Glanz und Flitterschein
Die echte Perle deines Werthes hin –
Das Haupt zu heißen eines freien Volks,
Das dir aus Liebe nur sich herzlich weiht,
Das treulich zu dir steht im Kampf und Tod –
Das sei dein Stolz, des Adels rühme dich.
Die angebornen Bande knüpfe fest,
An’s Vaterland, das theure, schließ dich an,
Das halte fest mit deinem ganzen Herzen.

Und sterbend mahnt der Greis die Seinigen zur Eintracht:

Drum haltet fest zusammen – fest und ewig –
Kein Ort der Freiheit sei dem andern fremd –
Hochwachten stellet aus auf euren Bergen.
Daß sich der Bund zum Bunde rasch versammle.
Seid einig – einig – einig.

Ist es nicht, als hätte Schiller selbst, von einer plötzlichen Ahnung seines eigenen nahen Todes ergriffen, im Tell ein Vermächtniß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_667.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)