Seite:Die Gartenlaube (1859) 684.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

konnte es sich doch leicht ereignen, daß das Hochpreisliche Oberconsistorium Nein sagte. Der Behördengang nahm zu jenen Zeiten oft wunderliche, labyrinthische Richtungen, mindestens wäre die Sache durch Competenzfragen etc. in’s ungewisse Weite hinausgeschoben worden. Nun waren dem Todtengräber zum Zwecke der Ausräumung des Cassengewölbes bereits die Schlüssel vom Landschaftscollegium übergeben worden; also die Zeit drängte! Der Todtengräber war als städtischer Diener Untergebener des Bürgermeisters. Diese seine Stellung benutzte mein Vater, allerdings mit einer unzweifelhaften Ueberschreitung seiner Competenz, wegen deren ihm gewiß heutzutage Niemand mehr zürnen wird. Er verpflichtete den Todtengräber Bilke und drei als zuverlässige Männer ihm bekannte Arbeiter zum tiefsten Stillschweigen, und mit ihnen nur von einem treuen Diener begleitet begann er in der Stille der Mitternacht am 19. März 1826 die neuen Forschungen im Reiche der Todten.

Einzeln und ohne Laternen fanden sich die sechs Männer in jener Nacht am Cassengewölbe ein. Mit der äußersten Vorsicht und Stille wurde die Thüre desselben geöffnet und mit einer der dort bereit gehaltenen Laternen stieg einer von den Arbeitern hinab in die Todtengruft, und hier erst wurde die Laterne angezündet, worauf die Anderen nachfolgten und noch einige Lichter anzündeten.

Mein Vater ließ sämmtliche Sargtrümmer auf einen Haufen, auf einen zweiten alle Gebeine, und auf einen dritten Haufen die Schädel sammeln. Daß dies keine kleine Arbeit war, wird man begreifen, wenn man bedenkt, daß es galt, ein Chaos von dreiundzwanzig Begrabenen und deren Särgen zu entwirren. Auch dauerte die Arbeit drei Nächte hindurch, jedesmal von zwölf bis gegen drei Uhr. Mein Vater saß bei diesen Nachforschungen auf einer Sprosse der Leiter, die von der Oberwelt herabführte, und dirigirte von hier aus die Arbeiter. Durch eifriges Tabakrauchen suchte er sich den Aufenthalt in der vom abscheulichsten Moderduft erfüllten Atmosphäre erträglich zu machen.

In der dritten Nacht halb drei Uhr wurden die unterirdischen Arbeiten beendet. Kein Winkel war undurchsucht geblieben, selbst die obere Erdschicht war durchwühlt worden. Das Resultat der Nachsuchungen waren dreiundzwanzig Schädel, die mein Vater in einen Sack packen und in seine Wohnung tragen ließ. Hier wurden sie auf einer Tafel neben einander aufgestellt, und hier war es, wo die Phrenologie (oder Schädellehre), welche damals wie jetzt weniger Bekenner zählte, als sie verdient, einen stillen, aber großen Triumph feierte. Denn wie der Gott unter den Hirten, so hob sich unter den drei und zwanzig Schädeln einer herrlich und mächtig hervor, ausgezeichnet durch Größe und regelmäßige edle Formation. Mein Vater war kein Phrenolog, aber gleichwohl rief er, als er die aufgereihten Schädel überblickte, auf einen derselben zeigend, sofort aus: das muß Schiller’s Schädel sein! Er holte nun den Klauer’schen Gypsabguß herbei und stellte mit dem Schädel vergleichende Messungen an, welche ihm die Ueberzeugung gaben, daß der wirkliche Schiller’sche Schädel gefunden war. Noch einmal aber mußte er sich entschließen, einen nächtlichen Gang in die Gruft des Cassengewölbes zu machen. Derselbe galt der Aufsuchung der zum Schädel gehörigen Kinnlade. Der Schädel wurde mit an Ort und Stelle genommen, und hier die aus den übrigen Gebeinen hervorgesuchten Kinnladen daran gepaßt. Bald fand sich auch eine solche, die genau in die Gelenkflächen des Schädels paßte. Nach Haus zurückgekehrt, versuchte mein Vater, die gefundene Kinnlade den übrigen 22 Schädeln anzupassen; doch der für den Schiller’schen erkannte Schädel war bei der beträchtlichen Größe des Abstandes der beiderseitigen Gelenkflächen der einzige, an welchen diese Kinnlade paßte.

Sehr beweiskräftig für die Echtheit des Schiller’schen Schädels war der Umstand, daß an demselben, wie an der dazu gehörigen Kinnlade die sämmtlichen, wohlerhaltenen und gesunden Zähne noch vorhanden waren, mit Ausnahme eines einzigen fehlenden Zahnes der unteren Reihe. An sämmtlichen übrigen 22 Schädeln waren die Gebisse äußerst schadhaft, an vielen fehlten die Zähne bis auf einzelne Stifte ganz, an anderen waren sie höchst unvollständig und schadhaft. Alle aber, die Schillern persönlich gekannt hatten, erinnerten sich noch wohl, daß derselbe bis zu seinem Tode sich eines vortrefflichen, durchaus gesunden Gebisses erfreut hatte. Nur einen einzigen Zahn hatte sich Schiller, wie sein damaliger Bedienter bekundete, ausziehen lassen, als er in Jena Professor war.

Seine persönliche Ueberzeugung von der Echtheit des kostbaren Fundes genügte meinem Vater nicht. Er lud eine Anzahl Personen, welche Schillern genau gekannt hatten, zu sich ein und führte Jeden einzeln in das Zimmer, in welchem die dreiundzwanzig Schädel auf einer großen Tafel in Reihe und Glied aufgestellt waren. Ohne Ausnahme erklärten Alle nach kurzer Beschauung einen und denselben Schädel für den Schiller’schen.

Die vergleichenden Messungen, welche mein Vater an dem aufgefundenen Schädel und an dem Klauer’schen Gypsabguß vorgenommen hatte, wurden auf sein Ersuchen von den drei angesehensten Aerzten der Stadt wiederholt angestellt, und ergaben das Resultat, daß der Schädel ganz unzweifelhaft derselbe sein müsse, über welchen jener Abguß genommen worden war, während die Maße bei keinem der übrigen zweiundzwanzig Schädel, die sämmtlich viel kleinere Dimensionen zeigten, auch nur annähernd zutrafen.

Endlich möge nicht unerwähnt bleiben, daß mein Vater sich die Acten des Landschaftscollegiums über die Beisetzung von Leichen in das Cassengewölbe zur Durchsicht erbat. Aus denselben ging hervor, daß seit der letzten Ausräumung des Gewölbes dreiundzwanzig Leichen in dasselbe beigesetzt worden waren, welche Zahl mit der der aufgefundenen Schädel übereinstimmte. Schiller’s Schädel mußte also darunter sich befinden.

Nachdem so die Echtheit des Fundes constatirt war, begab sich mein Vater mit demselben zunächst zu Goethe, dem er referirte, wie es ihm gelungen sei, den theuern Ueberrest der Vernichtung zu entziehen. Mit dem lebendigsten Interesse hörte Goethe die Mittheilungen meines Vaters an, und die tiefste Rührung war auf seinen edlen Zügen sichtbar, als er nun den Schädel in die Hand nahm und ihn sinnend betrachtete. „Da, sehen Sie,“ sprach Goethe nach langem Schweigen, „sehen Sie diesen eigenthümlichen horizontalen Streifen an der oberen Zahnreihe. An ihm allein würde ich Schiller’s Schädel aus Tausenden heraus erkannt haben. An keinem Menschen, außer an Schiller, habe ich diese Eigenheit je bemerkt.“

In der That war ein die obere Zahnreihe entlang laufender horizontaler feiner Streif sichtbar, der in der besonderen Structur von Schiller’s, übrigens vortrefflichen, schönen Zähnen seinen Grund hatte.

Goethe dankte meinem Vater in herzlichen Worten und bat ihn, den Schädel zunächst in seiner Verwahrung zu lassen.

Bekanntlich sprach Goethe die poetischen Betrachtungen und Gefühle, welche durch die Auffindung von Schiller’s Schädel in ihm erregt wurden, in jenen trefflichen Terzinen aus, welche die einzigen sind, die er in seiner langen Dichterlaufbahn gemacht oder doch veröffentlicht hat. Man findet dieselben am Schluß von Meisters Wanderjahren, hinter den Aphorismen aus Makariens Tagebuche, mit lateinischen Lettern abgedruckt. Mit dem bittersten Unrecht hat man aus diesem Gedicht den Vorwurf abgeleitet, Goethe habe sich in jenen Versen das Verdienst der Auffindung von Schiller’s Schädel zuzueignen gesucht. In dem Anhang zu meiner Schrift über Schiller’s Beerdigung etc. glaube ich überzeugend dargethan zu haben, daß dieses kleinliche Motiv Goethen bei der Abfassung des Gedichtes ganz fern lag.

Was sollte nun mit Schiller’s Schädel geschehen? Nach der Absicht meines Vaters, zu welcher die Angehörigen der Schiller’schen Familie ihre Zustimmung gegeben hatten, sollte der kostbare Ueberrest auf dem höchsten Punkte des vor der Stadt neuangelegten Gottesackers der Erde übergeben, und die Stelle, wo dies geschah, durch ein Denkmal bezeichnet werden. Dasselbe würde bei der freien, ansteigenden Lage des Gottesackers nach allen Seiten hin sichtbar gewesen sein, und schon von weitem würde der der Stadt sich nähernde Wanderer die Grabstätte des Lieblingsdichters der Nation haben unterscheiden können. Dieser Plan fand jedoch nicht die Beistimmung des Großherzogs Karl August und Goethe’s. Der Großherzog hatte von der Familie Schiller’s die bekannte schöne Marmorbüste des Dichters, von Dannecker im Jahre 1805 meisterhaft ausgeführt und der Familie des letzteren als Geschenk verehrt, für den Preis von 200 Ducaten angekauft und im großen Saale der Bibliothek, gegenüber der Trippelschen Büste Goethe’s, aufstellen lassen. In dem Postament zur Schillerbüste sollte Schiller’s Schädel feierlich deponirt und hier aufbewahrt werden.

Die Begehung dieser Feierlichkeit verschob man bis zur Ankunft des jüngsten Sohnes Schiller’s, des Appellationsgerichtsassessors Ernst von Schiller aus Köln.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_684.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)