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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

nach Delitzsch zurück und traf bei den dortigen Vereinen solche Einrichtungen, daß sie auf eigenen Füßen gehen und seiner Leitung für die nächste Zeit entbehren könnten.

Familienvater und ohne ein nennenswerthes Vermögen, mußte er an seine Zukunft denken. Bei seiner Uebernahme des Patrimonialgerichts zu Delitzsch, dessen Auflösung inzwischen nach dem Gesetz von 1849 erfolgt war, hatte er sich den Rücktritt in den preußischen Staatsdienst vorbehalten, sodaß man ihm eine Stelle, wie sie ihm nach seinem Dienstalter zukam, nicht verweigern konnte. Man ernannte ihn zum Kreisrichter und schickte ihn nach dem preußischen Sibirien, worunter die polnisch-preußischen Gebietstheile zunächst der russischen Grenze zu verstehen sind. Eine Anstellung in diesen Gegenden, die sich durch keine Reize der Natur auszeichnen und von einer rohen, eine fremde Sprache redenden Bevölkerung bewohnt werden, ist einer Verbannung gleich zu achten, und das soll sie auch sein. Schulze kam als Richter am Kreisgericht nach Wreschen.

Sein Aufenthalt in dieser Stadt am äußersten Umkreise des Staats umfaßt einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren. Man wies ihm die unangenehmsten und schwierigsten Arbeiten zu, polnische Concursprocesse, die zum Theil aus dem vorigen Jahrhundert stammten und hauptsächlich deshalb verschleppt worden waren, weil sich Niemand an diese verworrenen Rechtsknäuel gewagt hatte. Schulze brachte diese Processe mit unsäglicher Arbeit wieder in Gang, mehrere sogar zur Entscheidung, sodaß die Gelder an die Kinder und Kindeskinder der ursprünglichen Gläubiger ausgezahlt werden konnten. Das Gericht sprach ihm dafür seinen Dank aus, ebenso die zunächst vorgesetzte Justizbehörde, und Schulze konnte um so eher erwarten, daß man ihm nach der Abwicklung des schwierigsten Theils seiner Geschäfte einige Erholung gönnen werde, als seine Gesundheit bei der Riesenarbeit gelitten hatte. Auf ein Zeugniß des Kreisarztes gestützt, bat er um die Erlaubniß, die ihm nach der preußischen Ferienordnung der Gerichte zustehende Ferienreise antreten zu dürfen. Der Justizminister Simons verweigerte sie und hielt seine bis dahin unerhörte Gewaltmaßregel aufrecht, obgleich der Direktor des Wreschener Kreisgerichts die ernstlichsten Gegenvorstellungen machte und Schulze’s Amtsgenossen einstimmig erklärten, „er habe für sie Alle gearbeitet und möge die ganzen Ferien zu seiner Erholung benutzen; sie würden ihn mit Freuden vertreten.“

Sich einer solchen Behandlung zu fügen, war Schulze nicht gemeint. Ohne sich an das Verbot zu kehren, reiste er von Wreschen ab und nahm den Weg über Berlin, wo er sich dem Minister persönlich vorstellte. Dieser erklärte ihm, „allenfalls“ solle ihm der Besuch eines schlesischen Bades gestattet werden, aber seine Heimath dürfe er nicht berühren. Er sollte also thatsächlich internirt werden. Er wurde zum zweiten Male ungehorsam, bereiste die Salzburger Alpen und ging dann geraden Wegs nach Delitzsch. Er hatte erwartet, daß man ihn in eine Disciplinaruntersuchung verwickeln würde, allein dieser Schritt war dem Justizminister zu kühn. Er sah voraus, daß Schulze sich kräftig vertheidigen und die Unterstützung des ganzen preußischen Richterstandes erhalten werde. Um dies zu vermeiden, ersann Herr Simons einen andern Ausweg, für den es in den Gesetzen allerdings so wenig einen Anhalt gab, wie für die Verweigerung der Ferienreise. Schulze wurde im Verordnungswege mitgetheilt, „daß ihm von jetzt an kein Urlaub mehr ertheilt und von seinem Gehalt der Betrag eines Monats gekürzt werden solle.“ Seine Antwort war eine Bitte um Entlassung, die man ihm ohne Weiteres ertheilte.

Aller andern Bande und Pflichten ledig, begab er sich nach Delitzsch mit dem Entschlusse, die Hebung der arbeitenden Classen fortan als die Aufgabe seines Lebens zu betrachten. Er wählte Delitzsch zu seinem Wohnorte, um zunächst die Keime, die er 1849 durch den bereits erwähnten Verein für Ankauf von Rohstoffen und 1850 durch die Gründung eines Vorschußvereins gelegt hatte, weiter zu entwickeln. Vielleicht ahnte er damals selbst nicht, daß das Jahr 1851, in dem er nach Delitzsch zurückkehrte, für Deutschland in volkswirthschaftlicher Beziehung Epoche machend werden solle. Die reißend schnellen Fortschritte seiner Gedanken in unserm sonst so langsamen Vaterlande sind ihm gewiß selbst überraschend gewesen.

Schulze hatte Erfahrungen gemacht, durch die er auf ein ganzes zusammenhängendes System von Handwerkervereinen hingeführt worden war. Die wichtigsten derselben sind die Rohstoff-, Consum- und Vorschußvereine. Ihrer Natur nach greifen sie, sich gegenseitig ergänzend und unterstützend, ineinander. Die ersten verschaffen dem Handwerker die Rohstoffe und Halbfabrikate, deren er bei seiner Arbeit bedarf, zu den billigsten Preisen; die Vorschußvereine sind seine Bank, in der er zu denselben Zinsen, die das Großgewerbe dem Bankier zu entrichten hat, sich mit Geld versehen kann; und die Consumvereine machen sein Leben billig, indem sie ihn mit den täglichen Bedürfnissen wohlfeil versehen. Alle drei Arten von Vereinen beruhen auf dem Grundsatze der Selbsthülfe. Der Handwerker, der sie benutzt, hat durch seine Mitgliedschaft und seine Einzahlungen ein Recht dazu erworben. Er braucht nicht zu bitten, er kann fordern.

Die Einrichtungen sind bei jeder Art ziemlich dieselben, namentlich hinsichtlich des Hauptpunktes, daß jeder Verein eine Sparcasse ist, in welcher der Arbeiter seine Erübrigungen bis zu den kleinsten Beträgen abwärts niederlegen kann. Bei den Vorschußvereinen, welche die Rohstoff- und Consumvereine weit überflügelt haben, wird nach folgenden Grundsätzen verfahren: Das Vermögen des Vereins, das zur Leistung der Vorschüsse dient, wird durch Anleihen und durch zinsfreie Darlehne von Ehrenmitgliedern, hauptsächlich aber durch die eigenen Beisteuern der eigentlichen Mitglieder gebildet. Die Beisteuern bestehen theils in eingezahlten Stammantheilen (Actien), theils in monatlichen Einzahlungen. Die letztern, bei denen man bis zu einem Silbergroschen heruntergeht, sollen einestheils die Geldmittel des Vereins erhöhen, anderntheils den Mitgliedern ein kleines Capital verschaffen und sie an’s Sparen gewöhnen. Bei der Aufnahme von Mitgliedern wird mit großer Vorsicht zu Werke gegangen. Hat man die Ueberzeugung, daß Jemandem durch Vorschüsse nicht mehr zu helfen ist, so weist man ihn zurück. Bei allen Geldverbindlichkeiten haften die Mitglieder Alle für Einen. Wer einen Vorschuß zu erhalten wünscht, hat in der Regel durch Wechsel oder durch Bürgschaft eine gewisse Sicherheit zu stellen. Die Zinsen, die er zu zahlen hat, schwanken in den einzelnen Vereinen zwischen acht bis zehn vom Hundert. Dieser Zinsfuß ist blos scheinbar ein hoher, denn abgesehen davon, daß der vereinzelt dastehende Handwerker bei Darlehnen, wenn er sie überhaupt erhält, weit höhere Zinsen bezahlen muß, erhält er im Verein, weil er an den Vortheilen des Cassengeschäfts Antheil nimmt, die gezahlten Zinsen theilweise zurückerstattet. Bis zu welcher Höhe der Verein Vorschüsse gewährt und in welchen Fristen er die Rückzahlung fordert, richtet sich nach den Verhältnissen des Orts. In Delitzsch hat jedes Mitglied auf Darlehne bis zu zweihundert Thalern Anspruch und es ist ihm eine dreimonatliche Frist gegönnt. Daß man bei unverschuldeter Verzögerung der Zahlung die größte Nachsicht übt, versteht sich bei dem rein humanen Zweck der Vorschußvereine von selbst.

Die Schwierigkeit, für Vereine, die aus lauter unbemittelten Mitgliedern bestanden, von vorn herein Credit zu finden, hatte Schulze bestimmt, sich insofern an die Wohlthätigkeit zu wenden, daß er unverzinsliche Darlehne annahm. Diese um des Zwecks willen gegebenen Gelder bildeten übrigens niemals den Hauptstock, und es zeigte sich auch bald, daß die feste Haltung der Vereine Vertrauen genug einflöße, um jene Beihülfe entbehrlich zu machen. In den Kreisen, deren Nutzen sie dienen wollten, bürgerten sich Schulze’s Schöpfungen schnell ein. Der Vorschußverein zu Delitzsch hatte im Jahre 1852 etwa 100 Mitglieder, deren Zahl im nächsten Jahre auf 175 und im Jahre 1855 auf 210 stieg. In dem letztgenannten Jahre war man so weit gekommen, daß das volle Viertel des Betriebscapitals in eigenem Vermögen des Vereins bestand, das durch das Guthaben der Mitglieder und den Reservefond repräsentirt wurde. Im nahen Eilenburg begann man Ende 1851 mit 396 Mitgliedern und zählte 1854 deren bereits 714, während die Einnahmen in derselben Zeit von 11,625 auf 44,271 Thaler stiegen. Durch diese Resultate ermuntert, gründeten andere Städte ebenfalls Vorschußvereine, in der Provinz Sachsen Halle, Eisleben und Bitterfeld, im Königreich Sachsen zuerst Meißen. Ueberall machte man die günstigsten Erfahrungen. Die Verluste, die aus der Nichtbezahlung erhaltener Vorschüsse erwuchsen, waren nirgends nennenswerth, und mit der Zunahme der Dividende wuchs der Reiz zum Beitritt wie zur Erhöhung der monatlichen Beiträge. In der That war der Gewinn beträchtlich genug, daß er das Sparen belohnte. Der Meißner Verein z. B. zahlte gleich im ersten Jahre 162/3 Procent Dividende.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_721.jpg&oldid=- (Version vom 30.11.2023)