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verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

des Zugs, und eine verwegene, heldenmüthige dazu; durch Dick und Dünn ihr zu folgen, war Lust, nicht blos Gebot. Galant hielt sich ihr möglichst treu zur Seite der Onkel, ein alter, kleiner Herr mit weißem Bart und Haar, aber mit heißem, rothem Blut, ein Jäger und Fischer, ein Kräuterkenner und Pädagog, ein Schachspieler und Reiter, wie Wenige – die Jahre hatten scheinbar ihm den Zoll erlassen und ein bewegtes Leben war über ihn hinweggegangen, ohne mehr als äußere Spuren zu hinterlassen. Er hatte vieler Menschen Stätten gesehn und Sitten erkannt, war gewesen in Island und in Madeira, in Paris und in Archangel; an Norwegens Küste rettete er einst im Schiffbruch nur das nackte Leben, und bei Sebastopol pfiffen die Kugeln um sein ehrwürdiges Haupt. Wie er so da saß, in eigenthümlicher, selbsterdachter Ausrüstung auf dem muthigen Steppenklepper, gemahnte er mich an den Hawk-eye des Cooperschen Romans, der die Fremdlinge sicher durch die Schrecken der Wildniß leitet. Dann kam der Hausherr, ein junger, kräftiger Mann, echt deutschen Geblüts, ein großer Landwirth, der hier in reizender Umgegend und im Schooß der liebenswürdigsten Familie sich ein kleines Paradies geschaffen hatte. Ein trefflicher Reiter und Stallmeister tummelte er geschickt einen hohen Rapphengst edler Zucht, der unsere kleinen Thiere überragte, wie ein Koloß. Ich selbst ritt einen trefflichen tatarischen Paßgänger. Ein Reitknecht auf einem Doppelpony folgte der Gesellschaft.

Ueber die Steppe reitet man nicht, wie daheim auf den Stadtpromenaden. Die weite, flache Ebene scheint einzuladen, zu drängen zum flüchtigsten Rosseslauf, es überkommt den Reiter eine Hast und ein Streben in die Ferne, deren er sich sonst nicht bewußt ist. Und so flogen wir denn auch bald dahin im gestreckten Galopp, wetteifernd um den Vorrang. Den aber ließ unsere holde Herrin sich nicht streitig machen, weit voraus uns Allen trug sie ihr unvergleichlicher Zelter, und ihre weiße Feder flatterte triumphirend an der Spitze, trotz der lebhaften Stimulationen, mit welchen der Onkel sein Pferd ihr zur Seite zu halten trachtete. Nebenher sprangen und kläfften lustig die Hunde – verwundert standen die grauen Rinder auf aus dem thauigen Gras, um dem wilden Rennen Platz zu machen, die Zieselmäuse schossen wie rothe Pfeile in ihre Erdlöcher vor dem „Donnergepolter des Hufschlags“ – was freilich eine poetische Licenz ist in Betracht des weichen Steppengrunds – und immer näher traten die dunklen Massen der Plawni uns entgegen.

Zwischen den ersten hohen Bäumen erschienen da und dort graue Strohdächer, zerstreute Häuschen des großen Dorfes Gruschewko, dessen Wohnungen in der Steppe auseinander liegen, wie die Körner von des Säemanns Wurf. Hier hinderte der Fluß Skarwna, ein kleiner Vasall des Dniepr, den Weiterritt. Fräulein Soninka rieth zwar kurz, auf gut Glück hinüberzusetzen, und schon war sie bereit zur That, als zur rechten Zeit noch der Ruf des Oberförsters dem Wagniß ein Ziel setzte. Dieser wohnt dicht am Ufer und kam, die Gesellschaft zu begrüßen. Er rieth ihr, von den Pferden zu steigen und sie von dem Reitknecht hinüber führen zu lassen; so geschah es, und es war ein Glück. Denn kaum hatte der Bursche mit zwei Handpferden einige Schritte in dem Wasser zurückgelegt, als plötzlich die Thiere in dem Schlammgrund versanken bis an die Sättel; hoch auf spritzte das getrübte Element, die scheuen Rosse suchten sich aus des Führers Hand zu befreien, dabei sanken sie immer tiefer, es war ein angsterregender Anblick. Aber er dauerte nicht lange: der Reitknecht, obgleich bis an die Hüften im Wasser, hielt sich wacker und ließ nicht los, ein paar Schritte weiter kam festerer Grund, und dann war bald das jenseitige Ufer erreicht. Mittlerweile ward auch die rechte Furt gefunden, die der Grundherr stolz durchritt, während des Försters ältester Knabe die anderen Mitglieder der Gesellschaft einzeln in einem schmalen Nachen hinüberruderte. Endlich waren Alle wieder beisammen; das Intermezzo hatte keine weiteren Folgen, als ein paar nasse Sättel, aber die trockneten bald bei dem ferneren scharfen Ritt.

Noch ein zweiter Nebenfluß war zu passiren, die Potpilna, breiter und reißender, als der erste. Hier ging aber eine regelrechte Fähre. Diese sind in Rußland durchgängig der Art eingerichtet, daß ein gewaltiges Tau über das Wasser gespannt ist, längs dessen der Fährmann fein Schiff hinzieht. Hat er Bauern eingenommen, so läßt er die für ihn eintreten bei der harten Arbeit; uns erzeigte er die Ehre selber.

„Betrachten Sie den Kerl!“ sagte der Onkel, „würden Sie nicht geschwind zum Revolver greifen, wenn Sie ihm allein auf der weiten Steppe begegneten?“

In der That, es konnte kaum ein wilderes, thierischeres Gesicht geben, wie das des athletischen Mannes; die langen, gelben Haare hingen ihm zottig über die kleinen Schlitzaugen, aus denen es manchmal hervorblitzte, wie beim lauernden Wolfe, der sich nicht getraut, eine willkommene Beute anzufallen. Viele ähnliche Gesichter hab’ ich in Rußland gesehen, und es schauderte mir unwillkürlich, wenn ich ihren Ausdruck zu entziffern versuchte!

Aber da ist der Wald, da steigen die grünen Massen des Gebüschs aus der moorigen Erde, dort rauschen die Wipfel himmelhoher Bäume. Auf einmal befanden wir uns eng eingeschlossen auf schmalem Pfad. Rechts und links wucherte das saftige, windendurchflochtene Schilfrohr bis über Reitershöhe empor, gleich einer festen Mauer, das Spiel des Windes darin glich dem Rauschen der See, kleine, zierliche Sänger wiegten sich hoch oben auf den grauen Fahnen und lieblich klang ihr feines Lied in die Melodie des frischen Morgens. Hier und da lag eine freie Wiese inmitten des Röhrichts, da war großes Getümmel und rege Arbeit, denn die Heuernte fand statt, obgleich im August. Nur in diesem besondern günstigen Jahr fiel sie so früh, gewöhnlich erst in den September. Denn sobald im Frühjahr der Schnee zu schmelzen beginnt, so steigt von Tag zu Tag der Dnieprstrom in ganz außerordentlichem Maße. Im Mai hat er seine flachen Ufer zu beiden Seiten viele Meilen weit überschritten, die Plawni sind zu einem unermeßlichen See geworden, aus welchem die Bäume sonderbar hervorragen; zwischen den Kronen derselben fährt man im Boot hoch über dem Grund, auf dem wir jetzt gemächlich reiten; der Ochsenbauer verwandelt sich in einen Kahnführer, jeder Verkehr findet nur zu Wasser statt. Häufig genug unterwaschen die andringenden Fluthen die lehmgekneteten Häuschen der Bauern, oder ergießen sich zur Ueberraschung der Bewohner in die halbunterirdischen Semlanken (Erdwohnungen), obgleich die Ansiedler sich möglichst erhöhte Gründe ausgesucht haben. Allein dennoch ist die jährliche Ueberschwemmungsperiode ihre liebste Zeit. Dann erst auch wird die Landschaft zu einem wahrhaft großartigen Bild, zu einem stillen blauen Meer, aus dem unzählige grüne Inseln auftauchen. Mit Beginn des Monats August fangen die Wasser endlich an wieder abzulaufen, aber trotz der brennenden Sonnenhitze dauert es doch lange genug, bis Menschen und Thiere sich wieder in die Plawni wagen dürfen. Und die Ersteren müssen noch häufig dafür bittere Strafe leiden, denn aus dem schwammigen Boden quillt ein Fieberdunst hervor, der von dem Neuling unfehlbar Tribut fordert. In diesem heißen Jahr lagen die Plawni ausgetrockneter da, als seit Menschengedenken; die Betten vieler Flüsse zeigten ihren schwärzlichen nackten Grund, von Millionen Rissen klaffend, kläglich lagen die geborstenen Kähne darauf; abscheuliche Miasmen entströmten den verwesenden Muschelschichten und anderen Organismen der verlorenen Wasserwelt.

Die Männer stiegen von den Pferden, die dem Reitknecht anvertraut wurden, unter dessen Geleit unsere Dame lustig weiter ritt, während wir, die Flinten zur Hand, in’s Dickicht drangen. Mit jedem Schritt ward es nunmehr urwäldlicher; mächtige Wurzeln krochen über die Erde, üppiges Gestrüpp schoß seine Loden dicht empor, dazwischen rankten sich Dornen und Schlingpflanzen, und bei jedem Schritt brach der Fuß ein in den morschen Boden. Da durfte man wohl an Brasilien denken und wünschte sich eine Axt in die Hand, statt der unbequemen Flinte. Wenn man halb kriechend, halb gleitend endlich in freieres Bereich zu kommen wähnte, da war es ein schwarzer, dampfender Tümpel, den man umgehen mußte; und schlimmer noch, das Durchbrechen des Gesträuchs jagte zahlreiche Schwärme wilder Enten vielerlei Art, Becassinen, Bläßenten, Reiher und andere angenehme Wasserfreunde auf, die meistens schon weit waren, ehe man das Gewehr an den Backen bringen konnte. Nur der ernste und ehrenfeste Bugai, welchen die Kleinrussen nach seinem Geschrei Quack nennen, unsere Rohrdommel, blieb neugierig, aber in hinreichender Entfernung, auf einem abgestorbenen Ast sitzen und lugte mit vorgestrecktem Hals nach den fremden Eindringlingen in den Waldfrieden. Dagegen schoben Dutzende von Schildkröten ihr getäfeltes Haus und sich selbst in Sicherheit, das heißt, in das schlammige, froschgefüllte Wasser, so schnell sie konnten, und drollig sah es manchmal aus, wenn sie dabei übereinander hinweg zu fliehen strebten, ein sonderbarer Knäuel.

Endlich, keuchend, Gesicht und Kleider zerrissen, die Extremitäten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1859, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_730.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2023)