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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

ihm in der Person eines Rechtscandidaten Rarches einen Privatlehrer gewann, der sich seiner mit aufopfernder Liebe annahm. Bald gesellten sich zu diesen Beiden Männer wie Hofrath von Schubert, Staatsrath Herrmann, Professor Lindemann, Dr. Kuhn und Dr. von Biarowsky, welche ihn in seinem Streben ermunterten und förderten. Diese empfahlen ihn am Hofe, und der König sowie die beiden Königinnen, ganz besonders aber Prinz Karl fanden sich bewogen, ihm Stipendien zum Besuch der Universität, worauf Scherers feurigster Wunsch zunächst gerichtet war, zu bewilligen. Auch der reiche Ultramarinfabrikant Zeltner in Nürnberg unterstützte den strebsamen jungen Mann. Vier Jahre lang hörte Scherer alle Vorlesungen, die er für seinen Zweck ersprießlich fand. Dabei benutzte er die Ferien, sowie nachher noch ein ganzes Jahr, um die Blindenanstalten in Würtemberg, Baden, der Schweiz und Oesterreich zu besuchen. Längst hatte er als das wahre Ziel der Blinden-Erziehung das erkannt, daß die zwischen den Sehenden und den Blinden bestehende Kluft so weit als möglich ausgefüllt, daß letztere zu vollbürtigen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft in Absicht auf geistige Bildung wie auf Teilnahme an der Arbeit und den Genüssen des Lebens gemacht werden, und er hatte seine Ansichten darüber in einer besondern Schrift „Die Zukunft der Blinden“ ausführlich niedergelegt. Den Anforderungen, die er nach diesen Ansichten an die Blinden-Erziehung machen zu müssen glaubte, fand er keine der von ihm besuchten Anstalten völlig genügend. Daher entstand in ihm die Idee, selbst eine Blinden-Anstalt in’s Leben zu rufen, und kaum hatte er durch ein ehrenvoll bestandenes Lehrer-Examen seine Studien beendet, als er auch an die Verwirklichung dieser Idee ging.

In Nürnberg, der alten edlen, geistig-regsamen Reichsstadt, glaubte er den besten Boden dafür zu finden. Er eilte dahin und begann für seine Idee anzuregen, sowohl durch die Herausgabe der genannten Schrift, als durch das lebendige Wort. Aber welche Vorurtheile und welches Mißtrauen hatte er selbst in dem aufgeklärten und edelsinnigen Nürnberg zu bekämpfen, ehe er sich eine kleine Gemeinde gewann, welche sein Werk in’s Leben rufen zu helfen, den Willen und die Mittel hatten! Erst im Jahre 1854 sah er seine Bemühungen mit Erfolg gekrönt.

Mit sechs Zöglingen und einem sehenden Lehrgenossen eröffnete er in diesem Jahre die Nürnberger Blindenanstalt und arbeitete nun rastlos, um der Welt die Richtigkeit seiner Ansichten durch die That zu beweisen. Und er bewies sie ihr; die öffentlichen Prüfungen, die er mit seinen Zöglingen veranstaltete, lieferten die überraschendsten Resultate, die selbst die heftigsten Widersacher zum Schweigen brachten. Dadurch hob sich die kleine Anstalt so, daß sie im zweiten Jahre ihres Bestehens bereits zehn Zöglinge und ein Vermögen von 30,000 Gulden besaß, wozu Scherer selbst durch seine Bemühungen wesentlich beigetragen hatte. Indessen erhoben sich mit der Zeit zwischen ihm und seinem sehenden Collegen in Bezug auf das Unterrichtswesen und die künftige Lebensstellung der Blinden Meinungsverschiedenheiten, welche ihm das Wirken an seiner eigenen Stiftung verleideten, zumal da es diesem Collegen gelang, die Gönner der Anstalt für seine, im Vergleich zu den Schererschen Gedanken reactionären Ansichten zu gewinnen. Da Scherer’s Geist ohnehin über den engen Wirkungskreis, der ihm hier geboten war, weit hinausflog, da sein Herz nicht blos die zehn Zöglinge der Nürnberger Anstalt, sondern alle seine Leidensgenossen in Deutschland umfaßte, von denen er wußte, daß ihrer 36,000 lebten und davon nur etwa der 36. Theil sich der Wohlthat einer ordentlichen Erziehung erfreute, da sein Gemüth von dem Verlangen entbrannte, allen diesen Unglücklichen eine bessere Zukunft zu erkämpfen, so gab er ohne Kampf seine Stelle in Nürnberg auf und suchte einen neuen empfänglichen Boden für seine Ideen.

Er wandte sich zunächst in das geisteshelle Thüringen, wo er nicht nur die Regierungen für seine Bestrebungen zu gewinnen suchte, sondern auch von Stadt zu Stadt zog, um in öffentlichen Vorträgen die Herzen des Volkes dafür zu entflammen. Zugleich veranstaltete er eine neue, verbesserte Auflage seiner genannten Schrift, sowie die Herausgabe einer Broschüre „über die socialen Leiden der Blinden“, um durch deren Vertrieb einen Fond zum Besten des verfolgten Zweckes zu bilden. Sowohl bei den Regierungen, als bei dem Volke der thüringischen Staaten fand sein Streben den lebhaftesten Anklang, wie die mancherlei Stimmen in der thüringischen Tagespresse darüber bezeugen. Ganz besonders erwies ihm die herzogliche Regierung von Coburg-Gotha Förderung und Aufmunterung.

Die Erfahrungen, die er allenthalben auf seiner Reise in Thüringen machte, überzeugten ihn, daß das Erste und Nothwendigste, was in der von ihm vertretenen Sache zu thun, die Empfänglichmachung der Herzen des Publicums für dieselbe sei, und da Gott seine ersten Versuche, in öffentlicher Rede zu den Herzen zu sprechen, mit Erfolg krönte, so entschloß er sich, durch ganz Deutschland zu ziehen und durch Rede und Schrift die Herzen aller deutschen Stämme für seine Sache zu gewinnen.

So ist er zum Apostel der Blinden geworden, die, so hoffen wir, ihn einst unter ihre größten Wohlthäter zählen werden. Friedrich Scherer steht jetzt in der Blüthe der Männlichkeit, er ist von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau, mit angenehmen, gemüthvollen Gesichtszügen. Begabt mit einem volltönigen männlichen Stimmorgan bei warmer Empfindung und lebendiger Darstellungsgabe, die sich zu dichterischem Schwunge erheben kann, sammt einem glücklichen Gedächtniß, versteht er ebenso zum Verstande wie zum Herzen zu sprechen. Am wirksamsten ist freilich seine Begeisterung für seine Sache und seine Ueberzeugung von der Wahrheit seiner Idee. Im geselligen Umgang ist er heiter, gesprächig und witzig. Ein gesunder, gebildeter Humor erhebt ihn über sein trauriges Schicksal, und er beweist so durch sein Leben, daß die Blinden auch glücklich sein können, wenn ihnen die mangelnde leibliche Sehkraft durch Ausbildung der geistigen ersetzt wird.




In der ersten Stunde des neunzehnten Jahrhunderts.

Von Ludwig Storch.

Die letzten Tage des achtzehnten Jahrhunderts gingen zur Neige. In der dänischen Königsstadt wurden großartige Anstalten, namentlich von der Universität, zur würdigen Feier des Jahrhundertswechsels gemacht. Die akademischen Bürger beabsichtigten in der bevorstehenden wichtigen Nacht ein glänzendes, voraussichtlich geräuschvolles und kostspieliges Fest zu geben. Drei den Wissenschaften ergebene junge Männer, wovon zwei Brüder waren, hatten sich verabredet, sich nicht dabei zu betheiligen, theils weil sie überhaupt studentischen Prunk und Lärm nicht liebten und in großen Gesellschaften sich nicht gefielen, theils weil sie ihrer beschränkten Verhältnisse wegen alle Ursache hatten, unnöthige Ausgaben zu scheuen. Beim jüngern der beiden Brüder kam noch eine dritte Ursache hinzu, die er aber als ein stilles Herzensgeheimniß bewahrte und keinem der beiden Andern mittheilte.

Die Brüder, Hans Christian und Anders Sandöe, jener 23, dieser 22 Jahre alt, waren Söhne eines unbemittelten Apothekers in dem unbedeutenden Städtchen Rudkjöbing auf der Insel Langeland, der Dritte, Adam Georg, 21 Jahre alt, der Sohn eines eben so armen Organisten in der Dorfkirche zu Friedrichsberg in der nächsten Nähe von Kopenhagen. Wir unterlassen es aus einem Grunde, welcher dem Leser später klar werden wird, die beiden Familiennamen der drei Jünglinge zu nennen, und begnügen uns einstweilen mit ihren Taufnamen. Ihre Jugendgeschichte war eben so merkwürdig, als interessant.

Zur wissenschaftlichen Ausbildung der beiden Brüder, die sich frühzeitig als sehr talentvolle Knaben erwiesen, fehlten im Vaterhause, wie überhaupt in der Vaterstadt, fast alle Mittel, die materiellen, wie die spirituellen, und der Unterricht, welchen die hübschen Kinder genießen konnten, durfte noch schlimmer als mangelhaft, er durfte armselig genannt werden. Doch wollte es eine jener eigenthümlichen Fügungen des Schicksals, in welchen man gern den Finger der göttlichen Vorsehung erblickt, daß sie von einem in ihrer Nachbarschaft wohnenden Deutschen deutsch sprechen und lesen lernten und mit einigen deutschen Büchern bekannt wurden. Später verfielen die lernbegierigen Knaben, um sich selbst zu helfen, da ihnen von Andern nicht geholfen wurde, auf eine originelle gegenseitige Unterrichtsmethode. Sie wußten sich alte Lehrbücher derjenigen Wissenschaften, von welchen sie besonders angezogen wurden, zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_733.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2023)