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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

verschaffen, und sobald ihr Lerneifer sich der Elemente bemächtigt, docirten sie sich wechselseitig das Erlernte.

So hatte Hans aus einem schon lange dienstbaren Schulbuche die Anfangsgründe der Mathematik sich angeeignet und spendete seinem Anders den eroberten Schatz, und dieser vergalt dem ältern Bruder mit Geographie und Geschichte. Bei einem Privatlehrer erhielten sie nachher auch einige Einsicht in die Formlehre der lateinischen Sprache.

Aber schon in seinem zwölften Jahre mußte Hans dem Vater als Gehülfe in der Apotheke dienen, und hier machten ihm die chemischen Arbeiten große Freude. Nebenbei verschlang er alle belletristischen und geschichtlichen Bücher, dänische und deutsche, die er in dem armen einsamen Heimathstädtchen auftreiben konnte, während Anders seine sprachliche und philosophische Autodidaxie so gut es gehen wollte, fortsetzte.

Doch der Genius in dem Bruderpaare fühlte seine Schwingen wachsen und drängte kraft des ihm innewohnenden Triebs empor. Ihr einziger Wunsch war, den glühenden Wissensdurst ihrer jugendlichen Geister auf der Universität zu Kopenhagen zu stillen. Sie setzten Alles daran, das Abiturientenexamen zu machen, und es gelang ihnen 1794, die Hochschule der Königsstadt zwar mit schlecht gefüllten Taschen, aber mit begeistertem Drange nach Wissenschaft zu beziehen. Konnten sie den physischen Hunger anfangs oft nur mit einem Stück trocknen Brodes stillen, so schwelgte dagegen ihr geistiger Heißhunger in der lockenden Fülle der literarischen Nahrungsmittel, welche ihnen die Universität bot. Und wie wenig bekümmerte sie die Entbehrung dessen, wonach die Meisten gierig trachten, und wie beglückte sie die Eroberung der Güter, die sich Andere gewöhnlich nur aus niederer Speculation und darum so unvollkommen aneignen! Sie suchten und hatten durchaus keinen Umgang mit andern Studenten und wurden von diesen wegen ihrer kleinstädtischen Unbeholfenheit, Schüchternheit und ihres seltsamen Aufzugs verspottet und mit dem Spitznamen „die Dioskuren“ belegt, weil sie ganz gleich in lange schlichte Ueberröcke, die bis an die Fersen reichten, geknöpft, stets Arm in Arm fest aneinander geklammert auf der Straße einherstelzten, um nicht auf den Ueberfluß ihrer Bekleidung zu treten und zu fallen, wodurch sie denn freilich das Aussehen eines zusammengewachsenen Zwillingspaares erhielten. Aber den wenigen Studenten, die ihr geistiges Wesen näher kannten, glänzten sie wirklich wie das Sternbild der Dioskuren, und auch ältere Gelehrte ahneten bald den in ihnen wohnenden Genius. Und dieser brach – sie waren noch nicht drei Semester akademische Bürger – aus seiner Verpuppung hervor und entfaltete seine prächtigen Flügel.

Durch akademische Preisabhandlungen, die ihnen außer goldenen Medaillen die Achtung ihrer Lehrer einbrachten, durch die beiden ersten Examina, die sie mit Ruhm bestanden, zogen sie die Blicke der Einsichtsvollen auf ihre ungewöhnliche Geistesbegabung und ihren bewunderungswürdigen Fleiß.

Mit einer Unterstützung aus Staatsmitteln und mit dem Ehrensold, den sie als gesuchte und gut bezahlte Privatlehrer erwarben, war ihrer Bedrängniß abgeholfen. Nun ging jeder seine eigene Bahn, dem früh sich kundgegebenen innern Drange folgend; jeder versenkte sich, die übrige Welt fast vergessend, in seine Wissenschaft, Hans in Mathematik, Physik, Astronomie, Chemie und Medicin, Anders in Philosophie und Rechtskunde. Da kam ihnen denn ihre Kenntniß der deutschen Sprache gut zu statten. Der Aeltere studirte die deutschen Physiker, der Jüngere die deutschen Philosophen. Für Jenen hatte Ritter, für Diesen Kant die größte Anziehungskraft. In seinem 19. Jahre hatte Anders sich Kant’s und Fichte’s Systeme ganz zu eigen gemacht. Und so erstarkten sie vorzüglich an den Brüsten der deutschen Wissenschaft. In herzlicher, brüderlicher Liebe und Einigkeit blieben sie aber unzertrennlich, wohnten bei einander und theilten sich auch jetzt noch, wie sie gleichsam von Kindheit an gewohnt gewesen waren, die Resultate ihrer verschiedenen Studien mit, so daß der Eine immer auch in die Disciplinen des Andern eingeweiht wurde. Selbst als die Spötter verstummten und der Dioskurenname zum Ehrenprädicat geworden war, suchten sie keinen Umgang, sondern lebten, von der Welt fast abgeschlossen, nur ihren Studien. Die Universität hatte noch nie zwei so eng und eigenthümlich verbundene Studenten gesehen, die alle Zerstreuungen der Jugendlust mißachtend, nur am Wissenschaftsleben Freude hatten. In ihrem seelischen Leben bildeten sie einen überraschend schönen Gegensatz. Wie der Jüngere eine ernste, ruhige, fast tiefsinnige Forschernatur, ein echter Philosophengeist, so war Hans eine leichtbewegte, etwas unruhige, enthusiastische und geschmeidige Dichterseele. Für alles Schöne und Erhabene in Wissenschaft und Kunst schnell erglühend, hatte er die Eigenthümlichkeit, die aus der Wissenschaft gewonnenen Resultate in kleine leicht und anmuthig versificirte Gedichte zu bringen. So faßte er die Perlen und Edelsteine der Wissenschaft in den goldenen Arabeskenschmuck der Poesie. Seine dichterische Begabung war durchaus keine großartige, allumfassende, aber sie war eine liebliche und reizende.

Die Brüder wohnten auf Ehlersens-Collegium und hatten ihren Mittagstisch bei einer bemittelten Wittwe, ihrer Tante, Frau Möller, die nach dem Tode ihres Mannes das einträgliche Färbereigeschäft desselben mit Fleiß und Umsicht fortbetrieb.

Im Herbste 1797 nahm ein eben beim königlichen Hoftheater engagirter junger Schauspieler bei dieser Frau Möller Wohnung und Kost und wurde so der Tischgenosse und bald genug der Freund der beiden Brüder.

Dieser Jüngling war der anfangs erwähnte Adam.

Der Vater desselben, ein Schleswiger, einst als armer Schulamtscandidat nach Kopenhagen gekommen, um Brod und Stelle zu erwerben, hatte durch Protection des bekannten, damals allmächtigen Ministers Grafen Adam Gottlob Moltke die ärmliche Organistenstelle in Friedrichsberg erhalten und gab aus Dankbarkeit seinem Sohne des Grafen beide Taufnamen. Zwölf Jahre später wurde der arme Organist zum Castellan des königlichen Lustschlosses Friedrichsberg befördert, dessen Gevollmächtigter er schon eine Zeit lang gewesen war. Seine Frau, unseres Adams Mutter, war die Tochter auch eines Deutschen und Gevollmächtigten eines königlichen Schlosses.

Drittehalb Jahre nach der Geburt des Sohnes schenkte sie ihrem Gatten eine Tochter, welche Sophie genannt wurde. Beide Kinder wuchsen in dürftigen Verhältnissen auf. Der eigenthümlich lebhafte und doch wieder so seltsam träumerische Knabe zeigte schon in frühester Zeit bedeutende Anlage zur Dichtkunst, fertigte im zwölften Jahre bereits ein von Sachverständigen belobtes geistliches Lied und schrieb Dramen, die er mit seiner Schwester und seinen Cameraden im Speisesaale des Schlosses aufführte. Sein Talent zum Zeichnen veranlaßte ihn, die Akademie zu besuchen, um Maler zu werden, er gab aber dieses Vorhaben wieder auf und widmete sich dem Kaufmannsstande. Dabei machte er immer Verse und schrieb Komödien.

Endlich in seinem 18. Jahre entschlossen, Schauspieler zu werden, wurde er auf Betrieb seines Vaters beim Hoftheater angestellt, und betrat unter der Leitung des bedeutenden mimischen Künstlers Rosing die Bühne. Ohne Talent für diesen Beruf, ein schlotternder Knabe, linkisch und mit den Toilettenkünsten unbekannt, wollte er gleich große Rollen spielen und mußte mißfallen; da aber doch Manches von seinen poetischen Leistungen verlautet war, so nannten ihn die Schauspieler spottweise „den Mann mit den verborgenen Talenten“. Bald genug fühlte er sich unbehaglich in seinem Wirkungskreise, wurde noch scheuer, zog sich zurück, und sein kindisches Wesen gefiel sich allein in der Nachahmung mittelmäßiger deutscher Dramen und Romane. Mit Kruse, dem nachherigen deutschen Romanschreiber, bekannt geworden, schrieb er in ein von diesem herausgegebenes fast nur Uebersetzungen enthaltenes Blatt sehr viel und zwar ohne Honorar, und da er lustige Gesellschaft nicht liebte, so war seine einzige Freude, einigen Freunden seine unbedeutenden poetischen Erzeugnisse vorzulesen.

Diese Zerfahrenheit hätte wahrscheinlich zu einem schlechten Ziele geführt. Sein Glücksstern brachte ihn am Mittagstische der Frau Möller mit den beiden Brüdern Hans und Anders zusammen, die bald einen entscheidenden Einfluß auf sein späteres Leben ausübten. Besonders Hans’ kindliche, ungemein freundliche, mittheilsame, wohlwollende und anschmiegende Dichternatur fand sich von Adams edlem ebenfalls kindlichem Wesen angezogen. Die verwandten Geister folgten einem Naturgesetz, indem sie sich innig aneinander anschlossen. Beide von der Natur mit ihrem schönsten Geschenke, einer poetischen Weltanschauung bedacht, war ihre seelische Eigenthümlichkeit ganz der Art und Weise gleich, wie sie diese Anschauung in Worte kleideten. Hans war überdies liebenswürdig und geschmeidig, den kleinen Kreis um sich mit Gründlichkeit erforschend und mit Liebe ausfüllend, und dann vorsichtig weiter gehend auf das Große und Allgemeine.

Es war natürlich, daß Hans den Grund der Schwermuth

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_734.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2023)