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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

und der Herzog von Reichstadt wurde Major in österreichischen Diensten. In einer Gesellschaft bei dem englischen Gesandten in Wien traf er mit zwei Prinzen der vertriebenen Dynastie zusammen; außerdem befanden sich in demselben Salon zu gleicher Zeit der Gesandte des abgesetzten Karl X. und der Botschafter Louis Philipp’s, der Prinz Gustav Wasa, der ebenfalls verjagte Thronfolger Schwedens, und Graf Löwenhjelm, als bevollmächtigter Minister des jetzt regierenden Königs Bernadotte. Mitten unter diesen wunderbaren Zeugen des wechselnden Geschickes stand der Sohn Napoleon’s einsam und traurig, bis der ebenfalls hier verweilende Marschall Marmont, einst der Freund seines Vaters, ihn anredete. Beide fühlten sich gegenseitig zu einander hingezogen und befreundeten sich schnell, wozu sie allerdings erst die Erlaubniß von Metternich, der zugegen war und mit mißtrauischen Blicken ihre Unterredung beobachtete, einholen mußten.

Der Herzog wurde nicht müde, den Erzählungen des Marschalls von den Großthaten Napoleon’s zuzuhören; er ließ sich von ihm in den Kriegswissenschaften förmlich Unterricht ertheilen, wobei die ersten Feldzüge seines Vaters zu Grunde gelegt wurden. Als Marmont endlich Abschied nahm und ihn frug, wen er ihm in Frankreich grüßen sollte, sagte der Jüngling: „Grüßen Sie mir die Vendome-Säule mit dem Bilde meines Vaters.“

Noch einmal loderte der kriegerische Geist in ihm auf, als die Revolution in Italien ausbrach, woran sich sein naher Verwandter, Louis Napoleon, der jetzige Kaiser von Frankreich, als entschiedener Anhänger der nationalen Freiheit damals betheiligte. Auch Marie Louise, die Herzogin von Parma, sah sich genöthigt, vor dem Aufstande zu fliehen. Bei dieser Nachricht erwachte in ihrem Sohne die alte Zärtlichkeit für seine Mutter; er wollte ihr zu Hülfe eilen und bat mit Thränen seinen Großvater, für sie das Schwert ziehen zu dürfen. Kaiser Franz schlug ihm seine Bitte ab und schickte statt seiner einen österreichischen General nach Italien, der jener Revolution ein schnelles Ende machte. Der Herzog von Reichstadt konnte diese vermeintliche Zurücksetzung nicht so leicht vergessen; laut klagte er, daß ihm die erste Gelegenheit sich hervorzuthun genommen worden sei. Als der treue Prokesch ihm beschwichtigend den Rath ertheilte, sich durch fortgesetzte Studien für künftige Ereignisse vorzubereiten, rief er unmuthig aus: „Die Zeit ist zu kurz! sie schreitet zu rasch vorwärts, um sie in langen Vorbereitungen zu verlieren! War nicht der Moment des Handelns augenscheinlich für mich gekommen?“

Seine Seele war schon damals von Todesahnungen erfüllt.

Die unterdrückte Thatenlust des Jünglings ließ ihn in Zerstreuungen aller Art Vergessenheit suchen. Ohne den boshaften Gerüchten und Verleumdungen Glauben zu schenken, die in Bezug auf seinen Lebenswandel verbreitet wurden, steht doch so viel fest, daß er mancher Versuchung unterlag. Sein schwächlicher Körper widerstand nicht den Aufreibungen und schonungslosen Anstrengungen einer leidenschaftlichen Natur. Als eifriger Militair setzte er sich ohne Rücksicht allen Strapazen seines Standes aus; nur mit Mühe ließ er sich bewegen, zur Zeit als die Cholera zum ersten Male in Wien mit furchtbarer Heftigkeit auftrat, die Caserne, welche er bewohnte, zu verlassen und nach Schönbrunn überzusiedeln. Seine Brust war angegriffen, und sein Arzt, der berühmte Doctor Malfatti, machte ihm die größte Schonung zur Pflicht. Nur mit Widerstreben willigte der Herzog in die ihm auferlegte Zurückgezogenheit, die mit seinen Neigungen und dem rastlosen Thatendrang, der ihn verzehrte, in schneidendem Widerspruch stand. Es schien, nach dem Ausspruche des seelenkundigen Arztes, ein Zerstörungstrieb in der Seele des unglücklichen Jünglings zu wohnen, der ihn sich selbst zu tödten zwang; alle Vorsichtsmaßregeln scheiterten an dem Fatalismus, der ihn zu Grunde richtete.

Indeß wirkte der Aufenthalt in der freien Natur, die herrliche Landluft, die Stille und Ruhe seiner neuen Umgebung wohlthätig auf seinen leidenden Körper, wenn auch sein aufgeregter Geist nicht den gewünschten Frieden fand und sich nur zu sehr einem dumpfen Brüten über seine Lebensstellung und sein eigenthümliches Schicksal überließ, „Wie viele Ideen,“ schrieb er damals an seinen Freund Prokesch, „kreuzen sich in meinem Hirn über meine Stellung, über Geschichte, Politik und die große strategische Wissenschaft, welche Reiche zerstört und erhält! Welche verschiedene Ansichten drängen sich in meiner Seele! Aber die Offenbarung einer derartigen geistigen Verwirrung dürfte wohl von meiner Seite ein Unrecht sein; deshalb glaube ich, daß ich besser thue, all’ diese Gedanken in dem Dunkel zu lassen, aus dem sie hervorsteigen. Aber Sie werden mich nicht verdammen, wenn meine Ideen einen allzukühnen Flug nehmen, Sie werden sich nicht beeilen, sie in den Staub zu ziehen.“

In der Einsamkeit befreundete sich der Prinz auch mit der Poesie, für die sein mehr realer als ideeller Geist bisher wenig Neigung gezeigt hatte. Besonders sprach ihn der melancholisch großartige Genius Byrons an, mit dem er sich verwandt fühlte. Durch den gebildeten Doctor Malfatti lernte er die Meditationen von Lamartine kennen, die ihn mächtig ergriffen. Mit bewegter Stimme las er bei einem Besuche des Arztes diesem eine Stelle vor, welche der Dichter an ihn selbst gerichtet zu haben schien:

Courage, enfant déchu d’une race divine;
Tu portes sur ton front ta céleste origine.
Tout homme, en te voyant, reconnait dans tes yeux
Un rayon éclipsé de la splendeur des cieux.


Muth, theures Kind aus göttergleichem Blut,
Auf dessen Stirn des Himmels Ursprung ruht.
In Deinen Augen sieht, wer Dich erblickt,
Der Gottheit Strahl, vom Himmel Dir geschickt.

Trotzdem sich anscheinend der Herzog in Schönbrunn erholt hatte, so war sein Leiden keineswegs beseitigt. Neue Erkältungen, denen er sich unvorsichtig aussetzte, verschlimmerten sein Brustübel in dem Maße, daß er seiner Auflösung entgegensah. Die Aerzte verordneten den Aufenthalt in dem wärmeren Italien, wonach sich der Kranke um so mehr sehnte, da er dort seine Mutter und den treuen Prokesch wiederzusehen hoffte. Aber er mußte erst die Erlaubniß Metternichs zu einer solchen Reise einholen, da er im Grunde doch nur ein mit Mißtrauen bewachter Gefangener war. Der Minister gab ohne Anstand seine Einwilligung, aber der Herzog war schon zu schwach, um davon Gebrauch zu machen. Von Tag zu Tag nahmen seine Kräfte ab, sodaß er nach dem Brauche des österreichischen Kaiserhauses in Gegenwart des ganzen Hofes das heilige Abendmahl empfing. Niemand, selbst sein greiser Religionslehrer, der Hofprälat Wagner, wollte ihn mit der Nähe seines Todes bekannt machen. Da übernahm es die Erzherzogin Sophie, damals eine junge, schöne Frau, welche er wie eine Schwester liebte, ihn vorzubereiten. Sie selbst sah ihrer Entbindung entgegen und empfing mit ihm zugleich das Sacrament. Vor dem in dem Krankenzimmer aufgeschlagenen Altar kniete der sterbende Sohn Napoleons, bleich und abgezehrt, neben der blühenden Frau, in der Fülle ihrer Schönheit, strahlend von Glück und neuen Hoffnungen, denen sie entgegensah. Es war ein eigenthümlich ergreifendes Schauspiel, wie hier Leben und Tod, Sarg und Wiege sich zu den Füßen der Religion berührten.

Bei der ersten Nachricht von der drohenden Gefahr war Marie Louise, selbst leidend, zu ihrem Schmerzenskinde herbeigeeilt. Erschütternd war das Wiedersehen der Mutter mit ihrem Sohne, die sich Jahre lang nicht begrüßt hatten. Von welchen qualvollen Erinnerungen wurde ihre Seele bestürmt – Napoleon todt auf Helena, der König von Rom ein Sterbender!

Am 21. Juli 1832 waren seine Leiden auf das Höchste gestiegen; zum ersten Male beklagte er sich laut über seine Qualen voll Lebensüberdruß.

„Wann wird,“ fragte er dumpf, „dieses elende Dasein ein Ende nehmen?“

Gegen Abend verschlimmerte sich sein Zustand; er wollte indeß nicht leiden, daß seine Diener bei ihm wachten; auch bat er seine Mutter, die er fortwährend über die Gefahr zu täuschen suchte, sich zu entfernen und ihn allein zu lassen. Um drei Uhr des Morgens wurde der Kammerdiener durch sein lautes Stöhnen aufgeweckt.

„Ich ersticke,“ stöhnte der Unglückliche, „ich ersticke!“

Der Baron Moll, sein Begleiter, und der Kammerdiener stürzten sogleich herbei, um ihn aufzurichten.

„Meine Mutter,“ schrie er, „meine Mutter!“

Das waren seine letzten Worte.

Marie Louise und der Erzherzog Franz, von dem er gewünscht, daß er ihm die Augen einst zudrücken sollte, eilten sogleich herbei. Er konnte nicht mehr sprechen, aber seine Blicke hingen mit einem unsäglichen Ausdrucke an den Zügen der Mutter. Der herbeigerufene Geistliche zeigte mit dem Bilde des Erlösers nach oben. Der Sterbende schien ihn noch zu verstehen, und sein brechendes Auge richtete sich zum Himmel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_762.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2023)