Seite:Die Gartenlaube (1859) 765.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

noch vor wenigen Jahren und sah man eigentlich nur durch einige Jahre; denn dieses Haus alten Styles und alter Einrichtung war noch ganz neu und eine Schöpfung der modernen Zeit unter Louis Philipp. Es war wie ein Traum, wenn man zufällig vor der Hofmauer stand und das Thor sich öffnete und eine große Karosse, wie man sie nur noch bei Krönungen sieht, herausfuhr mit einem gepuderten Kutscher vorn, mit einem oder zwei gepuderten Bedienten hinten, und wenn in der dunklen Tiefe der Karosse ein altes, kleines Herrchen saß, ebenfalls gepudert, mit einem seidenen Mäntelchen auf den Schultern, an welchem Atlasschleifen glänzten, während er in der einen Hand einen kleinen Dreimaster, in der andern ein hohes, spanisches Rohr mit goldenem Knopf hielt. Mitten unter all dem modernen Volk in Frack und Cylinderhut war das Alles wie eine Erscheinung aus längst vergangener Zeit. War das alte Herrchen im Costüm Louis XVI. der Sohn einer alten legitimistischen Familie, der sich Illusion machen, der von den Zeiten, da seine Vorfahren und nicht die gemeine bürgerliche Canaille herrschte, nicht lassen, der im Angesicht des Bürgerkönigs und der bürgerlichen Minister eine Demonstration zu Gunsten der guten alten, adeligen Zeiten machen wollte? Nein, das gepuderte alte, immer lächelnde Herrchen, von dessen unerschöpflichen Millionen man nicht genug erzählen konnte, war nichts mehr und nichts minder als ein Proletariersohn; nicht viel mehr als halb und halb ein Bettelkind aus Marseille.

Die gute Stadt Marseille am mittelländischen Meere hatte im vorigen Jahrhundert noch sehr viel Aehnlichkeit mit den alten Seerepubliken Italiens. Durch viele Jahrhunderte erfreute sie sich einer Art republikanischer Freiheit und eines einträglichen Seehandels, den die Concurrenz der itälienischen Seestädte, selbst Genua’s, und die Raubzüge der Barbaresken nicht zu unterdrücken im Stande waren. Unter den reichen Familien, an die sich manche vom alten provençalischen Adel anschlossen, die gerne ihre langweiligen Paläste in Aix und das Parlament verließen, um in der Phokäerstadt ein Freudenleben zu führen, hatte sich nach und nach ein Patriziat gebildet, welches nun Marseille auf oligarchische Weise beherrschte. Der Aufwand, den man machte, war ungeheuer und beschämte in mehr als einer Beziehung den Versailler Luxus. Die Herren in Versailles lebten vom Abfall des Hofes oder von ihren Zehnten, die bei dem furchtbaren Elend des Volkes, bei der schrecklichen Verarmung der Bauern unter Ludwig XV. und XVI. immer spärlicher einliefen, während das Meer mit seinen Reichthümern unerschöpflich war und den Marseiller Patriziern die Ernten und den Tribut aller Zonen in’s Haus brachte. So ein schwankes, kleines Schiff war damals mehr Werth, als ein Landbesitz der Rohans oder Montmorencys.

Am Hafen, dort ungefähr, wo heute die prächtige Straße der Canebière ausmündet, wo die Börse und das Theater stehn, breitete sich noch im vorigen Jahrhundert ein großer Platz aus, der ringsumher von hohen Linden und Akazien, wohl auch von Rosenlorbeerbüschen umgeben war. Zwischen den Bäumen standen die Hütten der Limonadièren und der Eisverkäuferinnen. Wenn die Sonne hinter den kahlen Bergen des étang de Berre zur Ruhe ging und die provençalische Glühhitze vom Hauche des Meeres gekühlt wurde, traten die Herren und Frauen, die Söhne und Töchter der alten Patrizierfamilien aus ihren Häusern auf diesen schönen Platz. Kleine Betteljungen beeilten sich, kleine Tische und Stühle herbeizuschaffen, und dafür bekamen sie einen oder zwei Sous. An den Tischchen saßen die Damen und tranken Limonade oder schlürften Sorbet, und die Herren gingen zwischen den Tischchen umher und machten den Hof. Da ward viel geliebt und viel gelacht, und man kümmerte sich wenig darum, daß hundert Schritte von hier die Galeerensclaven, zu Zwei und Zwei an einander gefesselt, seufzten und ächzten, und daß unter diesen mancher edle Märtyrer war, der seinen protestantischen Glauben nicht abschwören wollte. Wenige von den Herren verirrten sich bis zu diesen Unglücklichen, wie es der Präsident des Burgunder Parlaments einmal gethan, der dort einen Galeerensclaven fand, der eben Cartesius studirte. Die Herren, die den Hof machten und so glücklich waren, trugen seidene Mäntelchen mit atlasnen oder sammtnen Schleifen auf den Schultern. Sonderbar, welche kleinen Dinge oft das Leben und das Schicksal eines Menschen bestimmen!

Die seidenen Mäntelchen mit den Atlas- oder Sammetschleifen stachen einem der Betteljungen, die den Damen Tischchen und Stühle brachten, besonders in die Augen. Ein solches seidenes Mäntelchen mit Sammet- oder Atlasschleifen zu tragen, schien Jacques Atron, dem kleinen, schwächlichen, schmächtigen Buben, das höchste Glück; nicht eigentlich das Tragen eines solchen Mäntelchens allein, sondern noch dazu das Hofmachen, das Hin- und Hergehen von einem Tischchen zum andern und das Alles auf diesem selben Platze am Hafen von Marseille. Ein höheres Glück konnte er sich nicht vorstellen, es schien ihm eine Unmöglichkeit.

Woher kam diesen Herren dieses Glück? Vom Meere, aus wilden Ländern, von fernen Inseln, aus allen möglichen Indien. Jacques Atron, um ebenfalls eines solchen Glückes theilhaftig zu werden, wollte auf’s Meer und Seemann werden, tausend Abenteuer bestehen, indische Prinzen entthronen, schwarzen Königen ihre Diamanten aus Ohr und Nase reißen und als ungeheuer reicher Mann nach Marseille zurückkehren und sich ein seidenes Mäntelchen kaufen, mit atlasnen und sammetnen Schleifen und dann des Abends auf den Platz kommen und von Tisch zu Tische gehen und den Hof machen. Aber er mußte als Schiffsjunge anfangen – und siehe da, trotz Bitten und Flehen und Weinen, kein Capitain wollte ihn mitnehmen, denn er war gar zu zart und zu schwächlich.

Da half er eines Tages einer Gemüseverkäuferin, die ihre Waare auf ein Schiff brachte, das nach fernen Ländern absegeln sollte. Diese Gelegenheit benutzte Jacques Atron, um sich im untersten Raume zu verstecken. „Wenn sie mich auf offener See entdecken,“ sagte er zu sich, „so werden sie mich doch nicht in’s Meer werfen, sondern werden mich mitnehmen in die fernen Länder.“ Er wußte nicht wohin? aber das war ihm gleichgültig. Zwei volle Tage lag er da unten, und die Anker wurden nicht gelichtet. Er hungerte, er verging vor Durst, aber er hielt sich ruhig. Endlich stach das Schiff in See; er vergaß Hunger und Durst und ließ es ruhig segeln. Als es nach seiner Berechnung schon viele hundert Knoten weit gesegelt sein mußte, kroch er aus seinem Verstecke hervor und sah aus wie ein Geist. Man warf ihn nicht in’s Meer; man nahm ihn mit in die fernen Länder.

So begann die lange Odyssee Jacques Atrons, die nur unternommen war, um dermaleinst ein seidenes Mäntelchen mit Sammet- oder Atlasschleifen tragen, um auf dem schönen Platze von Marseille den Damen den Hof machen zu können. Unglückseliger Jacques Atron! Hättest du nur noch ein Jahr lang gewartet! Das Jahr deiner Ausfahrt war das Jahr des Heiles und des Revolutionsanfangs 1789 – ein Jahr darauf waren die seidenen Mäntelchen und die Patrizier und die schönen Damen vom schattigen Platze von Marseille verschwunden.

Aber Jacques Atron erfuhr wenig von den Vorgängen in der Heimath. Er hörte wohl, daß der Bürger gleiche Rechte habe mit dem Adeligen, daß es überhaupt Menschenrechte gebe, daß man sich von Zeit zu Zeit in Paris schlage, daß der König Ludwig XVI. enthauptet sei, daß sich Frankreich eine Republik nenne, daß es einen ersten Consul, dann daß es einen Kaiser habe, daß es Sieg auf Sieg erkämpfe in allen Weltgegenden, dann daß es geschlagen werde in allen Zonen – das Alles freute oder betrübte ihn, das Alles sagte ihm, daß sich in Frankreich wohl Manches, ja Vieles verändert haben müsse während seiner Abwesenheit. Daß aber das seidene Mäntelchen mit den atlasnen oder sammetnen Schleifen aus der Mode gekommen, das hatte er nirgends gelesen oder gehört, auch nicht, daß sich das Leben auf dem großen Platze von Marseille irgendwie geändert habe. Es fiel ihm auch nicht ein, daß in diesen Beziehungen irgend etwas anders werden könnte; in seiner Phantasie stand das Alles so fest wie ewig, und wo in der Welt immer er arbeitete, duldete, kämpfte, zusammenraffte, er that es für den großen Platz von Marseille.

Von diesen seinen Arbeiten und Leiden wissen wir noch weniger, als er von den Vorgängen in Frankreich wußte. Nur Einzelnes hat er in seinem spätern Alter, da er schon sehr schweigsam war, erzählt und haben wir von ihm oder seinen Neffen erfahren. Wie er z. B. in San Domingo mit Lebensgefahr einen alten Herrn vor der Wuth der aufständischen Negersclaven auf sein Schiff gerettet, nur weil dieser alte Herr ein seidenes Mäntelchen trug, wie die Marseiller Patrizier. Der alte Herr, dessen ganze Familie ermordet war, machte ihn, seinen Retter, zum Erben seines großen Vermögens. Das große Vermögen war ihm noch nicht genug. Er begann zwischen Amerika und Afrika einen großen, selbstständigen Handel, rüstete Kaperschiffe aus gegen die Engländer und wurde mehrere Male gefangen und mehrere Male arm und dann wieder reich.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 765. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_765.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2023)