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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

bezeichnet. Vor Allem wollen wir die Gesellschaft mustern, welche diesen großen Platz belebt.

Hier findet man alle Stände vertreten, alle Schattirungen des großen socialen Farbendreieckes; doch scheinen alle diese Gefangenen für die Zeit ihres unfreiwilligen Aufenthaltes in diesem Städtchen von den Vorurtheilen der Standesverschiedenheit frei zu sein, die wenigen Gefangenen ausgenommen, die, gleich meinem verehrten Freunde, es vorziehen, in ihren Zimmern zu verbleiben, – schamhafte Gäste von Queen’s Prison, welche keine neuen Bekanntschaften zu machen wünschen, und denen es etwas genant erscheinen würde, wenn sie dereinst in Regent-Street oder New-Bond-Street von irgend einem zweideutigen Elegant bei der Hand genommen und in cordialer Vertraulichkeit an die schönen Tage von Aranjuez erinnert würden. Diese Schamhaften geben sich der nöthigen Leibesbewegung im Hofraume erst Nachts hin; denn keinerlei verschlossene Pforte, keinerlei Eisengitter hindert sie, zu irgend einer Zeit des Tages oder der Nacht innerhalb der hohen Mauern, welche die ganze Colonie von der Außenwelt absondern, ihre volle Freiheit zu genießen. Die Personen aber, welche den Hofraum bei Tag beleben, gehören insgesammt den im Kampfe des Lebens mehr abgehärteten Streitern aller Classen an. Hier sehen wir zwei junge ehemalige Dandies Arm in Arm, die Cigarre im Munde, sorglos plaudernd auf- und abgehen. Sie tragen einst elegant gewesene, nun aber schon sehr abgeschabte Morgen-Negligees. Gold- oder silbergestickte Mützen von zweideutig gewordener Farbe sind nachlässig über das nicht allzu sorgfältig cultivirte Haar geworfen, während die einst so fashionablen Bärte bedeutende Spuren von Verwilderung an den Tag legen. Aber ihre Stiefeln sind blank und glänzend, ihre Cigarren sind echte Havannahs und haben fünf Pence pro Stück gekostet. Dort bewegt sich ein sehr beleibter Kornspeculant in Gesellschaft eines etwas zweideutigen Solicitors (ein Mittelding zwischen Advocat und Agent), der aber auch in Queen’s Prison sein weißes Halstuch, seinen schwarzen Frack und seine goldene Brille beibehalten hat. Sie grüßen zwar freundlich rechts und links, aber sie ziehen es vor, unter sich zu sein, denn sie haben sich Manches zu sagen, das nicht Jedermann zu wissen braucht. Dort schmaucht ein wohlbeleibter alter Herr in geblümtem, seidenem Schlafrocke recht jovial und selbstgefällig sein Morgenpfeifchen; auf seiner linken Hand sitzt ein Papagei, der an Farbenpracht mit dem besagten Schlafrocke wetteifert. Man sieht es diesem Manne an, daß er eines der beliebtesten Mitglieder in irgend einem Club alter Lebemänner in der City ist. Wenn ihn aber seine Schildkrötensupp- und Sherry-Freunde nicht bald aus dem Spinnennetze befreien, in das er gerathen ist, so wird er, fürchte ich, vergessen werden (obgleich er ohne Zweifel, mit allen seinen Clubgenossen an einer wohlbesetzten Tafel sitzend, in der Stereoscopic Company. Cheapside, photographirt worden ist), – denn Niemand besitzt ein kürzeres Gedächtniß als ein englischer Tischfreund.

Wer aber ist diese wohlbeleibte, rothgefärbte Frau, welche manche der Gefangenen so freundlich, manche derselben so zweideutig und wieder manche gar nicht grüßt? Wer ist die schmutzig gekleidete, hagere Frau, die ihr folgt? Wir erfahren dies zwar erst später von meinem gefangenen literarischen Freunde, – aber meine Leser sollen es schon jetzt wissen. Die Dicke ist die wohlthätige Fee der Colonie. Sie ist es. welche für fünf Schillinge per Woche die nackten, weißübertünchten Wände der fast leeren Gefangenenzimmer in ganz gemächlich und gemüthlich bewohnbare Sitz- und Schlafzimmer umwandelt; sie ist es, die, wenn man noch einen und einen halben Schilling hinzufügt, eine mit glänzenden Metallknöpfen beschlagene grüne zweite Thüre im Innern des Gemaches improvisirt, so wie auch die Fenster mit Draperien und Vorhängen versieht. Ihre hagere Begleiterin ist einer der dienstbaren Geister der Colonie, sie ist ein fast ätherisches Wesen, das für drei oder vier Schillinge in der Woche alle häuslichen Dienste zu leisten bereit ist, die da heißen: Essen herbeiholen, Stube reinigen, Feuer anschüren, Geschirre spülen etc. An diese zwei unentbehrlichen Personen reiht sich noch eine dritte: ein alter, ärmlich gekleideter Mann, der kurze Hosen mit Kamaschen trägt und sich erbietet, für einen Schilling in der Woche täglich die Stiefeln in zwei glänzende Spiegel zu verwandeln. Dieser Mann bewohnt das Gefängniß der Königin schon seit einer Reihe von Jahren, und zwar blos weil er sich standhaft weigert, dreißig Pfund Sterling zu bezahlen, während er, wie man behauptet, zehnmal so viel im Vermögen hat. Je nun, der Platz gefällt ihm, sein Geschäft geht gut, – das Gefängniß der Königin kann ihn nicht los werden.

Dort an der hohen, düsteren Mauer, die allein an ein Gefängniß erinnert, sind große runde Scheiben und Kreise angemalt, wie für ein Preisschießen, und unter denselben sieht man fortlaufende Nummern. Es erinnert dies an die Stückchen Zucker, die man dem gefangenen Vogel an seinen Bauer zu stecken pflegt. Dreißig bis vierzig lustige Zeisige jedes Alters und Standes erlustiren sich dort gleich Schulknaben an dem in England so beliebten Racket-(Volant-)Spiel, denn dieses Vergnügen gehört hier zu den erlaubten Zeittödtungsmitteln, während Karten- oder Würfelspiel auf das Strengste verpönt sind. Aus dem bisher Gesagten ersehen meine Leser wohl, daß das Gefängniß der Königin nichts weniger als ein schauerlicher Kerker ist und daß sich mit leichtem Sinne begabte Gefangene gar wohl damit befreunden mögen. Dessen ungeachtet aber soll das Hauptgespräch aller dieser bunt durcheinander gewürfelten Menschen sich größtentheils um das Thema ihrer bald bevorstehenden Befreiung drehen. Durch Wochen, durch Monate, durch Jahre erzählen sich diese Leute täglich einander, daß sie nächste Woche ganz gewiß freikommen werden, und gar Mancher stirbt in Queen’s Prison, der schon seit fünf oder wohl gar zehn Jahren ganz sicher in der nächsten Woche freikommen sollte.

Die gegenwärtigen Statuten gestatten jedem einzelnen Schuldgefangenen täglich eine Maß (Pot) Bieres (gleichviel wie stark) oder eine Pinte Weines. Die Controle wird mittelst eines großen Buches geführt, in welches bei jedesmaliger Verabfolgung des geistigen Getränkes der Name des Empfängers eingetragen werden muß. Branntwein ist strengstens verboten. Trotzdem aber kann ein Gefangener auch jetzt sehr wohl eine Abendgesellschaft geben, worin unzählige Maße oder Pinten vertilgt werden, und der Schlüssel zu diesem Räthsel liegt einfach darin, daß die Namen der armen Teufel, die keine geistigen Getränke zu bestreiten vermögen, statt derer der bemittelten Konsumenten einregistrirt werden. Wenn Hamilton Esqu. oder wohl gar Sir Derbywater Freunde bei sich sieht, so figuriren an diesem Tage all die armen Brown’s und Smyth’s und Robinson’s als comfortable Weintrinker im großen Buche. Was nun vollends den Branntwein betrifft, so ist dieser ebenfalls sehr leicht zu bekommen, nur zum fünffachen Preise, als Contrebande. Man ist eben im Innern von Queen’s Prison immer noch in England, wo der Reiche alle Freiheiten genießt, während der Arme im Interesse der Moral und der Staatskirche streng gehalten wird. Und sind in Queen’s Prison nicht eigentlich diese Armen die allein Bedauerungswürdigen, sind sie nicht die Ehrlichsten unter den Schuldgefangenen?

Kommen wir aber zur Hauptsache: Ist es nicht beklagenswerth, daß in einem Lande, dem durch Volksvertretung scheinbar jeder Weg zur Reform offen steht, die Rechtspflege noch in den Kinderschuhen einherwandelt? Ich will von den englischen Militärgerichten mit ihrer neungeschwänzten Katze und mit ihrer Brandmarkung der Deserteure für jetzt schweigen, ich will ein Criminalverfahren unbesprochen lassen, das Leute an den Galgen hängt, die in Preußen oder Oesterreich zu fünf- bis zehnjähriger Kerkerstrafe verurtheilt würden, – ich will die Handhabung der Civilrechtspflege, die für den Unbemittelten gar nicht vorhanden ist, bei Seite liegen lassen; – denn diese Schilderung soll die Grenzen von Queen’s Prison nicht allzuweit überschreiten, – – aber eine Frage sei mir gegönnt: Ist es nicht auffallend, daß in dem freien constitutionellen England es noch heutzutage möglich ist, einen Menschen wegen einiger Pfund, die er schuldet, durch zwanzig, – dreißig Jahre, – ja lebenslänglich eingekerkert zu sehen, – und nicht etwa in Queen’s Prison, das ich eben geschildert, sondern in wirklichen Kerkern, wie in Whitecroß-Street oder in Horsemonger-Lane?

Es sei mir gestattet, heute nur zwei der letzten Zeit angehörige Fälle kurz anzudeuten, die das Faule in dem englischen Schuldgefängniß-Systeme deutlich an den Tag legen. Was ich hier mittheile, ist buchstäblich wahr.

Vor einigen Jahren wurden zwei durch Schönheit und Bildung ausgezeichnete junge Mädchen von guter Familie, die verwaist waren und eben die Erbinnen eines nicht unbeträchtlichen Vermögens geworden waren, durch ein Gerichtsverfahren, von welchem sie nichts verstanden, nach dem Gefängnisse der Königin verpflanzt. Von diesem Detentionsorte aus suchten sie sich Rechtsvertreter zu

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_042.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)