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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

verschaffen, allein ihre Verlassenheit, ihre Unerfahrenheit ließ sie fort und fort in die Hände solcher Rechtsanwälte gerathen, wie sie in London nur allzuhäufig zu finden sind, – deren Hauptsorge nur darin besteht, gehörige Kostenberechnungen zu fabriciren und die ihnen anvertraute Angelegenheit in ihrer Ruhe nicht zu stören. Die Herren der Kanzlei, deren Pflicht es eigentlich wäre, solchen Uebelständen gründlich abzuhelfen, machten nach dem alten Schlendrian nur jeden Monat einmal ihren Besuch in Queen’s Prison, begnügten sich damit, die beiden Damen freundlichst nach ihrem Befinden zu befragen, und sich dann erst im nächsten Monate wieder an sie zu erinnern. In dieser Weise schwanden Jahre dahin, die einst so blühenden und reizenden Mädchen welkten dahin, ihre Freunde vergaßen sie, ihre Angehörigen starben, sie wurden alte Jungfrauen. Da brachte die Vorsehung kürzlich ihre Angelegenheit zur Kenntniß eines Parlamentsmitgliedes, der ein Jugendfreund ihres verstorbenen Vaters gewesen war. Dieser edle Mann hat nicht sobald die Lage erfahren, in welcher sich die beiden jungen Damen befinden, als er auch sogleich zu ihrer Hülfe herbeieilt und sich ihrer Angelegenheit thätig annimmt. Seine Kenntniß der Gesetze macht es ihm möglich, die Spinngewebe der Rechts-Chicanen, in welchen diese beiden unschuldigen Opfer gefangen sind, zu beseitigen, und ehe zwei Monate vergehen, hat er sie nicht nur aus Queen’s Prison befreit, sondern sie auch in den Besitz ihres Vermögens gesetzt. [1]

Der zweite Fall, den ich in Kürze andeuten will, ist noch viel empörender: Vor vierundvierzig Jahren lebte ein junger Handwerker mit seiner Schwester in einem Dorfe Südenglands. Das Mädchen wurde durch einen reichen Fleischer verführt, und dieser, die Rache des damals rüstigen und energischen jungen Mannes fürchtend, ließ ihn auf eine gefälschte Schuldverschreibung hin in das Gefängniß von Winchester werfen. Der Gefangene war arm, machtlos, und es war nur ein Weg offen, um ihm zu seiner Freiheit zu verhelfen: er mußte sich zur Schuld bekennen, sich für insolvent erklären und „durch den Court gehen“ – wie sie im englischen Gerichtsjargon sagen. Allein er weigerte sich standhaft, dies zu thun, weil er in der That nichts schuldete und er nicht einen Meineid begehen wollte. Jahre schwanden hin, – seine Verfolger starben, – aber er blieb ein Gefangener. Die Formalität, die ihn befreien konnte, war im Widerstreite mit der Wahrheit und seinem Gewissen. Da die Gefängniß-Autoritäten seiner müde waren, quälten sie ihn auf alle Weise, hielten ihn einmal durch vier Jahre in strenger, einsamer Haft, – setzten ihn auf Diät – doch Alles vergeblich, – er wurde ein elender Krüppel, – aber nichts konnte ihn vermögen, seinen Namen bestätigend zu einer Schuld zu schreiben, die er niemals contrahirt hatte. Zuletzt verschaffte er sich ein Habeas Corpus, und so ist er nun in Queen’s Prison, wo er wahrscheinlich bis zum Ende seiner Tage verbleiben wird.

Ich überlasse es meinen Lesern, über die Zweckmäßigkeit eines solchen Systems selbst zu urtheilen, und führe sie durch dasselbe Eisengitter, das uns einließ, nun wieder in’s Freie.




Sennenleben in den Schweizeralpen.
Von H. A. Berlepsch.

Hirtenstand ist der Urstand der Schweiz, älter als die Urstände des Grütli-Bundes am Vierwaldstätter-See. Die Beschaffenheit des Bodens und seine klimatisch bedingten Erzeugnisse wiesen die ersten Bewohner des Landes auf Viehzucht hin, und die Beschäftigung, die den Aeltervätern im Gebirge Jahrhunderte hindurch Nahrung und Wohlstand, Segen und Freiheit gewährte, pflanzte sich als überkommenes Erbtheil von Generation auf Generation fort, – ein Element im Blute des Alpensohnes. Darum ist auch Alpenwirthschaft der ökonomische Schwerpunkt der Gebirgsschweiz, das Grund- und Stock-Capital, aus dem der Bauer seine beste Rente zieht, auf das er das Budget seiner Haushaltung, die Erweiterung seines Besitzes, die Hebung seiner materiellen Interessen basirt.

Da, wo der Flachländler auf persönlich eigenem Grund und Boden im Schweiße des Angesichtes seine Futterkräuter bauen, ernten, aufspeichern und in die Krippe streuen muß, um für’s ganze Jahr seinen Viehstand zu versorgen, – treibt der Alpensohn heiter und unbesorgt fünf schöne Monate lang seine Heerden zu einer fetten Mahlzeit, deren Tafel, von der schaffenden Natur ohne die Cultur der Menschenhand reichlich gedeckt, nicht ihm oder seinem Nachbar allein gehört, sondern die meist großes Gemeingut seines Heimathsdorfes ist. Darum kann der unscheinbare Mann im leinenen „Futterhemd“ Heerden halten, die manchem Rittergute eine Zierde sein könnten, – darum ist die Zeit seiner reichen Milch- und Jungvieh-Ernte droben „innert der Flüehne“ die freundliche verheißende Perspektive, die er den langen trüben Winter hindurch nicht aus dem Auge verliert, – darum sind ihm die Alpen nicht nur die natürlichen Bollwerke seiner Unabhängigkeit und Freiheit, sondern sie sind ihm auch eine Quelle seiner Wohlfahrt und Zufriedenheit. Der Tag der Alpfahrt ist das Auferstehungsfest im Wirthschaftskalender des Sennen, – der Sommeraufenthalt der Heerde und ihrer Hirten auf den „Staffeln“, gewissermaßen die Ferienzeit für eine Luftbadecur. Dieses moderne Nomadenleben eines civilisirten Volkes, seine Genüsse und Anschauungen, seine Entbehrungen und Gefahren dort droben in der Nachbarschaft des andauernden Firnschnees, mußten schon oft den wunderbaren Gedanken-Excursionen poetisch verirrter Schwärmer zum Thema für höchst unwahre Schilderungen dienen. Nachfolgende Zeilen wollen versuchen, ein treues Bild des Alpenlebens mit all seiner wirklichen und natürlichen Romantik zu geben, ohne darüber die nüchterne Kehrseite zu vergessen, – freilich oft auf die Gefahr hin, liebliche Träume der Ueberschwänglichkeits-Phantasie zu zerstören.

Alpen im weiteren, geographischen Sinne heißt, wie bekannt, das ganze höchste Gebirgsgebäude Europa’s, das Italien im Norden halbmondförmig umschließt; – im engeren und localen Sinne aber versteht der Schweizer, der Tyroler, der baierische und österreichische Gebirgsbewohner darunter jene von viertausend Fuß über dem Meeresspiegel bis zur Schneeregion liegenden, mit kräftigen, milchreichen Alpenpflanzen überwachsenen Weideplätze, auf welche er in der guten Jahreszeit sein Vieh zur „Sömmerung“ treibt. –

Nicht jeder Bergbewohner „fährt selbst auf Alp“; die Größe seiner Heerde entscheidet darüber. Wer vierundzwanzig Kühe und mehr besitzt, heißt ein „Sennten-Bauer“, weil diese Anzahl, besonders wenn ein Zuchtstier dabei ist, ein „Sennthum“ genannt wird. Wer weniger besitzt, hat nach dem Ausdruck des Appenzellers blos ein „Schüppeli-Bech“. Solch größere Besitzer oder Senntenbauern haben entweder eigene Alpen, oder sie nehmen ein Alp in Lehenzins, oder sie benutzen (und dies ist am meisten und fast allgemein der Fall) die Gemeinde-Alpen und treiben selbst in die Berge. Die kleineren Bauern, die blos wenig Kühe halten, gehen wohl persönlich in die Voralpen; aber wenn das Vieh während des Juli und August hinauf in die höheren Weiden getrieben wird, übergeben eine Anzahl von Nachbarn ihr Vieh einem Senn, mit dem sie dann seiner Zeit Abrechnung halten. Um nun die Auseinandersetzung bezüglich des Käse- und Butter-Ertrages der Interessenten festzustellen, gehen sämmtliche Betheiligte zweimal während der Dauer der Alpzeit an bestimmten Tagen hinauf „goh messe“. Das heißt: in Gegenwart sämmtlicher Nachbarn wird eine jede Kuh gemolken, ihre Milch gemessen und nach diesem Maßstabe der Bruchtheil des Einzelnen am gemeinschaftlichen Gewinn festgestellt. Der mit der Bewirthschaftung beauftragte Senn besorgt nun während der ganzen Dauer mit seinen Gehülfen alle Tagesgeschäfte und empfängt dafür außer freier Kost einen Lohn an baarem Geld oder in Naturalien. Um jedoch die Alpen im Stande zu erhalten und bei der größten Freiheit auf den Bergen dennoch eine allgemeine Ordnung zu handhaben, der Jeder sich unterwerfen muß, wählen alle Alpenbesitzer oder Berechtigten einen „Alpmeister“. Er ist der primus inter pares, ein Stück Gebirgspolizei, der „die Alp in Ehren halten, schützen und schirmen soll, als wie sein eigen Gut, – der Weg und Steg machen und Acht haben soll, daß Niemand im „Birg heue“ bis nach St. Jacobs Tag, der die Alpengenossen anhalte, jährlich einen Tag die Alp zu säubern und zu steinen“ und Aehnliches mehr. Also schreibt das „Alpbüchli“ vor, eine naive und ohne spitzfindige Redaction von den Bauern selbst in der „Alpgemeinde“ gegebene Gesetzsammlung,

  1. Der Name dieses braven Mannes ist Hadfield, er ist Parlamentsmitglied für Sheffield.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_043.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)