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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Ehe wir hierauf zurückkommen, geben wir untenstehend eine genauere Beschreibung des Uebelthäters in seinen verschiedenen Zuständen.[1]

Dieser Raupe nun, oder vielmehr Milliarden dieser kleinen Raupen ist es gelungen, Verheerungen zu bewirken, wie solche durch andere Naturgewalten in so kurzer Zeit kaum erreicht, geschweige denn übertroffen worden sind. Denn selbst Wasser und Feuer werden in ihrer Macht aufgehalten durch Hindernisse, welche die Raupe mit Leichtigkeit überwindet.

Wenn die Gattung der Raupen, mit welcher wir uns hier beschäftigen, auch polyphag ist, das heißt, wenn sie auch keinen einzigen unserer Wald- und Gartenbäume verschont und in der Noth selbst mit Haidekraut und Gras vorlieb nimmt, so sind die Nonnen doch in gewisser Beziehung Feinschmecker, welche das Gute vom weniger Guten, das Zarte von dem Harten, das Saftige von dem Trocknen sehr wohl zu unterscheiden wissen. Dies gilt nicht allein von der Wahl der Holzarten, indem sie den Buchen den Vorzug geben vor den Birken und Eichen, diese indessen noch lieber annehmen, als Obstbäume, sämmtliche Laubhölzer aber so lange nicht berühren, als sie noch Nadelhölzer vorfinden, und unter letzteren wieder ganz besonders die Fichte (Rothtanne, pinus picea) vor Kiefer und Weißtanne auszeichnen; sie zeigen sich auch beim Fraße selbst an dem einmal ausgesuchten Baume ganz außerordentlich wählerisch und übermüthig. Und dabei machen sie die feinsten Unterschiede! Von dem Buchenblatte nimmt die Nonne am meisten. Sie beginnt an der Basis des Blattstieles ihren Fraß, geht an der Mittelrippe in die Höhe und löst die zarteren Theile des Blattes aus. Die Mittelrippe selbst zernagt sie erst dann, wenn die Nahrung knapp wird. Von Eichen- und besonders von Birkenblättern frißt sie nur äußerst wenig, versäumt aber nicht, den Blattstiel durchzubeißen, daß das Blatt zur Erde fällt und der Baum bald mit winterlichem Aussehen dasteht. Bei der Kiefer beginnt sie ihren Fraß an den zweijährigen Nadeln und geht erst, wenn der Hunger sie treibt, zu den einjährigen und ganz jungen über. Völlig unverantwortlich aber verfährt sie mit der Fichte. Wie schon gesagt, geben ihr die Nadeln dieses Baumes die liebste Nahrung. Und dennoch nimmt sie von diesen, ihrem Leckerbissen, nur den allergeringsten Theil zu sich. Fast unmittelbar über der Scheide, aus welcher die Nadeln hervorkommen, nagt sie dieselben durch und frißt dann nur den Stumpf derselben, welcher ihr besonders zusagen muß. Dadurch ist es aber auch stets um das Leben der befressenen Fichte geschehen, und der seiner Nadeln auch nur zum größeren Theile beraubte Baum wird eine sichere Beute des Todes, während sich die Laubhölzer immer, die Kiefer, sobald sie nicht zu arg mitgenommen ist, meist immer wieder erholt.

Einige wenige Exemplare dieser Raupe finden sich wohl zu jeder Zeit überall dort, wo es größere Waldungen im Zusammenhange gibt. Zum Glück ist aber ein solches Ueberhandnehmen derselben, wie es in den Jahren 1853–1856 in den Wäldern Litthauens stattfand, eine Seltenheit. Vor 30 Jahren wurden die ausgedehnten Kiefernbestände der Neuvorpommerschen Ostseeküste (Reg.-Bezirk Stralsund) von dieser Plage heimgesucht. Da aber, wie angedeutet, der Fraß in Kiefern nicht so gefahrbringend ist, als in Fichten, und da dort die außerordentlichsten Anstrengungen gemacht wurden, um den Verheerungen entgegenzutreten, gelang es, den größten Theil jener Bestände zu retten. Noch einmal trat dies Insect im Jahre 1838 in derselben Gegend auf, und zwar unter den merkwürdigsten Umständen.

Am 15. August des gedachten Jahres fährt der Tagelöhner Wieck auf einem Binnenwasser der Halbinsel Darß, hart an der Ostseeküste, welches eine beträchtliche Breite hat, mit mehreren anderen Leuten auf den Fischfang. Plötzlich zieht, von der Ostsee herkommend, bei ganz klarem und ruhigem Wetter, eine weiße Wolke auf, welche mit großer Schnelligkeit näher kommt und fast die Sonne verdunkelt. Bald erkennen die Leute, daß die vermeintliche Wolke nichts Anderes ist, als unglaubliche Mengen von weißen Schmetterlingen, welche wie die Schneeflocken herniederfallen und das Boot, sowie das Wasser ringsum bedecken. Die Fischer konnten sich der zudringlichen Gäste kaum erwehren; sie krochen ihnen in die Taschen und unter die Schürzen. Ganz bestürzt über dies seltsame Ereigniß, melden sie den Vorfall dem königlichen Oberförster auf dem Darß, und dieser entdeckt zu seinem unnennbaren Schrecken am folgenden Tage die sämmtlichen Kiefernbestände der Umgegend so dicht mit Nonnenschmetterlingen besetzt, daß er vier Ortschaften zu ihrer Vernichtung aufbieten mußte. Obwohl aber viele Scheffel derselben eingebracht wurden, konnten im nächsten Winter noch dreihundert Pfund Nonneneier gesammelt werden, und dennoch fand im Semmer darauf ein merklicher Fraß statt, der die Kiefernbestände lichtete.

In der Provinz Litthauen hatte die Nonne seit Menschengedenken nicht gewüthet, oder wenigstens nicht einen Ruin der Wälder herbeigeführt. Andere Calamitäten freilich, wie furchtbare Stürme und ein anderes Insect, „der Borkenkäfer“, von welchem weiter unten noch die Rede sein wird, haben die Nadelholzbestände in diesem Theile Preußens mehrfach heimgesucht, jedoch nicht in gleicher Ausdehnung und nicht mit ähnlichen nachhaltigen Wirkungen.

Im Sommer des Jahres 1852 zeigten sich in den enormen ostpreußischen Waldungen die ersten Spuren der Nonnenschmetterlinge. Dieselben wurden aber so vereinzelt gesehen, daß sich die Forstverwaltung noch nicht veranlaßt sehen konnte, Vernichtungsmaßregeln zu beginnen, wenn das Vorhandensein des Insectes auch keinerwegs ihrer Aufmerksamkeit entging. In den südwestlichen Theilen der Provinz, an der russisch-polnischen Grenze, erschienen die Raupen am häufigsten und fraßen daselbst schon, als in den nördlich und östlich gelegenen Waldkomplexen fast nach keine Spur derselben zu entdecken war. Man vermuthete damals gleich, wie es sich auch jetzt bestätigt hat, daß die Brutstätte des Insectes in den ungeheuren polnischen Waldungen gewesen war, und daß es der dortigen schlechten Forstverwaltung und ungenügenden Aufsicht zu danken sei, wenn die Vermehrung desselben in so fabelhafter Weise stattfinden konnte, daß spätere, auch noch so bedeutende Anstrengungen der Menschen zu ihrer Vertilgung erfolglos blieben.

Denn auch dieser gewaltigen Naturerscheinung ist der Mensch gewachsen und kennt die Mittel zu ihrer Unschädlichmachung. Er muß nur an der Quelle anfangen und sich dem Strome nicht entgegensetzen wollen, wenn dieser ein Niagarafall geworden ist! – Dem Ueberflug der Schmetterlinge nach Litthauen ist es zuzuschreiben, daß im Jahre 1853 die ganze Provinz bis zur Ostsee hinauf mit der

  1. Jedes Insect hat drei Zustände zurückzulegen, ehe es, nach der letzten Metamorphose, seine vollkommenste Form als Fliege (Schmetterling, Mücke, Käfer, Fliege, Biene etc.) erhält. In dieser Form erst ist es im Stande, seine Art fortzupflanzen, und es verschwindet, sobald diesem Gesetze der Natur Genüge geleistet worden ist. Während es nun fast bei allen übrigen Geschöpfen eine durchgehende Erscheinung ist, daß das männliche Geschlecht dem weiblichen an Größe, Kraft und Schönheit überlegen ist (man will ja, selbst den Menschen, auch im Schönheitspunkte, nicht ausnehmen), findet bei den Insecten in den allermeisten Fällen das Umgekehrte statt. So auch bei der Nonne.
    Der weibliche Schmetterling hat oft bis zwei und ein halb Zoll Flügelspannung, das Männchen ist gut einen halben Zoll kleiner. Ersterer hat einen schonen, rosenrothen Hinterleib, welcher Schmuck dem Letzteren fehlt oder wenigstens nicht glänzend ist. Auch ist bei dem Männchen die Zeichnung der Flügeldecken nicht so schön, als beim Weibchen. Der einzige Vorzug des Männchens sind seine schönen buschigen, doppelt gekämmten Fühler, welche dem Weibchen abgehen. Schon von weitem, und selbst wenn sie hoch am Stamme sitzen, sind die beiden Geschlechter kenntlich, da noch das Merkmal hinzukommt, daß das Weibchen seine großen Flügel im Sitzen über einander schlägt, während diese bei dem Männchen sich nicht völlig decken, und noch einen Theil der Unterflügel sehen lassen.
    Der verhältnißmäßig dicke Leib des Weibchens endigt mit einem langen Dorne, der sogenannten Legeröhre. Vermittelst dieser schiebt er Ende Juli oder Anfang August seine Eier tief in die Risse und Ritzen der Rinde von Baumstämmen, woselbst diese, ohne merkliche Veränderung, bis zum nächsten Frühjahre bleiben. Sehr bald nach dem Proceß der Eierablage stirbt das Weibchen, dessen Leib ganz zusammenschrumpfte, und das Männchen verschwindet zu gleicher Zeit.
    Sobald Ende April oder Anfang Mai die Frühjahrssonne warm auf die Rinde der Bäume scheint, beginnt es auf derselben lebendig zu werden. Die Schalen der Eier öffnen sich, und eine Menge ganz kleiner schwarzer Räupchen kommt hervor und kriecht nesterweise zusammen. Zwei bis drei Tage verharren die Räupchen, welche an der freien Luft sehr zunehmen, auf demselben Fleck und steigen dann hinauf auf den Baum, um in den Blättern oder Nadeln desselben ihre Nahrung zu suchen. Mit einer fabelhaften Gierigkeit stürzen sie sich auf den Fraß und merkwürdiger Weise sind sie so verschwenderisch, daß sie nur den kleinsten Theil des Blattes oder der Nadel wirklich fressen, bei weiten das Meiste nur abbeißen und herniederwerfen. In wenig mehr als zwei Monaten sind sie ausgewachsen, etwa ein und einen halben Zoll lang, von blaugrauer Farbe, mit langen Haarbüscheln. und haben, als ganz charakteristisches Unterscheidungszeichen, einen auffallend sammetschwarzen Fleck zwischen dem zweiten und dritten Leibesringe. – Ende Juni oder Anfang Juli steigen sie vom Baume hernieder, um sich zwischen losen Fäden in den Ritzen der Rinde zu verpuppen. Der Zustand als Puppe ist der kürzeste, denn schon nach drei Wochen zerbricht die Hülle, um den Falter an das Tageslicht zu lassen.
    Dies ist der gewöhnliche und regelmäßige Gang, von dem nur ausnahmsweise geringe Abweichungen stattfinden.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_057.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)