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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

wollte sie zu einem scherzhaften Tone Zuflucht nehmen und sagte mit erzwungenem Lächeln: „Wir sollen doch nicht glauben, daß wir Dir unentbehrlich sind? Erinnere Dich, wie lange Du in unserer Nähe gelebt hast, ohne Dich im Geringsten um uns zu kümmern.“

„Aber was war das für ein Leben!“ fiel ihr Lothar in’s Wort. „Immer allein; von den düstersten Gedanken gefoltert; von traurigen, widerwärtigen, entsetzlichen Erinnerungen umgeben!“

Er schauderte und sah vor sich nieder. Als er den Kopf erhob, war sein Gesicht von jener tödtlichen Blässe bedeckt, die Eva in der ersten Zeit ihres Zusammenseins so oft erschreckt hatte, und seine Augen glühten in unheimlichem Feuer.

„Sieh, Eva,“ fuhr er fort, indem er ihre Hand zwischen seinen kalten Händen preßte, „so lange Guntershausen mein Eigenthum ist – und das sind nun bald neun Jahre – habe ich nicht eine glückliche Stunde gehabt, nicht eine, bis Du herkamst. Du hast meinem Herzen Frieden, meinem düstern Hause Sonnenschein gegeben, und Du wolltest mich verlassen? Nein, Eva, das kannst Du nicht!“ fuhr er in ganz verändertem Tone fort, indem er sie an sich preßte. „Du mußt bei mir bleiben, Du mußt! Mein Weib, mein Trost, mein Glück, willst Du das sein, willst Du?“

Sie zitterte so sehr, daß er sie mit beiden Armen stützen mußte, aber als sie nach einer Weile den Kopf erhob, leuchtete so viel Liebe und Glück aus ihren thränenvollen Augen, daß er nicht zweifeln konnte, wie gern sie wollte. Und doch sah er nicht glücklich aus, als er sie wieder an sich drückte und lange stumm in seinen Armen hielt. Plötzlich ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. „Es darf ja doch nicht sein,“ sagte er hastig und leise. „Es wäre ein unverzeihliches Unrecht, und Du würdest elend, wie ich es bin.“ Mit diesen Worten wollte er hinaus eilen, aber Eva vertrat ihm den Weg.

„Unrecht ist’s, wenn Du Dich immer wieder dem Trübsinne hingibst,“ sagte sie und sah ihm mit dem festen, klaren Blick in die Augen, der ihn immer zur Besinnung brachte. „Meinst Du,“ fuhr sie scherzend fort, obwohl ihre Stimme in verhaltnem Weinen bebte, „meinst Du denn, Du könntest mich so nach Belieben fassen und lassen? Oder denkst Du, meine Liebe wäre nur von heute, und ich könnte sie ohne Todespein aus meinem Herzen reißen?“

Aber diesmal wichen die bösen Geister nicht wie sonst. Lothar sah mit traurigem Kopfschütteln zu ihr nieder.

„Du kannst mich nicht lieben,“ sagte er. „Ich bin’s nicht werth!“ Dabei wandte er sich, als ob er hinausstürzen wollte, blieb aber wieder stehen, schrie laut auf: „Eva, ich kann nicht ohne Dich leben!“ warf sich auf die Steinbank in der Fensternische und schlug mit Verzweiflungsvoller Gebehrde die Hände vor’s Gesicht.

Eva setzte sich neben ihn und strich sanft über sein dunkles, lockiges Haar, in das sich hier und da schon ein Silberstreifen mischte.

„Wie Du Dich unnütz selber quälst!“ begann sie nach einer Pause mit mühsam erkämpfter Ruhe. „Ich bin Dir zum Leben unentbehrlich, Du bist es mir – so müssen wir mit einander gute und böse Stunden tragen, wie es eben kommt. Aber willst Du rechnen und wägen, wer dem Andern verschuldet ist – lieber, lieber Freund, erinnere Dich, daß ich ohne Deine muthige Hülfe nicht mehr am Leben wäre.“

Lothar fühlte, wie sie bei diesen Worten zusammenschauderte. „Sprich nicht davon; denke nicht daran,“ bat er, indem er sie umfaßte. Aber sie fühlte, daß jetzt nicht Zeit war, der eignen Schwäche nachzugeben.

„Laß mich immer davon sprechen,“ erwiderte sie, indem sie sich an ihn lehnte. „Ich bin ja in Sicherheit, da ist’s eine Art grausigen Entzückens, sich an die überstandene Gefahr zu erinnern. Sonderbar ist’s aber,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „wie Alles in der Erinnerung wieder lebendig werden kann. Indem ich jetzt lebhaft daran denke, fühle ich wieder das haarsträubende Entsetzen, womit mich der Feuerruf erfüllte. Ich hatte gerade im ersten Schlafe gelegen und war so verstört, daß ich gar nicht wußte, was ich that. Das Erste, worauf ich mich besinnen kann, ist, daß ich, die Mutter nach mir ziehend, in’s Freie stürzte. Die Flammen schlugen schon aus den Fenstern des Erdgeschosses und der ersten Etage und züngelten am Weinspalier hinauf, das sie prasselnd verzehrten. Plötzlich schrie die Mutter laut auf: „meine Cassette! wer holt mir die Cassette?“ Die Diener standen mit blassen, verstörten Mienen und keiner regte sich. Es wußte auch Niemand als Mama und ich, wo die kostbare Schatulle verwahrt war, die außer einer Menge Wertpapiere meines Vaters Testament enthielt und den Brautschmuck der Mutter, Kleinodien, an denen ihr ganzes Herz hängt. Das Alles schoß mir mit Blitzesschnelle durch den Kopf. War’s möglich den Schatz zu retten, so war ich die Einzige, die es konnte. Ohne zu bedenken, was ich wagte, lief ich in’s Haus zurück. In der allgemeinen Verwirrung schien Niemand auf mein Beginnen zu achten. Ich fand meinen Weg trotz Feuer und Rauch, erreichte das Cabinet der Mutter, riß den Secretair auf, nahm das Kofferchen aus seinem Versteck und eilte damit zurück. Aber als ich die Treppe erreichte, stand sie in vollen Flammen, und als ich mich durch den großen Saal in den Seitenflügel flüchten wollte, stürzte ein Theil seiner Decke fast unmittelbar vor meinen Füßen nieder. Minutenlang war’s als ob ich in Gluth und Qualm ersticken sollte – endlich raffte ich mich auf. Wäre ich nur an eins der vordern Fenster getreten, daß man mich von unten gesehen hätte, mir zu Hülfe gekommen wäre – aber Angst und Schrecken hatten mir den Kopf verwirrt. Ich stürzte die Treppe hinauf in’s obere Geschoß – auch hier brach die Flamme schon an verschiedenen Stellen hervor, und dicke Rauchwolken füllten Gänge und Zimmer. Ich eilte ein Fenster zu erreichen, riß es auf und lehnte mich hinaus, so weit ich konnte – aber Niemand achtete auf mich; Alles war in der größten Verwirrung; die Leute schrieen, das Vieh brüllte und blökte; ein paar Pferde, die sich losgerissen hatten, sprengten mit flatternden Mähnen hin und her. Dazu das Prasseln, Zischen und Heulen der Flammen, das Krachen stürzender Balken, das Rasseln der Spritzen – aber aus allem Getöse hörte ich jetzt die Stimme meiner Mutter, die in Todesangst meinen Namen rief. „Hier, hier!“ schrie ich hinunter. Jetzt sah Alles empor, und ein Wehgeschrei antwortete auf meinen Ruf, Gleich darauf sah ich die Mutter ohnmächtig forttragen. Die Männer liefen rathlos umher, die Frauen fielen auf die Kniee und verhüllten das Gesicht – ich gab mich verloren! Aber in demselben Augenblicke kam ein Reiter in den Hof gesprengt. Ich hatte ihn seit vielen Jahren nicht gesehen, und er war seitdem ein ganz Andrer geworden, aber ich erkannte ihn gleich und wußte, daß er mich retten würde, wenn überhaupt noch Rettung möglich war.“

„Es war ein entsetzlicher Augenblick,“ fiel ihr Lothar in’s Wort, „Dich da oben zu sehen, von Flammen umlodert, zu wissen, daß das Gebäude in den nächsten Minuten zusammenstürzen mußte. – Und dann strecktest Du die Arme aus und riefst meinen Namen, so gellend, so herzzerreißend – mein Haar sträubt sich noch bei dem bloßen Gedanken daran.“

„Und nun sah ich, wie Du Alles anordnetest,“ fuhr Eva fort. „Leitern wurden in großer Eile herbeigeschleppt, zusammengebunden, aufgerichtet – nun fanden sich auch Mehrere, die mir zu Hülfe kommen wollten, aber Du stießest Alle zurück und kamst selbst herauf – wie ist’s nur möglich, solche Angst zu ertragen? Von allen Seiten züngelten die Flammen zu Dir herauf, jetzt faßten sie Deine Kleider – Du wolltest rascher empor eilen, die Leiter schwankte – Herr des Himmels, wenn sie brach, wenn Du stürbest! – Mir vergingen die Sinne. – Als ich wieder zu mir selber kam, lag ich auf feuchtem Rasen – mir gegenüber dampften die Trümmer meines Vaterhauses. Ich hörte, daß das Dach eingestürzt war, nachdem Du mich kaum in Sicherheit gebracht hattest. Die Mutter kniete, das Verlorene beweinend, neben mir – aber so lieb mir die Heimath gewesen war, ich konnte nicht um ihre Zerstörung trauern. Durch sie war ja erkauft, was ich so lange vergebens ersehnt hatte und worauf ich kaum noch zu hoffen wagte: Du warst wieder bei uns – es war wieder der alte, liebe, trauliche Ton. Und dann hieß es, wir würden mit Dir gehen. Wie habe ich damals Gott gedankt, und wie glücklich war ich, als ich mehr und mehr erkannte, daß ich Dir lieb war! Aber Du zweifelst! –“ Ihre Stimme versagte, sie wandte sich ab, um die Thränen zu verbergen, Lothar beugte sich über sie.

„Versteh’ ich Dich recht?“ fragte er in athemloser Erwartung. „Ist’s nicht Mitleid, nicht Dankbarkeit allein, was Dich in meine Arme führt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Jahrelange Sehnsucht!“ flüsterte, sie, indem sie das Gesicht an seiner Brust verbarg.

Er hielt sie lange an sich gedrückt. Endlich hob er ihren Kopf in die Höhe und küßte ihr die Thränen von den Augen. Aus seinen Zügen war jede Spur von Trübsinn gewichen und seine Stimme war fest und klar, wie in alter, guter Zeit, als er sagte: „Wohlan, Eva, so wollen wir’s wagen, in Gottes Namen!“

„In Gottes Namen!“ wiederholte sie.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_082.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)