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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

bewahrt, manchem jugendlichen Gemüthe eine Reihe ungedeihlicher Jahre der körperlichen Folter und der geistigen Langeweile erspart, manche Summe Geldes zweckmäßiger verwendet werden; aber leider schwebt auch die gebildete Welt noch in einem Irrsale von Curansichten, welche sammt und sonders dazu angethan sind, ein gefürchtetes Leiden nicht nur nicht zu heilen, sondern sogar zu verschlimmern. In Nr. 26 der Gartenlaube von 1858 gaben wir bereits eine mehr systematische Darstellung der hohen Schulter (Skoliose) und legten besonderes Gewicht auf die Ansichten von der Entstehungsweise derselben; da dieser Punkt für die Behandlung fast allein maßgebend ist, so kommen wir hier sogleich wieder darauf zurück. Da heißt es noch immer, wenn an einem Kinde die rechte Schulter hervortritt: das liegt an dem übermäßigen Gebrauche des rechten Armes, wodurch das Rückgrat nach rechts herübergezogen wird; der rechte Arm darf gar nicht mehr in Thätigkeit gesetzt werden; das Kind muß fortan alles in der linken Hand tragen, mit der linken Hand schreiben, essen u. s. w. Welche Qual, zu der das arme Kind verdammt wird! welche Qual für die gewissenhafte Mutter, welche auf die strenge Ausführung dieses Gebotes zu halten hat! und dabei begünstigt dieselbe geradezu den Fortschritt der Rückgratverkrümmung!

Man gebe nur einmal dem skoliotischen Patienten ein mäßiges Gewicht, z. B. die gefüllte Schulmappe, abwechselnd in jeder Hand zu halten und überzeuge sich nun durch Besichtigung des bloßen Rückens, daß bei sothaner „Uebung“ des linken Arms die Krümmung nach rechts sogar bedeutender wird, während sie bei gleicher Belastung des rechten Armes weit geringer erscheint. Jene vielverbreitete Heilmaxime ist also so falsch, daß das Gegentheil derselben, die gefürchtete Mehrübung des rechten Armes, noch heilsam dagegen erscheint. Noch viele weitere Verkehrtheiten entspringen aus dieser Schultertheorie, namentlich die verschiedenen gymnastischen Uebungen, wie das so gebräuchliche Hängen an einem schwebenden Recke; die methodisirte Gymnastik hat überdies ein langes Recept von Arm- und Schulterübungen, welche die Skoliose heilen sollen – vergebens! die Schultern haben direct mit der seitlichen Rückgratverkrümmung gar nichts zu thun, und jede Cur, welche diesen Weg einschlägt, ist schon allein deshalb verwerflich, weil mit ihr die Zeit verthan wird, innerhalb deren etwas Positives, die Krümmung wirklich Beseitigendes geschehen könnte. Dieser Umstand macht aber auch die meisten an und für sich ganz wohlgemeinten und unschuldigen Maßregeln so verwerflich. Wer es erlebt hat, daß eine ganz geringe Rückgratabweichung binnen wenigen Monaten trotz hausärzlicher Fürsorge zu einer mächtigen Sförmigen Krümmung ausartet, der wird nicht mehr sprechen: „hilft es nichts, so schadet’s nichts,“ sondern er wird mit uns sagen: „hilft es nichts, so schadet es doppelt!“

Mit jener Phrase beruhigen sich aber viele Eltern, wenn sie, einer beiläufigen hausärztlichen Verordnung folgend, zu jenen Einreibungen greifen, welche kaum mehr als eine oberflächliche Reizung der Haut bewirken, während die Krümmung dabei ihren ungestörten Fortgang nimmt. Alle acht Tage besieht der Hausarzt den Rücken und findet ihn stets „entschieden gebessert“, während gegentheils der Familie und den besuchenden Verwandten die schiefe Haltung immer mehr auffällt. So erschreckt, beschließt man endlich, noch eine ärztliche – gewöhnlich eine chirurgische – Autorität zu Rathe zu ziehen, und durch diese gelangt man dann in den Besitz einer Maschine; diese ist entweder ein Stützapparat für den Tag, oder ein nächtlicher Streckapparat, oder beides zugleich – und kostet sehr viel Geld; möchte sie nur auch recht viel helfen! Anfangs zwar hat der Apparat etwas sehr Bestechendes, indem er die Schultern mehr heraushebt und die einseitige Haltung des Oberleibes der Außenwelt verbirgt; aber sollte sich der menschliche Leib, dieser lebendige Organismus, wirklich ganz den Beschränkungen einer vielleicht auf todte Mechanismen anwendbaren Vorrichtung fügen? Man befühle nur einmal den bloßen Rückgrat selbst, nachdem ihm die Maschine – es sei, welche es wolle – angelegt worden; ist die Krümmung darin um ein Haar geringer? – Wenn sich der Schiefe nicht eigenwillig hält, die Maschine allein macht ihn nicht gerade, und ihr ganzer Nutzen besteht etwa darin, daß sie durch ihren Federdruck den Schiefen an die gerade Haltung erinnert und ihm hierbei eine geringe mechanische Nachhülfe gewährt. Insofern wird sie bei verständigen Schiefen zur Unterstützung der Cur einigen Vortheil bringen, aber mit der Maschinenbehandlung einzig und allein wird keine Radiralcur erzielt.

Die Radicalcur der Skoliose entspringt aus ganz anderen Gesichtspunkten, als sie den so eben besprochenen Curmethoden zu Grunde liegen. Die hohe Schulter ist eben kein körperliches, sondern ein moralisches Uebel, wie wir in dem vorigen Artikel ausgeführt haben; sie wird erst secundär zu einem körperlichen Gebrechen, aber die herkömmliche Behandlung nimmt immer gleich dieses in Angriff und läßt die Ursache unberücksichtigt; sie glaubt einen Baum auszurotten, indem sie die Wurzeln stecken läßt; sie kennt den alten Satz: sublata causa tollitur effectus nicht. Darum sehen wir im Contrast mit den immer mehr sich ausbreitenden orthopädischen und gymnastischen Anstalten die Buckligen an Zahl eher zu- als abnehmen; in großen Städten sehen wir täglich, ja stündlich, Menschenkinder an uns vorübergehen, welche, mit gesunden Anlagen geboren, durch bloße Versäumniß zu Krüppeln geworden sind. Jedem nachdenkenden Beobachter muß es auffallen, daß die Skoliose in ihrer Verbreitung nicht die Norm der körperlichen Krankheiten befolgt, daß ihre Statistik mit den Culturzuständen der Menschheit zusammenfällt. Unsere naturwüchsigen Vorfahren kannten die Krankheit nicht und die Naturvölker der Gegenwart sind ebenfalls davon verschont; erst mit der „Civilisation“ ist sie in’s Land gekommen; sie existirt nur in den Städten, und auf dem Lande höchstens bei den städtisch erzogenen Kindern des „Grundbesitzes“. Zu ihrer gänzlichen Verhütung muß der gesammte Erziehungsplan, sowohl der öffentliche, als der private, mitwirken, oder aber der Arzt muß den Zögling beständig im Auge behalten, und von diesem Gesichtspunkte aus ist die Existenz orthopädischer Institute wohl motivirt. Auf dieses Capitel zurückzukommen, behalten wir uns für ein anderes Mal vor.




Die Schlummerstätte der Gräfin Rossi (Henriette Sontag).
Von Louise Ernesti.

Bereits im Jahre 1855, als ich in den Zeitungen las, daß die Leiche der in Mexiko am 17. Juni 1854 verstorbenen Gräfin Rossi, gebornen Henriette Sontag, nach Europa geschafft und in dem Kloster Marienthal beigesetzt worden sei, wo ihre einzige Schwester als Nonne lebt, hegte ich den Wunsch, diesen stillen Ruheplatz der berühmten, einst so gefeierten Sängerin kennen zu lernen. Zu jener Zeit dem Kloster Marienthal, das zwei Meilen von Görlitz liegt, zu fern, brachte erst der Herbst 1859, als ich auf einem nur wenige Stunden von Görlitz entfernten Gute zum Besuch war, die Erfüllung meines damaligen Wunsches.

In Begleitung einer ebenso muntern, wie geistvollen Reisegefährtin trat ich in der Frühe eines klaren Octobermorgens die Fahrt nach Marienthal an. Daß diese Reisegefährtin eine Verwandte meines alten Lieblings, des Feldmarschall „Vorwärts“ war, wußte ich; doch daß das Blücher’sche Blut so vorherrschend in ihren Adern sei, wie ich fand, hatte ich nicht gefürchtet. Wie ihr kühner Verwandter in der Schlacht mit Todesverachtung vorwärts eilte, so Fräulein Thekla auf dieser Reise! – – ich hatte gehofft, in Görlitz jene berühmte Wallfahrtsstätte früherer Zeiten, die von dem Bürgermeister Georg Emmerich im Jahre 1480 nach einem genauen Grundrisse des heiligen Grabes zu Jerusalem angelegte Nachbildung besuchen zu können; doch – ich sah dieses Görlitzer heilige Grab ebenso wenig wie die andere in der Stadt berühmte Ruhestätte des durch seine theosophisch-theologischen Schriften bekannt gewordenen Jakob Böhme. Die Parole des Tages lautete bei meiner Reisegefährtin nur auf „Marienthal“, und dahin eilten wir ohne Rast vorwärts, vorbei an der so wundersam geformten hohen Landskrone bei Görlitz, auf deren höchster Spitze noch der letzte Wartthurm von der einst so stolzen Burg der Herrn von Uechtritz emporragt; – vorbei an jenem altaristokratischen Fräuleinstift „Radmeritz“, dessen schönes Portal und stattliche Fronte ich nur durch die Gruppen der alten mächtigen Linden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_091.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)