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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

alle Lectionen und Collegia aus ihm zu machen im Stande sind.“ Menschenbeobachtung war ihm Lieblingsbeschäftigung, ihr verdankte er jenen praktischen Sinn, welcher ihn als Prediger wie Lehrer allezeit auszeichnete und seine Wirksamkeit vermittelte. Das Theater liebte er leidenschaftlich: „Für junge Theologen ist das Schauspiel sehr nützlich, sie bekommen ein deklamatorisches Gewissen. Sie sollen zwar auf der Kanzel nicht theatralisch agiren, aber sie bekommen ein Gefühl für Wechsel der Stimme, für Stärke und Schwäche des Ausdrucks; sie nehmen eine gewisse Lebendigkeit der Darstellung an. Junge Theologen, besucht das Theater fleißig, wenn es gut ist. Ihr seid da wahrlich besser aufgehoben, als am Spieltische. Aber freilich die Stücke müsset ihr wählen!“

In Dinter’s Studentenzeit fällt ein Ereigniß, welches seinem Leben eine andere Richtung gab und seinen ganzen Lebensplan änderte. Nach dem Wunsche seines Vaters sollte die akademische Laufbahn Ziel seiner Studien, die Kirchengeschichte sein besonderes Fach werden. Seine Bibliothek ward nach dieser Seite vervollständigt, die ansehnlichsten Werke befanden sich bereits in derselben. Da lernte er auf einer Ferienreise in der erzgebirgischen Stadt Schwarzenberg eine vaterlose Waise, Friederike Peck, Tochter eines verstorbenen Pfarrers zu Raschau, kennen. Sein Herz war am ersten Tage ganz ihr. Nicht ihre Schönheit, wohl aber ihre unbefangene Gutmüthigkeit, ihre sich unverkennbar darlegende Unschuld fesselte ihn an sie. Schon am dritten Tage seiner Bekanntschaft war er mit seinem Herzen einig: Sie und keine Andere. Zwar kam es zu keiner besonderen Erklärung, es bedurfte derselben nicht. Er besuchte die Geliebte in Raschau in einer armseligen Hütte und freute sich des stolzen Gedanken: „Sie soll durch mich im Aeußern ebenso glücklich werden, wie ich durch sie im Innern.“ Beide wechselten Briefe mit einander, doch stand kein Wort von Liebe in denselben und nur einem seiner liebsten Freunde vertraute er: versprechen werde ich ihr meine Hand nicht, aber sie kann auf mich rechnen. Auch Friederike gab dem beiderseitigen Freunde das Wort, Dinter ohne eigentliches Versprechen unverbrüchlich treu zu bleiben. – Doch für Leipzig paßte die schlichte Erzgebirgerin, die keine andere Stadt als Schwarzenberg und Annaberg gesehen hatte, nicht, daher Dinter’s Entschluß Landgeistlicher zu werden. Seine Studien gingen von nun an nach dieser Richtung, der Eintritt in ein Amt konnte ihm bei der Bekanntschaft seines Vaters nicht schwerwerden, und doch kam es schon in seinen Candidatenjahren anders. Lassen wir ihn selbst erzählen.

„Die Erinnerung ist mir nach vierzig Jahren noch schmerzlich. Ich saß als Hauslehrer ruhig an meinem Tische, mein Zögling bei mir. Da trat der Bruder meiner Geliebten herein. Ich frage nach ihr. Er antwortet ernst und fest: „Sie befindet sich sehr wohl. Wir wollen aber davon erst reden, wenn Dein Zögling fort ist.“ Ich sende diesen zur Mutter, und nun fällt Freund Peck mir um den Hals mit den Worten: „Meine Schwester ist todt. Nicht eine Viertelstunde hat sie ihren Tod vorausgesehen. Ihr ist etwas unwohl. Sie bittet die Mutter um Thee. Diese bereitet ihn, und da sie ihn bringt, liegt die Tochter entseelt auf dem Bette.“ Dinter, der von der schwärmerischen, innig verehrten Mutter zu empfindsam erzogene Jüngling, mit Werther und Siegwart im Herzen, war untröstlich, seine Vernunft siegte nicht, wohl aber reifte der Gedanke in ihm: „Da es diese nicht ist, soll es auch keine Andere sein.“ Er beschloß unverheirathet zu bleiben und – blieb es. Der Greis urtheilt über den Entschluß des Jünglingn anders: „Jetzt fühle ich es selbst, daß dieser Entschluß Thorheit war, und ich rathe es keinem Jünglinge, mir darin nachzufolgen. Ich hätte der Erde und dem Himmel die geistigen Wesen geben sollen, die ich beiden schuldig war. Aber – der Jüngling denkt anders als der Greis, der Greis anders als der Jüngling.“ Er nahm sich später, wie wir im Fortgange sehen werden, einer ziemlichen Anzahl strebsamer Jünglinge an, opferte denselben einen beträchtlichen Theil seiner Einnahme, adoptirte den Königsberger Arzt Dr. Dinter, den Sohn eines seiner Gehülfen im Lehrfache, und erklärte in jovialer Weise: „Es sei dies Junggesellensteuer!“ Nur einmal reiste er nach Raschau, um an dem Grabe der Verewigten zu weinen, welcher die treue Liebe und Anhänglichkeit seiner Freunde und Schüler, meist Lehrer im obern Erzgebirge, in einem schlichten eisernen Kreuze ein Denkmal errichtete, mit der Aufschrift: „Zu Dinter’s Andenken, den 23. Juli 1831“ und auf der Rückseite „Friederike Peck 1786.“

Wir erzählten diese Episode ausführlicher, sie charakterisirt den Mann und ist für seinen künftigen Lebensgang nicht ohne Bedeutung. Dinter verweilte fast vier Jahre auf der Universität, erwarb sich im Examen die erste Censur und trat im Jahre 1782 als Hauslehrer in eine adelige Familie in der Nähe seiner Vaterstadt. Fünf Jahre verweilte er in diesem Hause, wo er mit vieler Liebe und Vertrauen behandelt ward, obgleich er später selbst bekennt, er habe nicht gewirkt, was er konnte und sollte, namentlich habe seine oft leidenschaftliche Hitze die angestrebten Erfolge nicht selten getrübt.

Im Herbst des Jahres 1787 ward Dinter Pfarr-Substitut zu Kitscher bei Borna, einer der besten Pfarrstellen jener Gegend. Er bekam sie, ohne darum nachgesucht zu haben, indem der Senior sich ihn vom Patron erbat und erhielt. So lernen wir ihn zuvörderst als Geistlichen kennen. Schon früher hatte Dinter Religion und Theologie wohl von einander unterschieden, und darum mied er alle theologischen Untersuchungen auf der Kanzel, predigte seinen Gemeinden das einfache Bibelwort mit Kraft und Wärme, war dabei, wie die von ihm herausgegebene Predigtsammlung für Landgemeinden beweist, rein praktisch und paßte seine Vorträge den Kräften und Bedürfnissen seiner Zuhörer an. Diese Popularität lernte Dinter von seiner – Magd. Hören wir ihn selbst. „Als mein Senior todt war, diente bei mir die 42jährige „Bauers Christine“. Kenntnisse besaß sie nicht, das Lesen ausgenommen – aber sie hatte gesunden Menschenverstand. Ihr las ich zuweilen Freitag Abends ganze Stellen aus meiner Predigt vor, und ließ mir dann von ihr sagen, was ihr deutlich und was ihr undeutlich gewesen war. Was die einzelnen Ausdrücke betrifft, so mischte ich sie nicht selten in das Gespräch mit meinen Bauern ein, das ich immer im Tone der Gebildeten hielt, wobei ich bald bemerkte, was sie verstanden und was sie nicht verstanden hatten. Dadurch gewöhnte ich sie auch an den Ton der Predigten und der Bücher.“ Er selbst spricht sich über seine Predigten also aus: „Ich habe immer gern gepredigt. Von meiner ersten Predigt an bis auf die, welche ich achtundvierzig Jahre später in Königsberg hielt, habe ich jede mit Freuden gehalten. Mir schwebt immer der Gedanke vor Augen: der Handwerker und der Landmann, sie haben wöchentlich nur diese einzige Stunde, in der etwas für die Fortbildung ihres Verstandes, ihres Willens, ihres Gefühls absichtlich gethan wird. Pfarrer, wenn du ihnen diese entziehst, ist es grausam. Wenn du nicht Alles thust, um sie ihnen so nützlich als möglich zu machen, so ist es gewissenlos.“ Jesu Bergpredigt und Paulus’ Rede in Athen waren von jeher Dinter’s Ideal. Beide Männer philosophiren da nicht über das Unbegreifliche, sie winseln nicht im Meere der Gefühle schwimmend, sondern vereinigen Licht, Kraft, Innigkeit. Nie betrat er die Kanzel ohne gründliche Vorbereitung, jede in den ersten zehn Jahren seines Pfarramtes gehaltene Predigt ward nach reiflicher, mehrtägiger Ueberlegung am Freitag wörtlich niedergeschrieben und wörtlich gelernt. Da ist es freilich nicht zu verwundern, daß er stets in einer vollen Kirche zu predigen hatte, und daß, besonders auf seinem zweiten Pfarramte (Görnitz bei Borna, von 1807–16), die Zuhörer oft drei bis vier Stunden weit herbei kamen, um den gewaltigen Mann zu hören, ja daß man die Kirche vor ihrer Oeffnung belagerte und an ihrer Außenseite nicht selten Leitern anlegte. Dabei vermied Dinter nie, sich mit seinen Gemeindegliedern über die gehörte Predigt zu unterhalten, und erfuhr auf solche Weise, was er richtig und falsch gemacht hatte. So hatte er früher die Gewohnheit, die Ideen streng auf einander zu bauen, sodaß nur die gebundenste Aufmerksamkeit ihm zu folgen vermochte. Ein Schuhmacher in seiner Gemeinde machte ihn auf diesen Fehler aufmerksam. Dinter besuchte ihn am Sonntag Abend. „Nun, Meister, er hat heute meine Predigt recht aufmerksam angehört.“ Er: „das war eine meschante Predigt.“ „Warum das?“ Er: „Ja, sehen Sie nur, wie mir’s ging. Ich hatte einmal ein paar Minuten nicht Acht gegeben, dann wußte ich gleich in der ganzen Predigt nicht mehr, woran ich war.“ – Dies führt uns auf Dinter’s Umgang mit seinen Gemeinden.

(Fortsetzung folgt.)



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