Seite:Die Gartenlaube (1860) 115.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

hatte ich an ihm die ersten Spuren jener Gemüthskrankheit bemerkt, die nachher in so trauriger Weise überhand nahm. Anfangs war es eigentlich nur ein Versinken in selbstquälerische Gedanken. Sonderbarer Weise kam dabei die Erinnerung an Friederike nicht in’s Spiel. Er griff um einige Jahr zurück und redete sich ein, daß er am Tode unserer Mutter schuld wäre. Konnte dieser Vorwurf einem Menschen gemacht werden, so hätte er nur Friedrich, meinen zweiten Bruder, treffen können.

„Friedrich war ein leidenschaftlicher, leichtsinniger Bursche, der echte Großsohn des einst so berüchtigten „wilden Guntershausen“. Zum Unglück stand er bei der Garde, einem Corps, das sich immer durch wüstes Leben hervorgethan hat. Oft hat der Junge in einer Nacht mehr verspielt, als sein ganzes Jahreseinkommen betrug. Wenn er dann in Verzweiflung schrieb oder selber kam, war die Mutter immer bereit dem Liebling zu helfen; auch der schwache, gutmüthige Hans ließ sich wieder und wieder zu Opfern hinreißen, die weit über seine Kräfte gingen.

„Ich war die Einzige, die Widerstand leistete, aber ich wurde überstimmt. Mit Schrecken sah ich die Frucht jahrelanger Mühen verloren gehen – die alten Verwirrungen drohten über uns hereinzubrechen. Das durfte ich nicht dulden; Guntershausen durfte nicht um eines leichtsinnigen Knaben willen ruinirt werden. Zum ersten und einzigen Male im Leben kam es zu einem heftigen Auftritt zwischen Hans und mir, aber ich trug den Sieg davon. Hans gab mir sein Ehrenwort, nichts mehr für den Unverbesserlichen zu thun. Nun schritt ich ein, gab den Rest meines kleinen Vermögens hin, um Friedrichs Schulden zu bezahlen, erzwang aber, daß er sich zu einem andern Regimente versetzen ließ. Er kam in eine kleine Garnison, deren Commandant die Sitten der jüngeren Officiere mit unerbittlicher Strenge überwachte.

„Friedrich war in Verzweiflung – die engen Verhältnisse erdrückten ihn. Zugleich kam er mehr und mehr zur Erkenntniß seines Unrechtes. Uebermäßig wie sein Leichtsinn gewesen war, war nun auch seine Reue – er wurde lebensmüde, menschenscheu. Die Mutter war nahe daran, Hans und mich zu verfluchen. Ich selbst habe eine Weile das Aergste gefürchtet, und wer weiß, wozu es gekommen wäre, hätte Friedrich nicht in der Liebe Erlösung gefunden. Die Tochter seines Obersten war die gute Fee, die ihn vollständig zur Besinnung brachte. Sie heiratheten sich, und Friedrich ist bis zu seinem Tode ein musterhafter Gatte und Vater gewesen. Sein Sohn, Lothar, ist ihm in vielen Dingen ähnlich, auch er, davon bin ich überzeugt, wird sich an der Seite einer Frau, die für ihn paßt, vollständig zurecht finden.“

„Aber Eva paßt nicht für ihn,“ schaltete die Generalin in ihrer eigensinnigen, beharrlichen Weise ein. Die Aebtissin beachtete diese Unterbrechung nicht. „Während sich Friedrichs Leben so günstig umgestaltete,“ fuhr sie fort, „wurde die gute Mutter krank und starb. Möglich, daß die Sorge um den Lieblingssohn ihr Ende beschleunigt hatte – aber Hans trug sicher keine Schuld. Kurze Zeit schien auch von seiner Seele die Trübung wieder zu weichen – damals, als Hersenbrooks Schwester auf meine Einladung nach Guntershausen kam, und seine Neigung gewann. Sie erfüllte unsere Wünsche, wurde sein Weib und so verlebten wir ein paar ruhige, glückliche Jahre, obwohl ihrer Ehe der Kindersegen versagt blieb. Dann starb sie – des Bruders Schwermuth kam im verstärkten Maße wieder, Friedrich’s Tod gab ihr neue Nahrung – so ging das fort, bis der Tod seiner langen Qual ein Ende machte.“

Es war etwas Erschütterndes in der Ruhe, womit die alte Frau auf alle diese Trübsal zurück blickte. Selbst die Generalin fühlte sich so davon ergriffen, daß sie keines Wortes mächtig war und schweigend zu der Aebtissin aufsah, bis diese nach einem schweren Seufzer zu sprechen fortfuhr:

„Da war ich nun in dem verödeten Guntershausen,“ sagte sie. „Das Haus stand fest gegründet, aber die berufen schienen, es mit mir zu bewohnen, hatten mich verlassen. Meine beiden Neffen, Friedrich’s Söhne, waren die letzten Repräsentanten unseres alten Geschlechts, in ihrer Hand mußte sich Alles vereinigen, was unser Haus an Ruhm, Macht und Reichthum besaß. Aus diesem Grunde wollte ich Isidore, die Erbin von Rothach – dem Gute, das Hans in seiner Großmuth an Max gegeben hatte – mit Werner verheirathen. Daß ich Eva für Lothar bestimmte, geschah theils aus alter Zuneigung für Hersenbrook, theils aber auch, weil sie für einen jüngern Sohn eine wünschenswerthe Partie war.

„Wieder legte der Tod sein Veto ein – Werner starb – und so war’s nicht meine Laune, sondern die unvermeidliche Consequenz meines ganzen Strebens, daß ich Isidorens Hand nun für Lothar bestimmte. Wie ich dabei gefehlt und wie ich dafür gelitten habe, das, Frau Schwägerin, gehört nicht hierher. Genug, daß ich seit der Zeit nicht mehr Schicksal spiele – wir sind ja nie zu alt, um zu lernen! Aber ich gestehe, daß ich seit Jahren wünsche, Lothar zu Eva zurückkehren zu sehen, und ich danke Gott, daß meine Wünsche erhört sind.

„Aber nun lassen Sie uns nicht weiter von alledem sprechen,“ fuhr sie in ihrem gewöhnlichen, harten Tone fort, indem sie aufstand und die Hand auf den Arm der Generalin legte. „Lassen Sie uns einmal hinübergehen, ich möchte den Neubau in Augenschein nehmen – und glauben Sie mir, liebe Hersenbrook, lassen Sie die Kinder gewähren. Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden!“




V.

Während sich Tante Ernestine so energisch für die Verlobten erklärte, war für diese eine schwere Stunde gekommen.

Beim ersten Blick in Lothar’s düstre Miene bereute Eva, daß sie Hedwig zum Bleiben gezwungen hatte. Sie wollte das junge Mädchen bedeuten, die traurigen Erklärungen auf eine bessere Stunde zu versparen, aber es war zu spät. Das leidenschaftliche Geschöpf sprang auf, sobald sich der Bruder näherte, stürzte ihm entgegen, warf sich weinend an seine Brust und überschüttete ihn mit Vorwürfen und Klagen.

Nun war kein Rückhalt mehr möglich. Eva trat zu ihm, faßte seine Hand und bat ihn, der Ungestümen zu verzeihen.

„Laß uns jetzt nicht mehr davon sprechen,“ bat sie, indem sie sorgenvoll in sein blasses, verstörtes Antlitz sah. „Ich bin ruhig – Du brauchst mir nicht erst die Versicherung zu geben, daß dem Allem ein Mißverständniß zum Grunde liegt.“

Lothar küßte ihre Stirn, setzte sich auf die Rasenbank, zog Eva an seine Seite und sagte mit trübem Lächeln, indem er ein Päckchen aus der Tasche nahm: „Da ist meine Antwort, meine Beichte, wenn Du willst; die traurige Geschichte meiner ersten Ehe. Die ganze Nacht habe ich geschrieben, ganz früh sollte der Brief in Deinen Händen sein. Ich wollte Dich nicht wiedersehen, bis Du Zeit gehabt hättest, Dich zu prüfen. – Dann konnte ich mich wieder nicht entschließen, die Blätter einem Fremden anzuvertrauen – ich wollte sie Dir selber bringen, trage sie nun schon seit vielen Stunden mit mir herum, und wer weiß, wie lange ich das noch gethan hätte, wären wir hier nicht zusammengetroffen.“ Er gab Eva den Brief. „Und nun,“ fuhr er fort, „nimm auch das Versprechen zurück, das Du mir gestern gegeben hast. Ich wußte nicht, was ich that. Der Schmerz, Dich zu verlieren, hatte mich der Besinnung beraubt. Verzeih’, Eva! Du bist frei, ganz frei – Du sollst Dich erst entscheiden, wenn Du Alles weißt.“

„Ich habe nichts mehr zu entscheiden, es ist Alles, Alles fest und klar!“ erwiderte Eva und schickte sich an, den Brief in ihre Kleidertasche zu versenken. Aber Lothar kam ihr zuvor, nahm ihr den Brief aus der Hand, erbrach das Couvert, entfaltete die engbeschriebenen Blätter und reichte sie der Schwester, die unruhig und verwirrt an seiner linken Seite saß.

„Lies, Hedwig,“ sagte er. „Auch Dir bin ich Aufklärung schuldig. Und mich laßt hier, ich bin müde, todtmüde!“ Mit diesen Worten schlug er die Arme über der Brust zusammen, lehnte den Kopf an den Stamm der Buche und schloß die Augen; aber nur einen Augenblick, dann wandte er sich zu Hedwig. „Fang an,“ sagte er ungeduldig. „Die erste Seite magst Du überschlagen. Fang an bei den Worten: Ich war einundzwanzig Jahre alt.“

Hedwig nahm alle ihre Kraft zusammen, trocknete die Augen und begann mit unsicherer Stimme die Aufzeichnungen des Bruders vorzulesen, während Lothar sich wieder an den Baumstamm lehnte und Eva, in athemloser Spannung lauschend, bald einen bekümmerten Blick auf den Geliebten warf, bald die traurigen Augen der Lesenden zuwandte. Lothar hatte geschrieben:

„Ich war einundzwanzig Jahre alt, als die Verlobung meines Bruders mit Isidore Guntershausen declarirt wurde. Isidore hatte den Sommer und Herbst bei Tante Ernestine in Fischbach zugebracht, war dort mit Werner zusammengekommen, der eben seine Güter übernommen hatte, und seine Berichte über sie waren so

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_115.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)