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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

überschwänglich, sein Jubel über ihren Besitz so gross, daß ich voll Ungeduld dem Augenblicke entgegensah, der mich mit ihr bekannt machen sollte. Zu meiner Freude kam Tante Ernestine auf den Gedanken, daß wir Geschwister das Weihnachtsfest wieder einmal zusammen verleben sollten. Natürlich war Guntershausen zum Sammelplatz erkoren. Tante Ernestine wollte mit Isidore auf ein paar Wochen herüberkommen; auch Heinrich von Hardorf, der Bräutigam meiner Schwester Margarethe, hatte Werner’s Einladung angenommen – das alte Nest der Familie, das ich so still und düster in der Erinnerung trug, war ganz voll Licht und Leben, als ich wenige Tage vor dem Feste mit meinem Schlitten vorfuhr.

„Obwohl meine Erwartung in Betreff Isidorens aufs Höchste gespannt war, machte sie mir doch beim ersten Anblick einen blendenden, verwirrenden Eindruck, und je länger ich sie beobachtete, um so mehr nahm mich der Zauber ihres Wesens gefangen. Es war etwas Sylphenhaftes in dieser anmuthigen Gestalt, diesem feinen weißen Gesicht, diesen blonden Locken, und etwas so Flatterndes in ihrem ganzen Sein, daß man eigentlich nicht zu einem bestimmten Bilde ihrer Persönlichkeit gelangte. Wenn sie – was freilich selten geschah – sinnend dasaß, mit großen, träumerischen Augen, wäre sie für den bildenden Künstler das edelste Modell einer Psyche gewesen, aber schon im nächsten Moment war sie wieder der neckische Kobold, der lachend durch alle Winkel strich, oder ein verzogenes Kind, das der Tante Ernestine zu tausend Ermahnungen Anlaß gab. Dabei war es rührend, zu sehen, mit welchem bewundernden Entzücken Werner’s Augen an ihr hingen. „Ist sie nicht bezaubernd, hast Du je etwas Lieblicheres gesehen?“ flüsterte er mir zu, so oft er in meine Nähe kam. Ich hatte meinem ernsten, ruhigen Bruder solche Schwärmerei gar nicht zugetraut.

„Als wir uns vorgestellt wurden, hatte mich Isidore freundlich und einfach begrüßt, dann aber nicht weiter beachtet. In größern Kreisen, besonders Damen gegenüber, war ich immer ein schüchterner Junge, und hier war’s nicht Isidore allein, die mich befangen machte, auch den Schwestern war ich fremd geworden, und Tante Ernestine’s scharfe Blicke flößten mir immer das beängstigende Gefühl ein, als überwache sie nicht nur, wie mein guter Hauptmann, jeden Knopf meiner Uniform, sondern auch jeden Gedanken und jede Empfindung meiner Seele. Darum zog ich mich, sobald die Begrüßungen vorüber waren, auf ein schattiges Plätzchen zurück und begnügte mich, zu antworten, wenn direct eine Frage an mich gerichtet wurde.

„Noch mehr trat ich in den Hintergrund, als wenige Stunden nach meiner Ankunft ein zweiter Schlitten vorfuhr und gleich darauf Heinrich von Hardorf in’s Zimmer trat.

„Ich habe noch einen Gast mitgebracht!“ rief er in seiner lauten, lustigen Weise. „Einen alten Bekannten; Isidore soll rathen, wer es ist.“ Aber ehe diese antworten konnte, wurde die Thür, deren Griff Hardorf noch in der Hand hielt, aufgerissen und ein großer, schwarzhaariger Mann trat in’s Zimmer.

„Machen Sie nicht so viel Umstände um einen ungebetenen Gast, lieber Hardorf!“ sagte er, sich vor den Damen verbeugend.

„Ach, Victor!“ rief Isidore, seinen Gruß mit einem kurzen Neigen des Kopfes erwidernd, während Hardorf den Fremden als Freiherrn von Rieth vorstellte.

„Nie im Leben hat mir eine Persönlichkeit beim ersten Anblick einen so widerwärtigen Eindruck gemacht, wie dieser Herr von Rieth, und doch war er nicht häßlich zu nennen. Seine Gestalt war von vollkommenem Ebenmaße, seine Haltung bequem und nicht ohne Eleganz, sein bartloses, rothes Gesicht hatte regelmäßige Züge, seine Stirn war bedeutend, sein Mund fein, aber um seine Lippen zuckte ein höhnisches Lächeln, seine graugrünen Augen hatten einen bösen, lauernden Blick, sein ganzes Wesen verrieth ein maßloses Selbstgefühl und sein Organ erinnerte mich an Shakespeare’s Worte: „wenn er spricht, so klingt’s wie geborstne Glocken.“

„Was mich aber am meisten gegen ihn einnahm, war sein Benehmen gegen Isidore. (Er war weitläufig mit ihr verwandt und hatte sie, als sie in der Pension war, zuweilen gesehen.) Während Hardorf ausführlicher von seiner Stadtfahrt berichtete – die Damen hatten ihn mit Weihnachtsaufträgen hingeschickt – und von dem „glücklichen Zufall“ erzählte, der ihn mit Rieth zusammengeführt hatte, setzte sich dieser zu Isidore und begann ein eifriges Gespräch. Was er ihr sagte, verstand ich nicht, weil ich die Beziehungen seiner Worte nicht kannte, aber ich sah deutlich, daß er dem Kinde weh that. Es war etwas unbeschreiblich Bitteres in seinem Tone, etwas Gereiztes, Verbissenes, Spöttisches in seinem ganzen Wesen. Isidore wurde verlegen, sie erröthete ein Mal über das andere, und schien vergebens nach Antwort zu suchen. Endlich schlug sie den Blick halb ängstlich, halb flehend zu ihm auf, und nun sah ich, daß ihre Augen voll Thränen standen. Ich hätte den Unberufenen am liebsten zur Thür hinaus geworfen – aber nun lenkte er ein, nahm einen andern Ton an und wandte sich bald darauf dem allgemeinen Gespräche zu. Nun war auch sofort jede Spur von schmerzlicher oder zorniger Erregung aus Isidorens Zügen verschwunden; sie lachte und scherzte wieder mit Allen, selbst mit dem widerwärtigen Rieth und versuchte endlich auch mich aus meiner Schweigsamkeit aufzurütteln – aber es war nicht mehr die kindlich-unbefangene Heiterkeit, die mich anfangs so entzückte, es war eine erzwungene Lustigkeit, ein Lachen, das mir in Ohr und Herzen weh that.

„Das blieb so in den nächsten Tagen. War Isidore allein mit uns, so war sie das lieblichste Geschöpf, das man sich denken kann. Kam der Herr von Rieth dazu, so war ein Mißklang da. Werner, dem ich meine Bemerkung mittheilte, wollte mir freilich nicht glauben.

„Du siehst Gespenster, lieber Junge!“ sagte er. „Herr von Rieth ist ein ganz liebenswürdiger Mensch. Etwas eingebildet – die Frauen haben ihn verzogen; etwas malitiös – die gefährliche Gabe des Witzes verführt leicht dazu; aber Isidore hat ihn gern, das weiß ich. Und verstimmt, wie Du meinst, ist sie ganz und gar nicht – sieh doch nur in ihre strahlenden Augen.“ Und mit innig glücklichem Gesicht fügte er hinzu: „Sie hat mir auch eben wieder die Versicherung gegeben, sie wäre das glückseligste Geschöpf auf der ganzen Welt.“

„So kam der heilige Abend. Tante Ernestine war beschäftigt, nach altem Brauch die Weihnachtsbescheerung für Alles, was zum Hause gehörte, im großen Saale aufzustellen. Werner durchsuchte die Gewächshäuser nach blühenden Blumen für seine Isidore; Margarethe und Anna schmückten den Christbaum, Hardorf mußte helfen. Die kleine Hedwig lief Trepp auf Trepp ab, um womöglich eins der wichtigen Weihnachtsgeheimnisse zu erspähen. Ich Ungeschickter war überall überflüssig, hatte mich in das blaue Zimmer zurückgezogen, saß im Lehnstuhl am Ofen, hörte dem Knistern der Flamme zu und dachte an vergangene Weihnachtsabende – an den letzten besonders, den ich beim Onkel Hersenbrook mit meiner lieben Eva verlebt hatte.

„Plötzlich knarrte die Thür; im unsichern Feuerschein sah ich, daß Rieth hereintrat. Ich wollte nicht mit ihm sprechen, hoffte, daß er wieder gehen würde, lehnte mich in den tiefen Sessel zurück und verhielt mich still.

„Isidore!“ rief er mit halblauter Stimme, ging an’s Fenster und hob den Vorhang, als ob er sie dahinter suchte. In demselben Augenblicke näherte sich ein leichter Schritt; die Thür wurde abermals geöffnet und eine helle Gestalt erschien auf der Schwelle. Es war Isidore, sie trug einen brennenden Wachsstock in der einen, ein Körbchen in der andern Hand.

„Victor!“ rief sie erschreckt, als ihr Rieth aus dem Dunkel entgegentrat. „Lassen Sie mich!“ fuhr sie halb ängstlich, halb unwillig fort, als er ihre Hand fassen wollte: „ich muß zur Tante.“

„So eilig?“ sagte er in dem spöttischen Tone, der mir so verhaßt war. „Sie hatten doch sonst mehr Zeit für mich, mein Kind! Wir haben uns ja hier noch gar nicht in Ruhe gesprochen – ich habe Ihnen noch nicht einmal so recht aus Herzensgrunde Glück wünschen können, Gräfin von und zu Guntershausen.“

„Isidore hatte Licht und Körbchen auf den nächsten Tisch gestellt. Ich sah, wie sie zitterte, und war im Begriff hervorzutreten, um sie von dem Lästigen zu befreien. Aber in demselben Augenblicke sagte sie mit zorniger Stimme: „Es ist schlecht von Dir, daß Du mich so quälst. Warum bist Du überhaupt hierher gekommen?“

„Das Blut gerann mir zu Eis bei diesem Du. In welchem Verhältnisse stand sie denn zu dem Menschen? Das mußte ich wissen, um Werner’s willen. Ich blieb in meinem Versteck.“

(Schluß folgt.)



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