Seite:Die Gartenlaube (1860) 127.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

ein Familienkrieg. Ich kannte meinen neuen Gerichtsverwalter noch nicht und war behutsam genug, mich nicht darein zu mischen.

Der Mann nahm die Sache streng, beide Parteien hatten sich beleidigt und mußten ziemlich viel zahlen. In Gegenwart des Gerichtsherrn sagte mir der Gerichtsverwalter: „Ich hab’s mit Fleiß so gemacht. Nun sehen die Leute, was es kosten kann und kommen nicht gleich um jeder Kleinigkeit willen zum Gerichtsverwalter gelaufen.“ Ich sahe, mit welch gutem Manne ich es zu thun hatte und setzte mein Versöhnungswerk unter ihm fort, wie ich’s unter meinem Bruder angefangen hatte. Summa: So lange ich Pfarrer war, kam nie ein Proceß mit der Herrschaft, nie einer mit mir, selten einer unter den Bauern vor.“

Dinter bekam als Besoldung von seinen Bauern eine Naturalabgabe, den Zehnten. Betrug und Verdrießlichkeiten sind hierbei keine Seltenheiten, gleichwohl bekennt er, daß er fast nie betrogen worden sei. Als ein Mann die Zehntgarben zu auffallend klein gebunden hatte, ließ sie Dinter vor sein Haus fahren, abladen und sagte: „Lieber R., ich sehe, Er hat dies Jahr eine so schlechte Ernte gehabt, daß Er kaum auskommen wird. Von Ihm nehme ich diesmal keinen Zehnten.“ R. schämte sich und machte es nie wieder so. Mehrere Bauern riethen ihm selbst, von welchem Felde er den gesetzten Zehnten nehmen sollte, weil da das Beste stehe. „Was ich bekam,“ erzählt er, „erhielt ich gut und reichlich. Der Bauer ist von Natur nicht undankbar. Die Leute sahen, daß ich’s mit ihnen und ihren Kindern gut meinte, darum meinten sie es mit mir auch gut. Als mein Adoptivsohn vier oder fünf Jahr alt wurde, sagte ich: „Nun gründe ich für Dich eine Sparbüchse. Wo ich bei Taufen, Trauungen und Begräbnissen mehr bekomme, als mir gebührt, so kommt der Ueberschnß in Deine Sparbüchse.“ Und das betrug im Durchschnitt gegen zwanzig Thaler jährlich, trotzdem daß die Kirchfahrt (Görnitz) sehr klein war. Doch dies waren die kleinen Beweise von Liebe, welche er erntete.

Dinter erzog sich eine Gemeinde, von welcher er bekennen mußte, daß die Leute verständiger und besser geworden wären, unter denen er nicht umsonst gearbeitet habe. Er bildete Bauern, welche das Ganze einer Predigt zu übersehen vermochten und denen gegenüber er den Ton seiner Vorträge steigern konnte, und trotzdem verstanden wurde. Die Gemeindeversammlungen, früher fast immer stürmisch in ihrem Verlaufe, waren in den letzten Jahren es fast nie; die Gescheidten gaben den Ton an. Hier ein Beispiel: Der Richter Köhler war, weil er seine beiden Güter durch Brand verloren hatte, in Schulden gerathen. Ein reicher, etwas heftiger Bauer war der Gläubiger. Derselbe will auf der Gemeindeversammlung herrschen und das Gute hindern. Köhler steht auf. „Du, N., ich weiß, daß ich Dir 500 Thaler schuldig bin; Du setzest mich in Verlegenheit, wenn Du mir das Capital kündigst. Aber hier bin ich Richter und darf nicht darnach fragen. Du schweigst oder redest vernünftiger. Machst Du die Gemeinde unruhig, so zeige ich’s dem Gerichtsverwalter an. Nun kündige mir das Capital, wenn Du willst.“ N. schämte sich, hielt Ruhe und kündigte das Capital – nicht. Derselbe Köhler starb leider zu früh. Ein junger Mann (Steinbach) ward sein Nachfolger. Dinter ging zu demselben, um ihn zu würdiger Verwaltung seines Amtes zu ermahnen. Steinbach: „Herr Pfarrer, ich hab’s bei meiner Bereitung Gott geschworen, ich will ein Richter werden, wie er sein soll.“ – Ein solcher Mann bedurfte keiner Ermahnung. Selbst Scenen kamen vor, welche dem gebildetsten Menschen Ehre machen würden. Nur eine davon: Schumann hatte einen Streit über das Mein und Dein mit seinem Nachbar Stäude. In solche Streitigkeiten mischte sich Dinter nie, so lange kein Haß aufglühte. Hier mußte die Gerechtigkeit entscheiden. Schumann war verreist. In seiner Abwesenheit kommt bei Frommold Feuer aus und Schumanns Haus brennt mit ab. Stäude’s Haus bleibt stehen. Dinter begegnet Stäude: „Freund, was wird Er thun?“ Stäude: „Was sich gehört.“ Dinter war in banger Erwartung. Doch was geschieht? Stäude reitet Schumann entgegen, erzählt ihm, was in seiner Abwesenheit vorgefallen und spricht: „Jetzt bist Du im Unglücke, mich hat Gott verschont. Du ziehst in mein Haus und ich helfe Dir, so gut ich kann. So lange Du bauest, ruht unser Proceß. Wenn Du aufgebauet, kannst Du ihn wieder fortsetzen, wenn Du willst.“

Dinter widmete den Kranken seiner Gemeinde die größte Sorgfalt und Aufmerksamkeit und entfernte dadurch nicht nur alle Quacksalbereien, sondern konnte zu rechter Zeit Rath ertheilen. War der Kranke genesen, so veranstaltete er in der Familie ein Genesungsfest, dessen segensreiche Folge oft zeitlebens blieb und ihm die Herzen der Familie gewann. Sein Tagelöhner Kürschner war gefährlich krank gewesen und genesen. Er war einer der redlichsten Männer des Dorfes. Da er wieder an seine Arbeit gehen wollte, versammelte er, vom Pfarrer aufgefordert, in seiner Stube seine Familie und seine Nachbarn. Dinter sang mit ihnen das Lied: „Dir dank ich für mein Leben“, zergliederte drauf die Hauptgedanken dieses Kirchengesanges und rührte dadurch alle Anwesenden auf das Innigste. Der Schlußgesang: „Nun danket Alle Gott“ wurde wohl selten mit solcher Andacht, wie in dieser Familie, gesungen. Kürschner hatte Dinter dafür so lieb, daß er bei seiner Abreise von Görnitz nach Königsberg bis in den Nachbarort neben dem Wagen herlief und, als er ihn bat, doch umzukehren, ausrief: „Ich muß Sie noch so lange sehen, als ich kann, ich sehe Sie doch nachher nie wieder.“

Wir könnten viele derartige Züge aus Dinter’s Amtswirksamkeit anführen, Züge, welche beweisen, was ein Geistlicher mit rechter Weisheit, mit Gottes- und Menschenliebe im Herzen, in seiner Gemeinde zu wirken vermag – und daß das Eifern mit Unverstand, wie wir es leider nur zu oft finden, den beabsichtigten Zweck geradezu verfehlt – doch wir wollen den Leser nicht mit zu vielen Einzelheiten ermüden, so interessant diese einfachen Dorfgeschichten auch immer sein mögen.

Dinter sah Früchte seiner Wirksamkeit im Leben seiner Gemeinde. Er selbst sagt: „Ich habe in zwanzig Jahren keinen Selbstmörder, keinen Hauptverbrecher (einige Kleinigkeitsdiebstähle abgerechnet) gehabt. Wohlthätigkeit war der Geist meiner Gemeinden.“ Liebe und Hochachtung begegneten ihm auf jedem Schritte. Noch im Jahre 1844, den 1. September, dreizehn Jahre nach Dinter’s Tode, errichteten die Gemeinden Görnitz und Hartmannsdorf aus eigenem Antriebe ihrem vormaligen, vor 28 Jahren von ihnen geschiedenen Pfarrer, ein Denkmal neben seiner Wohnung mit der einfachen Inschrift:

Dinter wirkte hier von 1807–1816.

Als bei der vor einigen Jahren in dieser Gemeinde abgehaltenen Kirchenvistation die Visitatoren den kirchlichen Sinn belobten, erwiderte man, daß dies noch von Dinter her so sei, und auf die Frage, welche Wünsche die Gemeinde habe, erklärte man: Man möge dem Schullehrer gestatten, ihnen gelegentlich die seit mehreren Jahren in Sachsen zum Vorlesen in Kirchen verbotenen Predigten ihres lieben Vater Dinter vorzulesen, denn obwohl sie alle daheim seine Predigten besäßen, so verstehe der Lehrer sie doch ganz anders vorzulesen. Wir kennen die Antwort der Visitatoren nicht.

Haben wir bisher den in Pflichttreue und Liebe wirkenden Geistlichen in einzelnen Zügen kennen gelernt, so ist dies nur die eine Seite seiner Thätigkeit, dem Pädagogen und Beamten sei der Schluß unseres Artikels gewidmet.

So segensreich Dinter’s Wirksamkeit als Landpfarrer sein mochte, so ward sie dennoch von der des Volksschulmannes, Erziehers und pädagogischen Schriftstellers weit übertroffen. Schon seit seinem 14. Jahre war Unterrichten sein liebstes Geschäft gewesen. Dieser Lieblingsneigung folgte er in Grimma und Leipzig, als Hauslehrer wie als Pfarrer. Aus Campe’s Seelenlehre erlernte er die von ihm so meisterhaft geübte Katechetik, die Menschenbildnerin, wie er sie nannte. Durch sie feierte er seine schönsten Siege, verwandelte den Bauerknaben in ein klar denkendes Wesen. Als er nach seiner Probepredigt in Kitscher in der Kirche öffentlich katechisirte, sagte sein Freund, der Superintendent Nitzsch: „Ihre Predigt war gut, aber das Katechisiren müssen Sie anders lernen, so kommen Sie mit Bauerjungen nicht fort.“ Dinter: „Herr Superintendent, Eins von Beiden! Entweder ich lerne anders katechisiren, oder die Bauerjungen lernen anders antworten.“ – Ehe ein Jahr verging, war der letzte Fall eingetreten. Dinter besuchte die ihm untergebenen Schulen fast täglich und übernahm in ihnen besondere Unterrichtsfächer. So lernten Schüler und Lehrer zugleich. „Viel und Vielerlei wissende Bauern,“ erklärte er, „habe ich niemals erzogen, niemals erziehen wollen, wohl aber gebildete Menschen, das Praktische klar erkennende Christen. In den ersten Jahren bereitete ich mich sorgfältig auf jede Stunde vor, um es später nicht mehr nöthig zu haben.“ Die Kinder mußten denken, sprechen, fühlen, frei und fröhlich sein lernen. Daher wurden, den Religionsunterricht ausgenommen, selbst scherzhafte Antworten erlaubt, sobald Witz und Gedanke darinnen war. Hiervon

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_127.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)