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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Wie überrascht mußte ich daher sein, als mein alter Gegner, wie ich ihn wohl nennen darf, wenn ich nicht die Jahre seines Lebensalters, sondern die unserer Kriegsdauer zähle, nach einem hartnäckigen Gambit die Figuren mit einiger Verlegenheit in die Schachtel packte und folgende, für einen Schachspieler sehr seltsame Worte sprach: „Mein werther Herr, erlauben Sie mir, eine Bitte an Sie zu richten!“

Natürlich machte ich jenes huldvolle Zeichen der Gewährung dieser Erlaubniß, da ja die Bitte selber dadurch noch nicht gewährt ist.

„Mein Bruder, der, wie Sie vielleicht wissen werden, viele Jahre lang eine Schuhfabrik in Paris gehabt, sich aber jetzt aus dem Geschäft zurückgezogen hat, ist mit seinem neuen Hausbau fertig und würde es sich zur Ehre anrechnen, wenn Sie sein Besitzthum in Augenschein nehmen wollten.“

Dergleichen Bitten werden an Publicisten zu oft gerichtet und sind mit dem Lebensfaden aller Zeitungen zu genau verknüpft, um abgeschlagen werden zu können. Ich glaubte daher in dem Wunsch des Schusters von Paris die Sehnsucht zu erkennen, sein Haus öffentlich erwähnt zu sehen, und versprach meinem Schachgegner, der seines Zeichens ein Architekt war, also auch wohl seinen eigenen kleinen Ehrgeiz dabei haben konnte, gelegentlich das neue Haus zu besichtigen. Es vergingen indessen einige Wochen, und es bedurfte noch einer schmerzlichen Mahnung durch den Architekten, ehe ich mich bei dem schlechten Wetter entschließen konnte, den ziemlich weiten Weg anzutreten.

Der Herbst hatte eben mit starkem Regenwetter begonnen, und ich kam etwa um halb sieben Uhr, eine Stunde vor Eintritt der Dunkelheit, an. Nach dem üblichen Ceremoniell erkundigte ich mich zunächst nach dem Besitzer des Hauses. Der listig aussehende Knabe, welcher mir die Thür geöffnet hatte, behauptete mit geheimnißvoller Miene, sein Gebieter sei augenblicklich nicht zu sprechen, aber sein Herr Bruder, der Architekt, werde sich ein Vergnügen daraus machen, mich zu empfangen. Zugleich setzte sich der listig aussehende Knabe an die Spitze des Zuges, ich folgte, und wir begaben uns in den rechten Flügel des Hauses, der baulich noch sehr roh aussah, nach Mauerwerk und Tapetenkleister roch, aber in einigen großen Gemächern doch schon mit Möbeln, namentlich mit auffallend viel Stühlen versehen war. In einem geräumigen Saale fand ich meinen Schachspieler, den Architekten. Er stand auf einem Theater, an welchem noch von zwei Tischlergesellen gezimmert wurde (wenn es nicht Zimmergesellen waren, wie ich zur Beruhigung des Berliner Gewerberathes und zur Vermeidung möglicher Zwistigkeiten unter den Innungen hinzufügen will), und leitete einen jugendlichen Tapezierer an, einige bunte Drapirungen zu befestigen. Ich fühlte mich verlegen und näherte mich nur schüchtern. Zu welchem Feste rüstete man sich hier? war es nicht am passendsten für mich, augenblicklich wieder fortzugehen? Mir blieb indessen keine Zeit dazu. Der Architekt hatte mich nicht so bald gesehen, als er rasch von der Leiter stieg, mich zärtlich, aber heftig bei den Schultern ergriff und den conservativsten Theil meines Leibes mit solcher Schnelligkeit auf den nächsten hölzernen, eigentlich nicht zum Sitzen bestimmten Gegenstand, eine Trittleiter, drückte, daß ich einen höchst empfindlichen Schmerz an dem heiligen Bein (os sacrum) empfand. In der freudigen Aufregung beachtete der liebenswürdige Mann weiter nicht meine schiefen Gesichter, sondern sagte: „Mein Bruder wird entzückt sein, Sie bei uns zu sehen! Sie konnten in keinem glücklicheren Augenblicke bei uns eintreffen.“

„Aber Sie scheinen im Begriff zu stehen, eben ein Fest zu feiern!“ bemerkte ich etwas verlegen.

„Um so besser, daß Sie gekommen sind!“ antwortete der Architekt.

„Aber ich habe durchaus nicht die nöthige Toilette gemacht!“

„Wir feiern ein Fest, bei dem es bekanntlich niemals auf die Toilette ankommt – einen Polterabend. Die Tochter meines Bruders verheirathet sich mit dem Sohne eines reichen Rentiers – Sie haben gewiß von Kohlwurst gehört – dem reichen Kohlwurst?“

Gewiß hatte ich von dem reichen Kohlwurst gehört; er war, was man nach Analogie der Ausdrücke: Pferdezüchter, Schweinezüchter u. s. w. einen Hauszüchter nennen könnte. Mit vieler Arglist pflegte er immer in schlechten Zeiten kleine alte Häuser in guten Stadtgegenden so billig als möglich aufzukaufen, drei bis vier Stockwerke aufzusetzen, sie leichtfertig und mit oberflächlicher Eleganz auszubauen, und dann mit vielem Vortheil im richtigen Momente an einen Menschen, der gerade in der betreffenden Gegend wohnen oder ein Geschäft etabliren wollte, wieder zu verkaufen. Aber Kohlwurst baute auch an verschiedenen Stellen der Stadt neue Häuser, die er, sobald sie unter Dach und Fach standen, stets mit einigem Gewinn zu veräußern wußte. Von den achtungswerthen Züchtern lebender Wesen unterschied er sich nur in dem wesentlichen Punkte, daß diese Herren ihren Ehrgeiz darein setzen, durch die Eigenschaften ihrer Zöglinge alle Nebenbuhler zu verdunkeln, wenn die Preise derselben dadurch auch namhaft erhöht werden, Kohlwurst aber seine Häuser so schlecht und billig aufzubauen suchte, als die polizeiliche Bevormundung der neueren Zeit es irgend zuließ. Neben dieser einträglichen Speculation beschäftigte der weise Mann sich jedoch noch mit der rationellen Zucht seiner Persönlichkeit, und der Anblick derselben konnte einen Jagdliebhaber von Schwarzwildpret an verschiedene schlagende Bezeichnungen erinnern, welche das Jägerlexikon für ungemein große, reichlich durch Eichelkost genährte Exemplare jenes Thieres aufbewahrt, welches, wie Mose sagt, die Klauen spaltet, aber nicht wiederkäut. So war der große Kohlwurst beschaffen, dessen Sohn die Tochter des berühmten Pariser Schuhfabrikanten ehelichen sollte.

„Nicht wahr, Sie bleiben bei uns? es versammelt sich eine ganz zwanglose Gesellschaft, auf dem Theater werden kleine Scherze aufgeführt, dann tanzen die jungen Leute – Sie bleiben doch bei uns?“ fuhr der Architekt mit so gutmüthigem Lächeln fort, daß ich seine Einladung nicht abschlagen konnte. Der Angabe nach versammelte sich die Gesellschaft erst um acht Uhr, ich beschäftigte mich daher gemeinsam mit dem Architekten bei der Vollendung des Theaters, und es gelang mir sogar, die wesentlichsten Dienste zu leisten, als die Tischlergesellen einmal das Bauwerk aus Ungeschicklichkeit ein wenig in Brand gesteckt hatten. Einige Minuten vor acht Uhr erschien der Hochzeitsvater. Sein Haar, offenbar kunstvoll gefärbt, war obendrein zur Feier des Tages durch heiße Eisen in mehrere Hundert kleine Löckchen gekräuselt, er trug einen Pariser Frack vom modernsten affentheuerlichst verzerrten Schnitte, und suchte durch seine Haltung darzuthun, wie überzeugt er von seiner Schönheit und ihrer ästhetischen Wirkung auf seine geschmackvollen Zeitgenossen sei. Sobald er mich zu Gesichte bekommen, und der Architekt, das directe Gegentheil seines komischen Bruders, mich ihm vorgestellt hatte, ging er rasch auf mich los, breitete beide Arme aus und drückte mich so kräftig an sein Herz, daß mir fast der Athem verging. „Endlich sehe ich diesen Mann bei mir, den ich seit Monaten bei Tage und bei Nacht kennen zu lernen wünschte!“ so schrie er während der Ausübung des ersten Foltergrades der Begrüßung, dann ließ er mich los, griff abermals rasch nach meinen Schultern und hielt mich in einiger Entfernung von seinem Antlitz fest, um anscheinend meine Gesichtszüge für immer seiner Einbildungskraft einzuprägen. Unwillkürlich mußte ich an die Schließer in den englischen Schuldgefängnissen denken, die jeden neuen Ankömmling „portraitiren“, d. h. so lange anstarren, bis sie seiner Physiognomie dauernd sicher zu sein glauben. Diese billigste Gattung von Kunstwerken der Daguerrotypie schien der Schuhfabrikant auch von meinem Gesichte besitzen zu wollen. Während des beschriebenen Actes sah er leider wie ein „falscher Biedermann“, ja wie ein Charlatan aus. Zuletzt schrie er mit Vehemenz, als wollte er mich für die ausgestandenen Folterqualen der Begrüßung entschädigen: „He! Jean! ein Glas Sect für den Herrn Redacteur!“ Ich lehnte diese Erquickung ab und suchte dem gastlichen Hochzeitvater begreiflich zu machen, daß mir eine Tasse heißen Thee’s viel mehr wohlthun dürfte; ich wurde nicht gehört. Thee, hieß es, sei nur für die Frauen und Mädchen gut; von Männern dürfe an einem solchen Festtage der Familie nur Sect getrunken werden. Alsbald erschien auch Jean, jener listig aussehende Knabe, ließ den Pfropfen der Flasche prahlerisch gegen die Decke springen und goß mir schwungvoll ein großes Glas des belebenden Saftes ein, in dem meine unglücklich kritisch organisirte Zunge sofort das Product vaterländischer Industrie, ja den ausgepreßten Saft von Baumfrüchten erkannte, die als Compot und gehörig versüßt zu den nothwendigsten heimischen Zuthaten eines Hasenbratens gehören. Da dem Gastgeber aber mein Mienenspiel, nachdem ich das Glas geleert, nicht zu gefallen schien, befahl er seinem Handlanger nicht wieder es zu füllen, sondern ließ mich endlich in Ruhe. Inzwischen trafen ziemlich gleichzeitig zahlreiche Gäste ein. Es fiel mir

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_138.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)