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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Ein Besuch in der Uhren-Heimat La Chaux de Fonds.

Von H. A. Berlepsch.
Jede Uhr ist ein Wecker, und zwar ein geistiger.
Jean Paul.

„Im schweizerischen Jura schreibt man fast der ganzen civilisirten Welt die Zeit vor!“ – So verblüffend dieser Satz lauten mag, so buchstäblich wahr ist er. Denn ein Jahr in’s andere gerechnet werden durchschnittlich mehrere hunderttausend Stück Taschenuhren jährlich in den jurassischen Thälern fabricirt, die überall auf unserem ganzen Erdball, wo man nicht mehr kindlicher Weise nach der Länge der Schatten und dem Stand der Sonne rechnet, sondern sich des zuverlässigen und bequemen Taschen-Chronometers bedient, auch Käufer finden.

Die Uhrenfabrikation in diesen öden, unfruchtbaren, melancholischen Bergthälern der französischen Schweiz ist eine der interessantesten Erscheinungen im Gebiete industriellen Lebens. Wie der Schweizer überall in seiner praktischen Thätigkeit, in seinem nach Erwerb strebenden Sinnen und Unternehmen durch Fleiß, Umsicht und Sparsamkeit das zu ersetzen und dem Schicksal abzuringen sucht, was die rauhe oder wilde Natur seines gebirgigen Heimathlandes ihm als Gabe des Ackerbaues und Gartens versagt, so hat auch der Jurassier, der sein Mehl und Brod, seine Früchte und Gemüse auf fremden Märkten kaufen und theuer einführen muß, sich einen Ausweg erkämpft, auf dem er das Aequivalent dafür findet. Dies ist seiner Hände Geschicklichkeit in der Uhrmacherei. Zu welch’ einer ergiebigen Vermögensquelle dieselbe geworden ist, documentirt am besten die Physiognomie derjenigen Ortschaften und Städte, in denen sie mit vollem geschäftlichen Ernst betrieben wird.

Die Uhrenindustrie hat sich besonders ausgebildet in den Cantonen Genf, Neuenburg, Waadt, Bern, Solothurn und Freiburg, speciell in den beiden großen Orten Chaux de Fonds und Locle, in den Städten Genf und Biel und in den Thälern St. Imier, Travers, St. Croix und Lac de Joux.

Chaux de Fonds und Locle, ersteres mit einer Einwohnerzahl von 16,000, letzteres von 10,000 Köpfen, tragen heute noch nicht das stolze, positive Prädicat „Stadt“, sondern sind blos Marktflecken, aber Marktflecken, in denen Millionaire wohnen, Marktflecken mit palastähnlichen Häusern und residenzlichen Straßen, mit literarischen Salons, Luxus in Küche, Keller und Garderobe, mit Gasbeleuchtung, Cercles, Theater und allem Comfort des Lebens, den Wohlhabenheit und Reichthum zu beanspruchen berechtigt sind.

La Chaux de Fonds.

Städte haben ihre Schicksale in auf- und absteigenden Linien wie Staaten, Menschen und Bücher. Während viele Ortschaften, die einst im Mittelalter mit Thürmen und Thoren, mit Bürgersouverainetät und Reichsunmittelbarkeit prangten und sich im Selbstbewußtsein ihrer politischen Bedeutung neben die großen Metropolen des Handels und Verkehrs, der Kunst und des Gewerbfleißes stellten, – nun durch die Conjuncturen der Zeit, durch das mächtig reformirende Schienennetz der Eisenbahnen zur Seite geschoben, nur mühsam ein verkümmerndes, schwindsüchtiges Dasein fristen und von Jahr zu Jahr immer mehr zurücksinken in den Zustand ärmlicher Uranfänglichkeit, – so gibt es deren andere, prononcirte Parvenus in der Staaten-Entwickelung, die vor einem Jahrhundert noch in den Windeln ihres Communalwesens lagen und über einen Umkreis von wenig Stunden hinaus als unbekannte Größen nicht mitzählten, – jetzt in strotzender Jugendfülle mit wuchernder Lebenskraft von Tag zu Tag wachsen, gedeihen und mit Siebenmeilenstiefeln dem gesunden, breiten, behäbigen Plateau bürgerlicher Wohlfahrt, commercieller Größe, materieller und geistiger Macht entgegeneilen. Zu letzteren gehören die jurassischen Ortschaften, welche aller Welt sagen, „was es an der Zeit sei“. Auf sie ist das zum Schreckenswort der Gegenwart gewordene „Zu spät“ nicht anzuwenden, – sie wußten stets, „wie viel die Uhr geschlagen hat“, und eben darum, weil sie in ihrer Zeitrechnung nicht irrten (wie manche große Cabinete), wurden sie das, was sie heute sind: Tangenten des Weltverkehrs.

Im vierzehnten Jahrhundert hieß die Gegend, in welcher jetzt die Locomotiven und ihre Trains täglich zwölf Mal hin- und herrasseln, wo Messagerie und Courier-Posten herüber und hinüberfliegen, wo der elektrische Draht ununterbrochen den trommelnden Apparat in Bewegung setzt, sehr bezeichnend „die schwarzen Berge“; denn düstere Tannenwälder bedeckten weit und breit die Berge, und schwarze Torfmoore dampften in den Combes (Thalflächen). Ein Bürger von Corcelles, Namens J. Droz, siedelte um 1303 mit seinen vier Söhnen, nach der Erlaubniß seines Herrn von Valangin, sich zuerst hier an; ihm folgten Andere. 1512 zählte Chaux de Fonds erst 7 Häuser, und Locle im Jahr 1683 deren noch nicht mehr als 37. Ja, noch in allerjüngster

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_165.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)